21. August 2008

Walter Seidner: "Auf Wolke Sieben/ Bürgen"

Dass zurzeit kein Mangel an Erinnerungsliteratur aus dem siebenbürgischen Raum besteht, ist nicht zu leugnen. Besonders die bis Dezember 1989 in Rumänien als Tabu geltende Thematik von Verschleppung und Enteignung, Flucht und Auswanderung wurde inzwischen gehörig aufgearbeitet. Das mehr oder weniger von Toleranz geprägte Siebenbürgen wird in Deutschland und in Europa immer mehr wahrgenommen.
Nun tritt der 70-jährige Pfarrer und Humorist Walter Gottfried Seidner (Spitzname „Voltaire“) mit einem gut 300 Seiten starken Buch an die Öffentlichkeit. Den Sammelband mit Erzählungen und Gedichten nennt er „Auf Wolke Sieben/Bür­gen“ und hängt noch zwei Untertitel dran. Sein (bisher) bestes Buch? Wir kennen von ihm das Mundartstück vom „Sherlock Honnes“, den in Hochdeutsch abgefassten „Ehespiegel“ u. a. Wir kennen seine Vorliebe für das Wortspiel. Und manche kennen auch Schriften eines seiner Vor­gänger im Stolzenburger Pfarramt, des Erzäh­lers Johann Plattner (1854-1942): „Schatz­grä­ber“ oder „Stolzenburger Gestalten“, Texte, die ebenfalls der Heiterkeit nicht entbehren.

Was kommt also jetzt? Der vorgewarnte Leser ist angenehm überrascht, denn er wird mit einer Fülle ernster und auch nachdenklich gestimmter Texte bedient. Kaum mehr das leicht Überspitzte von einst. Feinsinniger Humor fließt in die gut lesbaren Geschichten allemal ein. Man darf immer wieder lächeln und schmunzeln.

Eine chronologische Reihung der Texte ist er­kennbar. Der Zeitbogen überspannt das vergangene Jahrhundert. Seidner lässt den Großvater aus dessen Kindheit erzählen („Das Kriegs­ar­chiv“), über Jugendstreiche im Hermannstadt der k.u.k.-Zeit und deren Folgen. In die Zwischen­kriegszeit gehört die anrührende Geschichte vom „Lachmeister“ und einer Bischofspredigt. Welch unerwarteter Menschlichkeit ein versprengter deutscher Soldat im Herbst 1944 bei rumänischen Gebirgsjägern begegnet, die ihn eigentlich gefangen nehmen und an die Sowjets ausliefern müssten, erfahren wir aus der Erzäh­lung „Die blutende Maske“ und darin auch von der späten Suchanzeige des Bauern Aron Părău.

Dann aus dem letzten Kriegswinter die Erin­nerungen an den im Seidnerischen Elternhaus auf der Hermannstädter Konradwiese zwangseinquartierten Russen, den Kinderfreund und zeichnerisch begabten Aljoscha. „Die Stalinkel­ter“ bietet die einfühlsame Schilderung des Geschehens um den 13. Januar 1945, als Frau Seidner, Mutter von vier unmündigen Kindern, wie durch ein Wunder vor der Verschleppung gerettet wird. Aljoscha, dieser sonnige Charak­ter, wird mutatis mutandis ein Gerechter unter den Menschen. Was sich wie ein Märchen liest, ist wahre Geschichte.

In dem durch den Zweiten Wiener Schieds­spruch vorübergehend an Ungarn abgetrennten Nordsiebenbürgen hat sich zugetragen, was die Erzählung „Der niedrige Zaun“ über das Schick­sal der in Moritzdorf allein zurückgelassenen, eigentlich verschollenen zweijährigen Marichi­chi zu sagen hat (ja, Sie lesen richtig: Marichichi). Nach der Evakuierung durch deutsche Truppen im September 1944 waren ohnedies ganz wenige Sachsen im Dorf geblieben; die Eltern des Kindes aber wurden im Januar einfach verhaftet und verschleppt. Rumänische Bauern aus einem Nachbardorf finden, vom Wochenmarkt kommend, das verlassene Mäd­chen weinend im Schnee hinter dem niederen Zaun. Sie „nehmen es zur Seele“ (luată în suflet). Und sie werden seine Zieheltern sein, bis zur Heimkehr der Eltern von der Zwangs­arbeit in der Sowjetunion zu Pfingsten 1949 und Monate darüber hinaus, bis die Marichichi begreift, wer ihre wirklichen Eltern sind, und sie zum ersten Mal auf Sächsisch sagen kann: „Motterchen, dairet, ech bidden äm en Stäck Brit“. Es wird beschrieben, welchen Mut und auch welche Schlauheit die Zieheltern aufbringen müssen, damit das Kind nicht in ein Waisenhaus kommt. Ihr Feingefühl, ihr Schmerz, ihre Freude, ihr anständiges Verhalten – diese Geschichte bietet vielleicht, wie andere auch, Anregung und Stoff für eine Verfilmung. Und, eine geradezu wunderbare Fügung: Als Pfarrer begegnet der Verfasser auf Dienstreise in Temes­war 40 Jahre später der Studentin Annemarie, und diese ist eine Tochter der Marichichi vom Tschutili aus Moritzdorf … (So klein ist die Welt. „Die Welt ist ein Dorf mit niedrigen Zäunen.“)

In keinen anderen der Texte passen die zahlreichen ins Deutsche übertragenen rumänischen Redensarten so gut wie in diesen letzterwähnten. Der sprachgewandte Walter Seidner ge­braucht übrigens möglichst wenige Fremd­wör­ter, dafür aber Regionalismen noch und noch, was gewiss seine Berechtigung haben mag.

Nicht unerwähnt lassen wollen wir die in den Band eingestreuten Gedichte und gereimten Aphorismen, in denen die humoristische Ader des Poeten zumeist voll zur Geltung kommt. Zwei einschränkende Anmerkungen seien hier gestattet: Ausgerechnet die den Band abschließende „Hochzeitsfahrt auf Wolke Sieben/Bürgen. Mer spilen Siwenberjes“ wirkt gekünstelt. Zwei­tens: Von den drei Titeln, die den Buchdeckel schmücken, dürfte einer zuviel sein. Ansonsten haben wir es, einschließlich der zutreffenden Analyse im Geleitwort von Gerhard Konnerth, mit einer ausgereiften, erholsamen und vergnüglichen Lektüre, mit guter, empfehlenswerter Literatur zu tun.

Ewalt Zweyer

Walter Gottfried Seidner: „Auf Wolke Sieben/ Bürgen. Paradies in der Hölle. … gute Nacht­geschichten“. Honterus Verlag. Sibiu/­Her­mannstadt 2008, 312 Seiten, ISBN 978-973-1725.25-3. Das Buch mit Originalsignatur des Autors kann bestellt werden bei Uwe Hatzack, Lortzingstraße 5, 90429 Nürnberg, Telefon: (09 11) 3 22 32 48. Unkos­tenbeitrag inklusive Versandkosten in Deutschland 11,85 Euro. Von jedem verkauften Exemplar wird 1 Euro zugunsten der Renovierung der Stolzenburger Kirchenorgel verwendet.

Schlagwörter: Rezension

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Neueste Kommentare

  • 21.08.2008, 18:45 Uhr von der Ijel: Dem Harrn Zweyer kun em dunken fuer des Rezension. Dem Walther Seidner gratulieren. Ech froae ... [weiter]

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