13. Januar 2024

Gehen, Bleiben, Leben und Erinnern: Iris Wolff bleibt in ihrem neuen Buch eine literarische Wanderin

Im Normalfall beschränkt sich eine Buchbesprechung zumeist auf das eigentliche Werk. In dem hier vorliegenden Fall lohnt sich ultimativ ein kleiner Rückblick. Iris Wolff, eine aus Siebenbürgen stammende, jetzt im Breisgau lebende sowie inzwischen weithin bekannte Autorin, veröffentlichte vor mehr als einem Jahrzehnt ihren ersten Roman. Darin wurden persönliche Kindheitserinnerungen, fest verankerte Traditionen sowie Familienbeziehungen ihrer Ursprungsheimat verarbeitet und ausgeleuchtet. Als herausragendes Ereignis feierte die Leserschaft 2020 die von ihr kredenzte sowie mit allerhand vorzüglichen Ausdrucksformen angereicherte „Unschärfe der Welt“. Nun folgt eine Fortsetzung. Und was sind da für literarische Sonnenstrahlen entstanden.
In „Lichtungen“ finden bekennende Anhänger der mit einem Gütesiegel versehenen gedruckten Worte fast alles. Es geht um Heimat, Identitäten, prägende Vergangenheitsspuren, Liebe, Sprachen, spezielle Charakter-Menschen. Wegweisende Figuren der Handlung sind Kato und Lev. Eine seit Kindheitstagen existente sowie extrem facettenreiche Zweierbeziehung. Aus dieser Fallkonstruktion webte die fleißig Notierende erneut Bleibendes für die im Kopf vorhandenen persönlichen Geschichtenspeicher. Klar, überaus reichlich festgezurrte sprachliche Filetstücke befeuern das Aufgeschriebene zusätzlich. Fallbeispiel: „Man müsse immer bereit sein aufzubrechen … Auch wenn man gerade angekommen ist? Dann besonders.“ Kurz danach finden drei Worte „Wann kommst du“ leicht Platz auf einer Seite und entfachen sofort treibende Eigendynamiken und sind zugleich verantwortlich für nun folgende Reisen durch unterschiedlichste Ebenen sowie Zeitphasen. Dem sich zwischen behutsam sowie beinhart abspielenden Aufeinanderprallen von Vergangenheit und Gegenwart. Es geht Schlag auf Schlag. Eingebaute Schilderungen unterschiedlichster Landschaften entfachen immer neue Verführungskräfte. Hinweise auf verschiedenste Sprachen plus Erlebniswelten aufgrund der existenten und im Alltag stets spürbaren ethnischen Vielfalt plus religiöse Bindungen erzeugen zusätzliche Anschubkräfte. Die Leserschaft ist so richtig nah dran.
Die in Hermannstadt geborene Autorin Iris Wolff ...
Die in Hermannstadt geborene Autorin Iris Wolff hat ihren neuen Roman „Lichtungen“ veröffentlicht. Schon mit ihrem Vorgängerbuch „Die Unschärfe der Welt“ feierte sie große Erfolge, wie diese Aufnahme von einer Lesung im thüringischen Jena zeigt. Foto: Roland Barwinsky
Kato, die Außenseiterin, Verfemte, die Zeichnende, verschwindet schon kurz nach dem Auseinanderbrechen des Kommunismus aus Rumänien. Als fantasiebeladene Landfahrerin durch bisher für sie nicht zugänglich gewesene Orte wird sie zur Getriebenen, zur Rastlosen, zur sprechenden Archivarin einer eigenen, recht bizarren Biographie. Die hoffentlich inbrünstig das Geschriebene Aufnehmenden, lernen en masse in Sätze geformte Erinnerungen kennen, die „waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen.“ Vielschichtige und tiefgründige Familiengeschichten erklimmen die Oberfläche. Eine nur scheinbar bewältigte Diktatur in den Farben Ceauşescus entpuppt sich neben all der angeschwemmten Bitternis zuweilen auch als komisch. Der Alltag vernetzt mit den Mühen der Ebene musste damals wie heute funktionieren. Irgendwie! Bleiben oder gehen war natürlich innerhalb der deutschen Minderheit im Karpatenland das alles andere überlagernde Thema. Nicht jeder wartete da auf reguläre Papiere von durch und durch korrumpierten Büroleuten, um legal nach Deutschland zu fahren. Man verschwand eben, wenn es klappte, im grenznahen Gestrüpp und tauchte danach im Vielbesserland wieder auf. Die Agonie der späten 1980er Jahre im Ostblock ist greifbar, fühlbar, oft unnahbar. Passierte da nicht gerade nebenan in der gerade noch auf der Landkarte existenten ruhmreichen Sowjetunion ein großer Atomunfall? Aber die gesamte Gesellschaft war sowieso gut geworden im „Wegsehen, Weghören, Wegdenken“, resümierte eine durchaus auch klug analysierende Autorin. Nicht Dazugehörende wurden seinerzeit eben mal kurzerhand weggebracht.

