30. September 2014

Geschichte eines Jahrhunderts in Siebenbürgen

Als Anna Zakel im hohen Alter von 98 Jahren am 10. August 2014 in Deva verstarb, ist mit ihr auch ein wichtiger Teil siebenbürgischer Geschichte unwiderruflich zu Ende gegangen. In ihrem Leben spiegelt sich die ganze Tragik der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wider. So finden sich in ihrer Biografie Schlagworte wie „Deportation“, „Enteignung“, „Auswanderung“ – aber auch „Rückkehr“, denn immer wieder ist meine Großtante Anna in ihre Heimat zurückgekehrt. Diese Heimat, Abtsdorf an der Kokel, von ihr in Mundart liebevoll „Appesstref“ genannt, hat meine Großtante nur dreimal in ihrem Leben verlassen müssen. In ihrem Elternhaus am Dorfeingang von Abtsdorf, in dem sie am 26. Mai 1916 als siebtes von acht Kindern geboren wurde, sollte sie 88 Jahre ihres Lebens verbringen.
Für die aufgeweckte Anna, deren Intelligenz und Wissbegierde dem Dorflehrer früh auffielen, waren die Jugendjahre in der siebenbürgisch-sächsischen Dorfgemeinschaft die schönsten Jahre. Nach der Konfirmation trat sie der Schwesternschaft bei, wurde Mitglied im Turn- und Singverein und sang viele Jahre im Kirchenchor. Aus den Zwischenkriegsjahren, als die Dorfgemeinschaft ein letztes Mal intakt war, hatte sie viele schöne Geschichten von Tanz- und Musikabenden oder ausgelassenen Festen wie etwa dem Kronenfest zu erzählen. Wie alle jungen Frauen ihres Dorfes hätte auch Anna eines Tages eine Hochzeit nach siebenbürgisch-sächsischem Brauch feiern sollen. Dazu kam es jedoch nie, obwohl ihre Eltern zweimal eine Hochzeit vorbereitet hatten. Beide Male mussten Annas Brüder die Hochzeit tags zuvor absagen, da die starrköpfige junge Frau damit drohte, sich das Leben zu nehmen, wenn sie zur Ehe gezwungen werden würde. Von klein auf mit einem starken Willen und Entschlossenheit gesegnet, hatte sie entgegen aller Konventionen und Normen jener Zeit beschlossen, lieber allein zu bleiben als jemanden zu heiraten, den sie nicht liebte. Seit ihrer Jugend gehörte ihr Herz Ernst, dem Sohn des Dorfpfarrers, mit dem sie aufwuchs und unbeschwerte Jahre erlebte. Obwohl den beiden keine gemeinsame Zukunft vergönnt war, bewahrte Anna ihren Ernst all die Jahre in ihrem Herzen und verfolgte, wie er Stadtpfarrer in einigen siebenbürgischen Städten und später in Deutschland wurde, wo er schließlich starb.

