10. Mai 2015

Poetischer Chronist der Auswanderung und "Fanatiker des Erinnerns"

Zugegeben: Der Titel des stattlichen Gedichtbandes „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“ von Horst Samson, ediert 2014 beim getreuen Verleger südosteuropäischer Literatur Traian Pop in Ludwigsburg, hat mich ins Grübeln gebracht. Sind wir im Imaginären anwesend oder ist das Imaginäre in uns präsent? Wohl beides, zwei Seiten einer Medaille. Bei Horst Samson muss man auf der Hut sein, denn er stellt Wörter und deren gängige Bedeutung in ganz unerwartete, erstaunliche Zusammenhänge, gedanklich und emotional. Dies gehört gewiss zur Eigenart der Dichtung überhaupt. Doch die lyrischen Texte des in der Bărăgan-Deportation geborenen, im Banat aufgewachsenen Dichters – er ist durch seine Lehrerausbildung und Familie auch Siebenbürgen eng verbunden – sprechen den Leser an durch einen originellen Sprachstil und eigenständig frische poetische Bilder, Vergleiche und Metaphern.
Auf die sprühende Sprache und hohe Sensibilität der Lyrik Horst Samsons hat der Rezensent bereits an anderer Stelle hingewiesen, auszugsweise im Klappentext des vorliegenden Bandes nachzulesen. Neben seinen beiden Gedichtbänden „Und wenn du willst, vergiss“ (2010) und „Kein Schweigen bleibt ungehört“ (2013) erschien eine straffe Anthologie aus dem lyrischen, erzählerischen und essayistischen Werk unseres Autors in der Ludwigsburger Zeitschrift BAWÜLON (Nr. 2/2014).

Und nun eine Sammlung von nahezu hundertfünfzig Gedichten! Der Dichter Samson scheint die Oberhand über den Journalisten zu gewinnen. Seinen neuen Band leitet er mit dem Gedicht „Sonate für Gehirn und Violine“ ein, dem er einige Verse Theodor Storms voranstellt. Der letzte davon lautet: „Es wird doch alles vergessen!“ Dagegen stemmt sich der Dichter Horst Samson. Er gilt zu Recht als poetischer Chronist der Auswanderungszeit. Sein Einleitungsgedicht versieht er nicht zufällig mit der Orts- und Zeitangabe „Heidelberg-Kirchheim, 1987“, dem Standort des Aussiedler-Wohnheims und dem Jahr seiner Auswanderung bzw. Einwanderung. Bedeutsam erscheinen mir die Akzentsetzungen in diesen zehn Versen: „große Freiheit“, „Gedichte gegen das Vergessen“, „Kiste mit den Habseligkeiten“. Holzschnittartig beschreibt der ausgesiedelte Dichter die Hoffnung und den realen Zustand seiner neuen Existenz.

Er blickt in vielen Gedichten zurück im Zorn, mit Bitterkeit, Schmerz und Melancholie, u.a. ob des unwiederbringlichen Verlustes der eigenen Lebenswelt, der demütigenden Abfahrt in Curtici nach Westen und eingedenk des unfassbaren Verfalls, der die Hinterlassenschaft der Ausgewanderten in wenigen Jahren heimsucht. Sprachbilder werden potenziert durch Anklänge an musikalische Genres und Begriffe, so unter vielen anderen in „Violine. Die Köpfe sind unterwegs“, „Miniatüre in g-Moll“ oder „Requiem“. Auszüge aus dem letztgenannten Gedicht: „Verdorrtes Leben im Holunderbaum. Ich spüre das/ Taschenmesser in der kindlichen Hand, die Form/ des Karpfens. Ausgetrocknet die Dorfteiche,/ in denen wir angelten .../ Verschollen sind Namen,/ Schall und Rauch, Gräber und Erinnerungen. Die Toten/ sind unterwegs, suchen und versuchen zu vergessen …/ Die Kirche steht noch/ Die Sakristei ein Haufen Schutt …“.