Nicht nur im Vorbeigehen entstanden Bilder extremer Tiefenschärfe, wuchtiger Detailverliebtheit, partieller Gnade. Oder sie sind einfach nur gnadenlos? Sehr viel erfahren Durchlesende vom Dasein, wie es vor und nach einem großen Geschichtsknall in Rumänien existierte. Eine orthodoxe Gemeinde nutzte kurzerhand wegen der hastigen Ausreise der lange Zeit hier ansässigen Protestanten den dadurch vermeintlich nutzlos gewordenen Kirchenraum für eigene Zwecke. Einige Kilometer weiter nördlich wartete die Maramuresch. Das rundum verführerische Refugium für besonders wertvolle Erlebnis- und Ideenschmieden. Zugleich einen trotz üppiger Schlaglöcher recht leicht zu erreichenden Landstrich mit fast schon sagenhafter Schönheit und der berühmten Schmalspurbahn in Oberwischau. Drumherum bewegten und bewegen sich umtriebige Holzfäller mit grundehrlichen Umgangston. Jede neue Seite erzeugt frische inhaltliche Wohlfühldüfte. Lebensfreude überbrachte die über alle angeblich existenten kulturellen Grenzen hinweg elektrisierende Volksmusik. Lebensfrust dagegen wucherte im Banat, wo der Drill innerhalb einer diktatorischen Armee unschöne Rückblicke erzeugte.

Mittendrin und fast genauso oft ganz draußen agierten Außenseiterin Kato und der seit Kindheitstagen gesundheitlich ziemlich schlecht aufgestellte Lev. Wie heißt es visionär irgendwann im Buch: „Stattdessen wurde dieses Mädchen geschickt, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte.“ Nach so einer schrillen Ansage konnte nur Geniales mit ganz kräftigen Sätzen voller schillernder Schönheit entstehen. Genau Draufblickende plus regional Bescheidwissende erkennen natürlich reichlich eingestreute Romantik pur, welche im Haupthandlungsland seit Generationen fest verankert ist. Selbstverständlich! Nicht nur im Schloss hinter dem Regenbogen entdecken träumerische Genießer die Suche nach der „Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod“. Ja, fast wie im berühmten Märchen, das der Auskennende hier erkennt. In diesem Augenblick ist sie wieder da, die herzzerreißende Symbiose zwischen einer Welt von damals und einem Dasein im Hier und Jetzt mit all seinen niemals vollumfänglich zu beantwortenden Fragen. Gute Romane sind einfach nie zu abstrakt, um inhaltlich zuweilen auch der Wirklichkeit hautnah zu begegnen.

Roland Barwinsky



Iris Wolff: „Lichtungen“. Roman. Verlag Klett Cotta Stuttgart, 2024, 256 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-608-98770-6

Schlagwörter: Literatur, Iris Wolff, Roman, Buchbesprechung

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