1. Januar 2024

Das Schweigen der Kirchenburgen – neuer Glockenklang

Sucht man nach einem Symbol der Identität der Siebenbürger Sachsen, kommt man an den Kirchenburgen nicht vorbei. Erbaut über Jahrhunderte, ohne große Architektur-Kenntnisse und technische Berechnungen, ohne komplizierte Vorgaben zur Einhaltung von Normen, nur mit der Erfahrung, dem Mut und Zuversicht weniger Baumeister sind sie der Mittelpunkt jeder sächsischen Ortschaft, egal ob Großstadt oder kleines Dorf im Gürtel der Karpaten. Es ist schwer nachvollziehbar, was für eine enorme Herausforderung materiell sowie auch finanziell dies für die damalige Gesellschaft bedeutete.
Die Kirchenburg Birthälm. Foto: Johann Stürner ...
Die Kirchenburg Birthälm. Foto: Johann Stürner
Das Baumaterial wurde meistens aus der unmittelbaren Umgebung als Sandstein, selbstgebrannte Mauerziegel oder Eichenstämme aus den eigenen Wäldern mit Ochsenkarren oder Pferdegespannen herangeschafft. Mit welcher Anstrengung, Verletzungsgefahr und ohne große Hilfsmittel die großen Steine in die hohen Mauern eingebaut wurden, ist heute kaum noch nachvollziehbar. Es bedarf des unermüdlichen Einsatzes über mehrere Generationen, um diese einmaligen Zeugen der sächsischen Siedlungskultur in der noch teilweise wilden Landschaft aufzubauen. Je nach finanzieller Stärke der ansässigen Bürger, nicht selten im Wettlauf und Wettstreit mit den Nachbarortschaften, entstanden einmalige architektonische Bauten mit einem oder mehreren Türmen, kleineren oder größeren Kirchenschiffen, alle umgeben von einer schützenden und verteidigungsfähigen Ringmauer. Durch die einzigartige Gestaltung der Kirchenburg ist jede Ortschaft an ihrem imposanten Bauwerk zweifelsfrei zu erkennen.

Wenn auch die Kirchenburg überwiegend mit lokalen Mitteln aufgebaut wurde, war für ihre vollständige Bestimmung und Verwendung noch vieles zu beschaffen und einzubauen. Dies könnte die zweite große finanzielle Belastung der Gemeinden gewesen sein, um die Glocken, die Turmuhr, die Orgel, den Altar und weiteres Kulturgut aus den westlichen europäischen Ländern zu beschaffen. Über Jahrhunderte und Generationen war die Kirchenburg, egal in welchem Vollendungsstadium, der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Hier wurde man getauft, konfirmiert, getraut und zuletzt auch beerdigt. Der Klang der Glocken und das Schlagen der Turmuhr bestimmten das gesellschaftliche Leben im Tages- und Jahresablauf. Der Klang der drei Kirchenglocken auf dem Schönberger Kirchturm haben mich mit dem Morgen-, Mittags- und Abendläuten durch die Kindheit und Jugend begleitet. Eine weitere kleine Glocke diente durch ihr rhythmisches Läuten, neben dem bekannten Nachbarzeichen, zur Verkündigung von Botschaften an die Dorfbewohner. Sie kündigte die Öffnung der Specktürme, war der Aufruf zum Arbeitsdienst auf dem Friedhof, oder war der Feuermelder und Aufruf zur Beteiligung an den Löscharbeiten. Im Winter wurde sie um acht Uhr zusätzlich geläutet. Der Sinn dieses Vorgangs wurde uns damit erklärt, dass in der Vergangenheit, als kein Licht im Dorf zu sehen war, der Klang der Glocke verirrten Personen auf dem Feld den Weg in das schützende Dorf zeigen sollte.

Die pechschwarze Nacht, die Vorstellung von einem verirrten Menschen in der bitterkalten Nacht und die Erzählung von Wölfen ließen uns als Kinder die Steppdecke hochziehen in der Hoffnung, ohne Alpträume schnell einschlafen zu können. Seitdem sind nun einige Jahrzehnte vergangen, die Kirchenburg in Schönberg und in den meisten Dörfern Siebenbürgens sind nach dem Weggang ihrer Einwohner mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen worden. Es ist erfreulich, dass gegen den Verfall über unterschiedliche Stiftungen umfangreiche Sanierungsarbeiten ausgeführt werden. Dies sind sehr kostenintensive Unterfangen, welche nur mit Mitteln staatlicher und europäischer Unterstützung durchgeführt werden können. Wie bekannt, sind diese Förderungen begrenzt und reichen nur für die dringendsten Projekte. Deswegen wird erwartet, dass die ausgewanderten Sachsen über ihre HOG einen Beitrag dazu leisten, um das Erbe ihrer Vorfahren zu bewahren und zu schützen. So verstehe ich auch den Aufruf des Landeskonsistoriums der Evangelischen Kirche in Siebenbürgen vom 16. März 2022, der uns alle auffordert, den Erhalt des baulichen Erbes in unseren Heimatgemeinden zu unterstützen.

