11. Dezember 2008

Hermann Hesses Weg mit Gusto Gräser

Der folgende Artikel beinhaltet Auszüge aus einem Vortrag, den Hermann Müller am 20. November im Münchner Haus Deutschen Ostens (HDO) über die wenig bekannte Meister-Jünger-Beziehung von Gusto Gräser und Hermann Hesse hielt. Müller, 1931 in Göppingen geboren, gilt als der beste Kenner des Gräser’schen Werkes.
Hermann Hesse hat Legenden geschrieben. Er hat Märchen geschrieben. Er hat Erzählungen und Romane geschrieben. Fast alle seine Werke handeln von einer Freundschaft. Und zwar von der Freundschaft zu einem Einsiedler und Wan­derer, einem Heiligen und Weisen. Immer ist da ein überlegener Freund und Meister, zu dem ein Schüler oder Jünger verehrend aufblickt. Es ist ein einziges Thema, das sich durch alle seine wesentlichen Werke zieht. Hinter allen seinen Erzählungen steht eine Urlegende: die von einer Schülerschaft oder Jüngerschaft, von den Irrun­gen und Verwirrungen dieser Freundschaft, von Zweifeln und Ängsten, von Abfall und Verrat, von Flucht und selbst von Mordgedanken, und dann auch von Reue, Heimweh und Rückkehr, von Hingabe, Dienst und Verschmelzung.
Gusto Gräser auf dem Münchner Marienhof, im ...
Gusto Gräser auf dem Münchner Marienhof, im Hintergrund die Frauenkirche, 1945.
Hesses Interpreten haben diese Meistergestalt für eine Schöpfung seiner Phantasie gehalten. Man hat von seinem „alter ego“ gesprochen, hat ihn als den ewig Pubertierenden verstanden, der nie zu seiner männlichen Reife gelange, als einen unerlösten Pietisten, der aus dem Komplex von Schuld und Sühne nicht herausfinde. Die Sache sieht anders aus, ganz anders, wenn man weiß, dass hinter Hesses Meistergestalten nicht eine Phantasie steht, nicht ein pubertäres Sich­hinaufwünschen – sondern eine reale Person, ein lebendiger Mensch. Die Wertungen kehren sich um. Was Schwäche schien, Unreife oder Krank­heit, erhält ein neues Vorzeichen, erlebt eine Auferstehung: als heroisches Bekennertum, als prophetischer Tiefblick, als einsam-geheime Zeugenschaft.

Hesse hat einen Menschen gekannt, den die meisten für einen Narren hielten. Er aber hat in ihm einen Heiligen erkannt, einen Seher und Weisen. Zu diesem Menschen zu stehen, sein Bild und seine Einsichten der Menschheit zu vermitteln, erkannte er als seine Aufgabe. Er hat sich gegen diese Aufgabe gewehrt, er hat sich ihr durch Flucht zu entziehen versucht, Zweifel und Ängste haben ihn immer wieder an den Rand des Selbstmords getrieben, aber letzten Endes ist er seiner Berufung treu geblieben.
Gräser-Biograph und Ausstellungsmacher Hermann ...
Gräser-Biograph und Ausstellungsmacher Hermann Müller im Ge­spräch mit einer Besucherin seines Vortrages. Foto: Konrad Klein
Besser als die gelehrten Philologen haben ihn seine Leser verstanden. Seit Generationen wird er immer wieder von suchenden Menschen entdeckt, gelesen, verehrt, gefeiert. Seine Schriften werden als Wegweisungen fürs Leben verstanden. Das Bild eines außergewöhnlichen Men­schen wird durch alle Verhüllungen hindurch instinktiv wahrgenommen. Wie wir inzwischen wissen, ist es das Bild des Wanderers, Einsied­lers und Dichters Gusto Gräser. Hesses Weg mit Gräser war ein extremes Hin und Her zwischen Hingabe und Flucht. 1907 folgt er seinem Freund in dessen Felshöhle „Pa­gangrott“ hoch über dem Maggiatal im Tessin. Er fastet, meditiert, läuft nackt durch die Wälder. Gemeinsam studieren sie die heiligen Schriften der Inder. Aber Hesse kann den entscheidenden Sprung der Hingabe nicht leisten und kehrt ins bürgerliche Leben zurück. Er verhöhnt sogar seinen einstigen Meister als in den Bäumen han­gelnden Gorilla. Doch kann er seine Abwehr auf Dauer nicht durchhalten, sie endet 1916 mit seinem Zusammenbruch. Jetzt sucht er wieder Zuflucht bei Gräser. Auf dem Monte Verità von Ascona erlebt er eine seelische Neugeburt. Der in Depressionen Versunkene erlebt eine Glücks­zeit, fühlt sich aufgenommen in den Bund einer zukünftigen Gemeinschaft, die sich ihm in Gusto Grä­ser, seinem „Demian“ und neuen „Zarathustra“, verkörpert.

