10. Dezember 2013

Die fügsamere Welt der Worte: Zu Dieter Roths Roman "Der müde Lord"

„Am 11. August 1954 [...] fuhr Christian Rosenow durchs Gebirge.“ Abgesehen davon, dass dieser erste Satz des Romans vermutlich schalkhaft nach Georg Büchners Lenz blinzelt, markiert er eine entscheidende Schwelle im Leben des Achtzehnjährigen, der aus dem heimischen Burgstedt nach Bukarest aufbricht, um sich als Journalist zu versuchen. Mit der Fahrt durchs Gebirge tritt er aus der Obhut der Familie in eine ihm fremde Welt über, in der sich der Werdende beweisen und bewähren muss. Auch sonst wird in diesen ersten Absätzen mit Zeichenhaftigkeiten nicht gegeizt. Der hier die Lebensfahrt beginnt, hat als real und symbolisch zu tragendes Gepäck einen Holzkoffer, der in einem Zwangsarbeitslager im Donbass gefertigt wurde, wo sein Vater ums Leben gekommen ist.
In „Denkerpose“ auf dem Bahnhof sitzend, meditiert er über den Gegensatz zwischen dem in ihm erwachten „Zuggefühl“ geistiger Weite und dem „Spurzwang“ des Schienenwegs und setzt damit erste bestimmende Koordinaten seiner weiteren Lebensfahrt. Ähnlich auslegbar ist der Titel Der müde Lord. Dieser nimmt den Spitznamen auf, mit dem der erfahrene Journalist Franziskus Barsa den journalistischen Anfänger Christian Rosenow bedacht hatte. Mit dem Prädikat „Lord“ als Wehr gegen die „langweilige Dezimalisierung der Welt“ (S. 203) sei er ganz zufrieden, bekennt der nicht uneitle Rosenow, und wenn er je irgendwohin aufgenommen werden sollte, dann lieber ins House of Lords als in die Partei. Vielleicht aber, überlegt er, sei es auch nur seine „bourgeoise Unart“ (S. 79), Anzug und Krawatte statt des revolutionär offenen Hemdkragens zu tragen, die ihm den Zunamen beschert habe. In solchen das Ungefähr suchenden Glossen zum Buchtitel vollzieht sich ein weiteres Mal die geistig-gesellschaftliche Verortung der Zentralfigur zwischen Zuggefühl und Spurzwang.

Erzählgegenstand

Erzählerischer roter Faden des Romans ist die Teilbiographie Christian Rosenows, beginnend mit seiner nach Südosten führenden Fahrt 1954 bis zur Ausreise in nordwestlicher Richtung 1978. Dazwischen liegen seine journalistische Tätigkeit bei der deutschsprachigen Bukarester Tageszeitung „Neues Land“, das parallel betriebene Studium der Germanistik, schließlich seine Arbeit in zwei Verlagen der „fünften deutschen Literatur“. Jede dieser Stationen veranlasst eine Fülle unterschiedlicher menschlicher Begegnungen und hält jeweils andere Herausforderungen bereit, Konstante aber bleibt die täglich neu zu überbrückende Kluft zwischen preskriptiver Gesellschaftstheorie und erlebter Wirklichkeit. Dem Journalisten stellt sich diese Problematik als Konflikt zwischen seiner Neigung zum freien Wort und dem Zwang zu dessen fügsamer Setzung dar.

Die Figuren

Ein sehr zahlreiches Personal bevölkert diesen Roman. Sozusagen alles, was in Bukarester deutschen Verlagshäusern, Redaktionsstuben, Fakultäten – und darüber hinaus im Kulturbetrieb der „Provinz“, wie Bukarester gern sagten, – Rang und Namen hatte oder auch nur meinte, sich solche anmaßen zu dürfen, hat hier seinen Auftritt, wird zutreffend charakterisiert und einem bald strengeren, bald gnädigeren Urteil unterworfen. Es handelt sich also um einen Schlüsselroman, und die Decknamen der Figuren sind auch für den Beobachter von außen leicht zu entschlüsseln. Doch ehe sich der Leser auf ein Ratespiel nach dem Muster „wer ist wer?“ einlässt, hat der Rezensent zu warnen: So erkennbar reale Personen als Vorlagen gedient haben mögen, so sehr sind die Romangestalten Figuren allein aus der Hand des Autors.