Wenn sich die überwiegende Aufmerksamkeit der Projekte auf die baulichen Arbeiten konzentriert, wird nach meiner Überzeugung einem wesentlichen Bestandteil unserer christlichen Kultur in den Kirchenburgen nicht die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Es handelt sich um das Glockenläuten und um eine funktionierende Turmuhr mit Stundenschlag. Ohne diese einzigartigen Merkmale werden unsere Kirchen zu stummen Zeugen der Geschichte degradiert. Ohne sie fehlt die Seele der einst so lebendigen Dorfgemeinschaft, ja es entschwindet mit der Zeit der Anspruch auf den Fortbestand unserer Jahrhunderte alten Geschichte auf dem Boden Siebenbürgens. Diesen Zustand haben wir vor drei Jahren auch in der Kirchenburg Schönberg vorgefunden: eine Glocke gesprungen, der elektrische Antrieb der anderen beiden Glocken sanierungsbedürftig und die Zeiger der Turmuhr irgendwann in irgendeiner Position festgefahren.

Dem Aufruf der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien folgend, haben wir mit der HOG Schönberg in unserem Heimatdorf mehrere Projekte umgesetzt. Neben der Sanierung der Friedhofskapelle wurde ein elektronisches Glockengeläut und eine elektronische Uhr im Glockenturm eingebaut. Mit diesem einzigartigen Pilotprojekt ist es uns gelungen, neues Leben in die Kirchenburg zu bringen. Seit August 2022 läuten in Schönberg wieder die Glocken, der Stundenschlag ist über die Dorfgrenze hörbar, und die Zeiger der Turmuhr drehen sich wieder. Es braucht dafür keine Aufsicht und Einsatz von Personen, alles geschieht sekundengenau über eine GPS-Steuerung. Niemand muss die vielen Treppen zu dem Glockenstuhl bewältigen, um mit viel Kraft und Ausdauer an den Seilen die Glocken zu läuten, niemand muss die schweren Gewichte der Uhr aufziehen. Die wartungsintensive und anfällige Technik für den mechanischen Stundenschlag mit Hämmern an den Glocken ist überflüssig. Durch diese neue Technik gibt es absolut keine architektonische Beeinträchtigung des historischen Gebäudes, von außen ist absolut nichts sichtbar. Die Anlagen im Gesamtwert von rund 11000 Euro wurden anteilmäßig durch Spenden ehemaliger Dorfbewohner in Höhe von ca. 6000 Euro für das elektronische Glockengeläut und einer großzügigen Beteiligung vom Bürgermeisteramt in Höhe von 5000 Euro für die elektronische Turmuhr finanziert.

Zu Weihnachten 2022 wurde „Stille Nacht“ als Glockenspiel vom Kirchenturm zur Verwunderung von Vorbeireisenden gespielt. Früher war es der Kirchenchor und die Blaskapelle, die den abenteuerlichen Aufstieg ins Glockengestühl bei eisiger Kälte wagten, um nach dem Gottesdienst an allen vier Ecken des Turms den Dorfbewohnern Weihnachtslieder darzubieten. Es stellt sich die Frage, was mit den historischen Glocken und auch der Turmuhr geschehen soll? In Schönberg bleiben sie an ihrer vertrauten Stelle und können jederzeit besichtigt werden.

Weitere Informationen zum Inhalt und Umsetzung dieses Projektes gibt es in einem Interview auf Radio Siebenbürgen, das ich mit dem Moderator Christian Mantsch geführt habe. Es wurde bereits zweimal ausgestrahlt, weitere Sendungen sind geplant. Über das YouTube-Video mit dem Titel „Neue Technik in der Kirchenburg Schönberg“ besteht die Möglichkeit, den Klang der Glocken, das Glockenspiel und den Stundenschlag in ihrer natürlichen Umgebung wahrzunehmen. Es kann über die Suchfunktion auf YouTube oder über folgenden Link https://youtu.be/bgtc5BoPLjc abgerufen werden. Wir sind der festen Überzeugung, dass mit Ausnahme größerer Städte, wo weiterhin eine Kirchengemeinde und erforderliches Personal existieren wird, nur diese moderne Technik, zum ersten Mal in Schönberg umgesetzt, das Läuten der Glocken und das Schlagen der Turmuhr in unseren Heimatorten in der näheren Zukunft gewährleisten kann. Alle anderen Versuche, die konventionellen Glocken und Turmuhren in ihrer Funktion zu erhalten, werden an den Wartungskosten und am fehlenden Betreuungspersonal scheitern.