Der Begriff eines „poetischen Chronisten der Auswanderung“ ist hier weiter zu fassen. Dem Dichter geht es nicht so sehr um die Spiegelung des historischen Vorgangs, sondern um dessen Hintergründe und zerstörerische Wirkung auf das Leben der betroffenen Menschen, mit denen er sich identifiziert. An Protest-Gedichte im engeren Sinn – wie jene gegen Willkür und Gewalt in der kommunistischen Diktatur, gegen das Unwesen des Geheimdienstes – fügen sich Verse über Schuld und Verrat. Selbst Bilder der Landschaft und Dinge des Alltags werden zu Zeichen der bedrückenden Innenwelt des Dichters, selbst in thematisch so verschiedenen Gedichten wie „Bei den Sonnenblumen“ oder „Nachruf auf meine Schreibmaschine“: „Sie wusste alles über mich (…) und schrieb/ meine verkorkste Biographie mit, die Historie/ der Familie, Krieg, Deportation, Erniedrigungen (…)/ Doch ich wusste, kein Wort, kein Wort/ würde sie verraten (...)“.

Horst Samson weitet den Begriff der Auswanderung aus, spricht anklagend von Exil, von „Niemandlingen“, die nicht allein das Land ihrer Träume, sondern auch die Bitternis der Fremdheit erleben. Überall trägt der Entwurzelte das Gepäck der Erinnerungen mit sich. Sie speisen die Imagination bei der emotionalen Naturbegegnung – kein anderer rumäniendeutscher Autor hat solch tiefgründige Meeres-Lyrik geschrieben wie er! –, generieren das „Imaginäre“, in dem sich der Dichter bei seinen Erkundungen an vielen Orten fast bis „ans Ende der Welt“ bewegt. Ob im schweizerischen Verzascatal – „Valle Verzasca“ hat „nur selten … zwei Aussiedler gesehen“ –, ob in Südwestafrikas gigantischer Wüste Namib („Land unter dem Sand“) oder in Norwegens Geisterort Nykstad („Verortung“): In die geradezu mythische Wahrnehmung fremder Landschaften durch das im Universum verlorene Ich nistet sich gleichsam Erinnerung ein, unmerklich genährt von den entfernten Wurzeln der Herkunft („Zwiegespräch mit Disteln“), der davon überschatteten „verkorksten“ Biographie und der noch weiter zurückliegenden Geschichte der Eltern, etwa des Vaters, dessen Generation nicht verteufelt, sondern eher betrauert wird („Am Ende der Flucht“, „Zwischen Himmel und Hölderlin“).

Unrast ist des Dichters ständiger Begleiter, auch in den Gedichten über Liebe und Tod, über Schönheit und Verfall, Vergänglichkeit und Trauer. Nicht zuletzt im Spannungsverhältnis zur Sprache: das Wort als Wunder und Freund, aber auch als Gefahr und Schmerz („Denn alles hat angefangen“). Horst Samson ist eben ein Dichter unserer Zeit, längst angekommen in der zeitgenössischen deutschen Lyrik, was ihm unbestechliche Kenner des Literaturbetriebs bescheinigen. Man lasse sich nicht täuschen von den zahllosen Anspielungen auf große Literatur, darunter auf die Bibel, oder auf klassische Gedichtformen wie Ode, Elegie und Sonett, gar auf das Vaterunser. Es sind keine äußerlichen Bildungselemente, eher zeitgemäße bzw. originelle Verfremdungen, inspirierende Anverwandlung. Horst Samsons freie Rhythmen bürsten die Metrik und Syntax gleichsam gegen den Strich. Harmonie ist nicht seine Sache. Dauernde Zeilen- oder gar Strophensprünge fordern den geneigten Leser, ganz im Brecht’schen Sinne, zum wachen Mitdenken heraus. Doch er wird nicht umhin können, die emotionsgeladenen Stimmungen der Sprache unseres Dichters nachzuempfinden. Horst Samson ist kein Nostalgiker. Aber bei aller expressionistischen, zuweilen „glühenden“ Sprachkraft, bei allem kämpferischen Protest gegen den beklagenswerten Zustand der Welt erscheint er mir doch wie ein verkappter Romantiker, dem die „blaue Blume“ entrückt ist, der aber nicht aufgibt. „Algorithmus der Natur“: „Ein blauer Tag, September./ Die Pracht des Sommers/ noch einmal.// … Die Blätter/ schmücken sich für den Wind./ Gleich wird er sie abholen/ zum Tanz durch die Alleen.“

Walter Engel

Schlagwörter: Rezension, Gedichtband, Samson, Banater Schwaben

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