Man trifft da Leute an, auf die das Jahrhundert mit Inhaftierungen und Vertreibungen schon seine Hand gelegt hat, man trifft in dem Klima schneller Verdächtigungen auf vertrauenswürdige Förderer, die ihre schützende Hand über den zuweilen vorwitzigen jungen Spund halten, wie auch auf das Gegenteil: auf „Hetzhunde“ und hinterhältige Neider, auf naive Gutmenschen und geduckte Mitläufer – und immer wieder auf „Schnüffelköter“ wie jene mit der treffenden Namenskontamination „Sekretängs“ (sekret = geheim, Kretäng = Kretin) bedachten, der Behörde eifrig dienenden Produkte des totalitären Überwachungsstaates.
Hervorzuheben sind einige vorzüglich gelungene intellektuelle Figurenporträts wie jenes des heiter-freundlich in der Anmut seines „schreibenden Seins“ (S. 67) ruhenden Heinrich Lenz, das ebenso reizvolle wie unverwechselbare Sprachporträt des „rhetorischen Phänomens“ (S. 148) Ricardo Adelfini oder das aus inneren Gegensätzen gefügte Dieter Paul Kärrners. Aus zahlreichen Widersprüchlichkeiten, die einerseits auf figuralen Fremdperspektiven, andererseits auf situativ wechselndem Eigenurteil beruhen, komponiert sich Christian Rosenows Persönlichkeit. In koketter Selbstironie fühlt er sich „wie ein Luftballon, so wunderbar groß und geschwollen nach außen und so voller Nichts-als-Luft innen“ (S. 189) und hält sich für „steif und schwerzüngig“ (S. 197), andere wiederum rühmen gerade seine „spitze Zunge“ (S. 358) und halten den „spöttischen Skeptiker“ für einen „ausgefuchsten Wortfechter“ und „Voltaire post mortem in vivo“ (S. 169). Doch auch hier ist nicht so sehr zu fragen, was nun wahr ist an dem Alter Ego des Autors, maßgeblich ist einzig die Wahrhaftigkeit seiner Erfindung im Textsystem.

Probleme

Erzählt wird diese fiktionale Biographie vor zeitgeschichtlichem Hintergrund. Anhand von Schicksalen der erweiterten Familie und ihrer Freunde werden in Rückblenden die gewichtigsten Nachkriegstraumata der deutschen Minderheit erinnert: die Deportation in die Sowjetunion, die Enteignungen und Hausentsetzungen, die Binnenvertreibungen und die verhängten Zwangsaufenthalte. Erzählgegenwärtig wird im wechselnden Auf und Ab ideologischer Eiszeiten und Tauwetteransätzen an Einzelbegebenheiten das „Affentheater“ (S. 73) parteilicher Inszenierungen vorgeführt, ebenso der geheimdienstliche Meinungsterror und dessen Willkürfolgen politischer Prozesse, schließlich der grotesk primitive Personenkult: in der Summe des Romans eine Kombination von Verbrechen und Schwachsinn.
Von väterlichen Freunden vor der Duplizität der Presse im Totalitarismus gewarnt, lässt sich der Volontär vorübergehend von den neuen Erfahrungen und von faszinierenden menschlichen Begegnungen so weit fesseln, dass er sich beim „Neuen Land“ in einem von schlimmen Dingen vermeintlich unberührten „elitären Klub“ (S. 103) fühlt, den Beruf ins Herz schließt und sich einredet, man brauche dort gerade mal seinen Verstand und nicht seine Seele. In dem Maße jedoch, wie er erfahren muss, dass auch er gehalten ist, die Wahrheit zu verkürzen, um „alles zu schönen und zu harmonisieren“ (S. 66), beginnt er nach Ausweichmöglichkeiten Ausschau zu halten, um nicht im „Spurzwang“ schreiben zu müssen.
Ebenso wenig wie offenherziges Schreiben ist tabulose Diskussion in dem 1956 begonnenem Studium möglich. Christian Rosenow kann zwar aus allgemeinbildenden Fächern Gewinn ziehen, die germanistischen jedoch sieht er, trotz einiger „richtiger“ Fachleute, von ideologischen Einpeitschern und sicherheitsdienstlichen Oberaufsehern beherrscht. Nachdrückliche Erfahrung sind jene „alljährlichen Säuberungsaktionen“ (S. 252), wie sie seit 1957 an allen Hochschulen angezettelt wurden, einige Studenten die Karriere kosteten und direkt in die politischen Prozesse der Folgejahre mündeten.
Zwei eigene Kapitel gelten dem Schriftstellerprozess, zutreffend dargestellt als eine der vom Geheimdienst willkürlich in Szene gesetzten „Terror-Großaktionen“ zur Einschüchterung der Bevölkerung nach den Ungarn-Ereignissen 1956. Was dabei individuelle Schuldzuweisungen anbelangt, zählt der Rezensent eher zu denen, die „in diesem Punkt zu Behutsamkeit raten“ (S. 252), denn die Regie dieser Prozesse wusste sich mit ihren Mitteln auch dienliche Instrumente zu schaffen.