Der ehemalige Kriegsfreiwillige wandelt sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Doch wagt er kein öffentliches Be­kenntnis, verbreitet seinen Roman unter Pseudonym. 1919 zieht er sich ein zwei­tes Mal von Gusto Gräser zurück – und stürzt in den Abgrund seiner „Steppen­wolf“-Krise. Selbstmord­gedanken verfolgen ihn, bis er nach zehn Jahren, dem Erblinden nahe, wiederum zusammenbricht. Nun schreibt er einen langen offenen Brief der Reue, der Beichte und der Bitte um Wiederannahme durch den Freund in der Erzählung „Morgenland­fahrt“. Auch sein letztes großes Werk, das „Glas­perlenspiel“, kreist um das Thema der Rückkehr zu einem Freund und Meister. 1907 hatte ihm Gräser den Weg ins geistige Indien geöffnet. 1916 richtet sich der politisch Isolierte an dem Kriegsdienstverweigerer auf, erlebt den „Berg der Wahrheit“ als eine „Traum­insel“ der Menschlichkeit und als Vorahnung einer künftigen Kultur. Mitten im Krieg, im Jahre 1917, schreibt er, verzweifelt über die Verken­nung seines Freundes und zugleich in Hoffnung selbstbewusst: „Wir, die mit dem Zeichen, moch­ten mit Recht der Welt für seltsam, ja für verrückt und gefährlich gelten. Wir waren Erwach­te, oder Erwachende. Aber während wir Gezeich­neten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. Für sie war die Menschheit etwas Fertiges, für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft. Unsere Aufgabe war, in der Welt eine Insel darzustellen, vielleicht ein Vorbild, jedenfalls aber die Ankündigung einer anderen Möglichkeit zu leben.“

Hermann Müller

Zum Autor

Hermann Müller, 1931 in Göppingen geboren, gilt als der beste Kenner des Gräser’schen Werkes. Er kannte Gräser und besuchte ihn auch mehrmals – nachdem er ihn im Herbst 1955 in Aurica Popescus Café Klein Bukarest (damals in der Luisenstraße 45) in München kennengelernt hatte. Müller besitzt neben der Münchner Monacensia-Bibliothek die vollständigste Sammlung an Gräser-Materialien und Memorabilien (Deutsches Monte Verità Ar­chiv Freudenstein). Einige seiner schönsten Stü­cke sind noch bis zum 19. Dezember in der von ihm konzipierten Ausstellung im Haus des Deutschen Ostens (HDO) in München zu sehen.

1986-2002 gab Müller die Gräser-Blätter (später Monteveritana) heraus. Mittlerweile hat er vier Bände mit Texten aus dem Nachlass und eine Gräser-Biographie veröffentlicht. Anlässlich der Ausstellung war eine erweiterte Neuauflage geplant, die wegen eines Unfalls des Autors nun erst Ende 2009 erscheinen kann. Mit seinen Recherchen zum Einfluss von Gräser auf Hesse und sein Werk hat sich Müller Suhrkamp-Verlag – dem Hausverlag Hesses – „unbeliebt“ gemacht. Als ob Müllers „Enthüllungen“ dem Autor des Steppenwolf noch das Wasser abgraben könnten! Alles zu Gusto Gräser unter der von Müller aufgebauten Seite www.gusto-graeser.info.

Konrad Klein

Schlagwörter: Gräser, Philosophie, München, Kronstadt

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