Ist man in unseren sächsischen Dörfern unterwegs, reicht ein Blick auf die Turmuhr, um sich einen Eindruck über den allgemeinen Zustand der kirchlichen Anlagen zu bilden. Dort, wo die Uhr nicht funktioniert, was in den überwiegenden Ortschaften der Fall ist, gibt es auch keinen Stundenschlag und sehr wahrscheinlich auch kein regelmäßiges Glockenläuten. Dies habe ich letzten September im oberen Harbachtal, in Henndorf, Neithausen, Neustadt, Hundertbücheln, Jakobsdorf und Probsdorf, wo zum Teil keine Uhren vorhanden sind, weiterhin in Holzmengen, in Marpod in Leschkirch, in Zied, in Mergeln, Kleinschenk und Kerz zufälligerweise feststellen können. Auch dort, wo es keine Turmuhr gibt, kann das elektronische Glockengeläut den Stundenschlag ausführen. In Meschen können die Glocken wegen der Stabilität des Glockenstuhls nicht geläutet werden: Diese Technik könnte das Problem ohne Schwierigkeiten und mitvertretbaren Kosten lösen. In Agnetheln funktionierte der Stundenschlag an den Glocken, die Turmuhr hingegen war außer Betrieb. Sogar in Birthälm, ehemaliger Bischofssitz der Siebenbürger Sachen, UNESCO-Welterbe und Touristen Magnet, funktioniert die Turmuhr nicht. Nach Auskunft der Betreuer vor Ort gibt es auch kein tägliches Glockenläuten. Ich möchte die Zustände in diesen zufällig besuchten Ortschaften keinesfalls bewerten, es ist nur eine Feststellung der derzeitigen Situation. Es ist anzunehmen, dass solche Gegebenheiten in weiteren siebenbürgischen Kirchen und auch bei den katholischen Kirchen im Banat zutreffend sind oder sich in Kürze einstellen werden.

In unzähligen Berichten und Artikeln, in vielen Tagungen, in Zeitungen und Fernsehen wird die Situation der ehemaligen sächsischen Liegenschaften in den verlassenen Städten und aufgegebenen Dörfern beschrieben. Es wird über die Möglichkeiten der Einbindung unserer ausgewanderten Gemeinschaft zur Vermeidung von Schäden und Zerfall des einmaligen Erbes in Siebenbürgen debattiert, es werden umsetzbare und utopische Lösungen ausgearbeitet und vorgetragen. Leider finden diese Apelle nur in wenigen Fällen Gehör. Meistens scheitert es an der Bereitschaft, diese Projekte finanziell zu unterstützen. Wir leben in einer reichen Gesellschaft. Mit wenigen Ausnahmen könnten alle unsere Landsleute mit einer kleinen Spende enorme Dinge in ihren Heimatorten bewirken. Im Alleingang kann niemand etwas ausrichten, nur in der Gemeinschaft sind wir stark, können unsere Interessen vertreten, nur auf diese Weise werden wir von den politischen Entscheidungsträgern wahrgenommen. Mit dem Gegenwert eines einzigen Abendmenüs in einer Gaststätte könnte zuhause das Loch in einem Kirchendach geschlossen, das Tor, die Treppen oder der Zaun auf dem Friedhof repariert werden. Ich finde den Monatsspruch aus der Siebenbürgischen Zeitung für den Oktober 2023 zu dieser Thematik zutreffend: „SEID ABER TÄTER DES WORTES UND NICHT HÖRER ALLEIN, SONST BETRÜGT IHR EUCH SELBST“. (Jakobus 1,22).

Lassen wir zu den vielen Worten nun auch Taten folgen, verbinden wir die ausgiebigen Feierlichkeiten in unseren HOGs mit der Bitte und Aufforderung zur Beteiligung an kleineren oder größeren Projekten in unseren Städten und Dörfern. Wer kennt nicht das Zitat „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Es wird Martin Luther zugeschrieben und ist ein Bekenntnis für das Vertrauen in die Zukunft; in unserem Falle meint der Aufruf, unsere Wurzeln nicht zu vergessen, unser Erbe zu erhalten. Die Mittel dazu können aufgebracht werden, es fehlt nur noch der Wille und die Bereitschaft, dies umzusetzen.

In Schönberg haben wir ein solches Apfelbäumchen gepflanzt. Seine saftigen Äpfel sind nicht für das leibliche Wohl gedacht. An seinen Ästen reifen die geistigen Früchte der Erinnerung, der Zuversicht und der Wertschätzung unseres materiellen Erbes im Karpatenbogen. Dieses Bäumchen soll den ideellen Anspruch heutiger Generationen auf den Fleck Erde bekräftigen, den unsere Ahnen über Jahrhunderte von einem Niemandsland jenseits der Wälder in blühende Landschaften verwandelt haben.Hoffen wir, dass diesem Beispiel Folge geleistet wird, und weitere Apfelbäumchen gepflanzt und in dem fruchtbaren Boden Siebenbürgens gedeihen werden. Möge uns der neu erwachte Glockenklang und der neue Stundenschlag der Turmuhr in eine bessere, sichere und friedvolle Zukunft begleiten.

Johann Stürner

Schlagwörter: Kirchenburgen, Geschichte, Schönberg

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