Gestalterisches

Erzählt wird aus der Er-Perspektive, die an sich schon den Erzähler und seine erzählten ­Figuren auf Abstand hält, der durch auktorial wertende und urteilende Erzähleräußerungen weiter vergrößert wird und betrachtende Sachlichkeit zur Folge hat. Andererseits ist der Roman in sechzig Kapitel gegliedert, die ihrerseits in der Regel mehrere gerundete epische Kerne aufweisen, so dass der stark episodisch aufgefächerte Erzählverlauf lebendig bewegt erscheint und einen partizipativen Sog entwickelt, der den Leser in seinen Bann zieht. Aus bewegter Nüchternheit scheint der Roman geschrieben, nüchtern bewegt davon findet sich der Leser dieses intellektuell anspruchsvollen Textes.
Kern zahlreicher Erzählsequenzen sind Anekdoten, gelegentlich gar Witze. Das gibt dem Textvordergrund eine vorteilhafte Leichtfüßigkeit, doch man täusche sich nicht: Die sich beiläufig gebenden Histörchen sind meist von hintergründiger Sinntransparenz. Wenn es über Rosenows Sprechweise heißt, dass er einem „durch nachgeschobene Nebensätze sozusagen Widerhaken unter die Haut trieb“ (S. 279), so möchte man das auf die Konzeption des ganzen Romans übertragen: Im Nachschlag gewinnt Einzelnes Exemplarität. Gewiss lauern nicht „hinter jedem Gebüsch tiefgründigste Symbole“ (S. 203), doch die eingangs hier angedeutete Zeichenhaftigkeit ist nur das eine Mittel, eine zweite Ebene anzusteuern, ein anderes ist die reichlich anspielende Insertion von Bildungsgütern, ein drittes der kontextgetragene Sinntransfer. Kapitel XIV etwa tut so, als berichte es bloß den Inhalt eines Kollegs über das Gilgamesch-Epos und Echnatons Sonnengesang. In Wahrheit fühlen sich die Hörer so, als hätte „der Wind der Zeit ein Stück blutiger Weltgeschichte durch die Unsichtbarkeit der Luft herbeigeweht“ (S. 143), die Rede des Professors – es ist Herbst 1956 – öffnet einen „schnell-beredt-heimlichen Seitenblick hinüber nach Budapest“ und streut die subversive Botschaft, „dass es auch anders ging, ja, dass es nur anders gehen konnte“ (S. 144). Nicht immer sind die Handreichungen zu kontextuellem Lesen so explizit, doch bei der Schlüssigkeit des Textes kann die Entdeckung der zahlreichen Doppelzüngigkeiten ohne Risiko dem Leser überlassen bleiben. Fast müßig zu sagen, dass Stil und Sprache des Romans so gepflegt und elegant sind wie seine Machart anspruchsvoll.
„In dein Maul sollte man nicht fallen. Heil kommt man da nicht wieder heraus“, sagt einer seiner Mentoren zu Christian Rosenow. Das gilt insbesondere für die neun „Caprichos“, die den epischen Grundtext durchschießen, sich gestaltungstechnisch auf Francisco Goyas gleichnamigen Zyklus Radierungen (1796-98) berufen und satirisch-polemische Exkurse zu kontextuell angeschnittenen Problemen darstellen. Ihren zugespitzten Eigensinn mag man als ungerecht und verletzend empfinden, aber ist Satire denn je gerecht? Es gehört zu ihrer Eigenart, dass sie übertreibt, verzerrt, anschwärzt. Christian sei im Begriff, sich Feinde zu machen, warnt besagter Mentor und erhält als Antwort: „Mag sein. Bei mir wird man halt ein bisschen gehäckselt“ (S. 311). Kann es damit sein Bewenden haben? Drei Jahrzehnte nicht gerade einfacher gesellschaftlicher Existenz und intellektueller Befindlichkeit der deutschsprachigen Kultur Rumäniens werden in diesem Roman aufgeblättert und dem Gedächtnis anheim gegeben. Für Textsorten, in denen sich, wie hier, autobiographische Fakten und künstlerische Erfindung zusammenfinden, hält die neuere Germanistik den Terminus „Autofiktionalität“ bereit. Mit Bezug auf diesen Roman, in dem von „fiktionalem Journalismus“ die Rede ist, wird im Capricho 2 die Relation von Wirklichkeit und Fiktion grundsätzlich aufgerollt: „Die Fiktion [...] ist plötzlich das Wahrere und Glaubhaftere, die Wirklichkeit des Erlebnisses das schlichtweg Irreale. Das niederschmetternd Wirkliche, das uns das Leben beschert, scheint nur als Einzelnes, nur als ganz Privates Gültigkeit zu haben. Exemplarität gewinnt es erst durch literarische Aufbereitung“ (S. 87). Mit Joachim Wittstocks Buch Die uns angebotene Welt (2007) liegt ein autofiktionaler Roman aus dem Klausenburger Studentenleben vor. Es dürfte nicht nur potentielle germanistische Doktoranden freuen, dass nun mit Dieter Roths Müdem Lord kein fügsames, aber ein wohlgefügtes, stofflich vergleichbares Gegenstück aus dem Bukarester Milieu hinzugekommen ist.

Michael Markel

Dieter Roth: „Der müde Lord“. Roman. Heidelberg: Rhein-Neckar-Zeitung 2013, 484 Seiten, Preis 24,80 Euro, ISBN 978-3-936866-46-9, erhältlich im Buchhandel
Der müde Lord
Dieter Roth
Der müde Lord

Rhein-Neckar-Druck
Gebundene Ausgabe
EUR 24,80
Jetzt bestellen »

Schlagwörter: Rezension, Roman, Literatur, Bukarest

Bewerten:

16 Bewertungen: ++

Neueste Kommentare

  • 10.12.2013, 08:12 Uhr von bankban: Eine sehr schöne, gute und intelligente sowie Interesse weckende Rezension, die Lust auf das Buch ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.