Anna Zakel mit Anfang 20 in einem Bukarester ...
Anna Zakel mit Anfang 20 in einem Bukarester Fotostudio.
Als Anna ihr Heimatdorf im Januar 1945 zum ersten Mal verlassen musste, war sie 29 Jahre alt. Sie wurde in die heute ukrainische Stadt Karlovka deportiert, wo sie dreieinhalb Jahre in einer Holzfabrik Zwangsarbeit leistete, bis sie sich so schwer an der Hand verletzte, dass sie als „arbeitsuntauglich“ zurück nach Siebenbürgen geschickt wurde. Zu Hause fand sie ihre Eltern im Stall vor, wo sie in elenden Zuständen lebten, während im Haus eine Romafamilie wohnte – in Annas Abwesenheit hatte man das Haus und alle Grundstücke enteignet, auch die Weinberge außerhalb des Dorfes, zu denen Anna häufig mit ihrem Pferd geritten war, obwohl sich das Reiten für Frauen damals nicht schickte. Ihre lebensfrohe Art und innere Stärke halfen ihr dabei, die schweren Zeiten bis zur Rückerstattung des Familieneigentums zu überstehen. Nachdem ihre Eltern innerhalb von zwei Tagen nacheinander verstarben und alle sieben Geschwister Familien gegründet und aus dem Dorf weggezogen waren, bewirtschaftete sie das Haus, den Acker und den wunderschönen Garten mit weitem Blick auf das Kokeltal fortan allein und mit der Unverwüstlichkeit einer „echten Sächsin“. Mit ihrer offenen, kommunikativen und lustigen Art war sie bei allen sehr beliebt – ob als Nachbarin und Freundin, als jahrelange Kuratorin der Kirche oder als liebevolle Tante, bei der unzählige Neffen, Nichten und später auch deren Kinder ihre Sommerferien verbrachten. Im Dorf war sie die Schneiderin des Vertrauens, bei der man die Tracht ausbessern oder die Kleidung maßschneidern ließ, aber auch gern gesellige Stunden verbrachte. Nachdem sie Anfang der 90er Jahre allen auswanderungswilligen Nachbarn die Garderobe erneuerte, damit diese mit der Mode in Deutschland mithalten konnten, war es mit der Geselligkeit jedoch vorbei. Traurig verfolgte sie, wie sich ein Haus nach dem anderen im Dorf leerte, bis sie selbst den Entschluss fasste auszuwandern. Aus Angst, gänzlich allein in dem kleinen Dorf zurückzubleiben, verließ sie im Alter von 78 Jahren Abtsdorf zum zweiten Mal. So sehr sich meine Großtante, die der beschwerlichen Arbeit langsam müde wurde, ein einfacheres Leben in Deutschland wünschte, so schnell holte sie dort die Realität ein. Das Kapitel „Auswanderung“ endete für sie nach nur fünf Monaten, da Verwandte ihr eingeredet hatten, sie könne mit der spärlichen rumänischen Rente in Deutschland nicht auskommen. Enttäuscht von dieser Erfahrung, aber nicht gewillt, auf das Wohlwollen anderer angewiesen sein zu müssen, wählte sie die Rückkehr nach Siebenbürgen in ihr bescheidenes, aber selbstbestimmtes Leben.

Das nächste Jahrzehnt verbrachte sie mit der Bewirtschaftung von Haus und Hof, stellte Wein und Schnaps her, engagierte sich in der Kirche, arbeitete an ihrer Nähmaschine, las Bücher, hieß Sommer um Sommer die Verwandtschaft aus dem Ausland willkommen und hüpfte glücklich in ihrem Garten umher – bis sie ihre Kräfte verließen. Als das Leben allein ihr zu viel abverlangte, ging sie 2008 ein drittes Mal aus Abtsdorf fort. Ihre letzten sechs Lebensjahre verbrachte sie bei ihrer Nichte Margarete in Deva, zu der sie schon immer ein sehr gutes und enges Verhältnis hatte. Margaretes aufopferungsvoller Pflege ist es zu verdanken, dass sie ein so hohes Alter erreicht und sich am Ende ihres Lebens inmitten einer Familie behütet, umsorgt, geliebt gefühlt hat.

Man mag sich kaum vorstellen, wie viele Erinnerungen sie auf ihrem Weg in den Himmel begleitet haben mögen, als ihr fast hundertjähriges Licht erlosch. Was von unserer Annitante bleibt, sind die Spuren der Liebe, die sie in so vieler Menschen Herzen hinterlassen hat. Mir werden die strahlend blauen Augen einer bemerkenswert mutigen, starken und außergewöhnlichen Frau stets in Erinnerung bleiben.

Am 12. August 2014 ist sie wieder in ihr „Appesstref“ zurückgekehrt – diesmal für immer.

Doris-Evelyn Zakel

Schlagwörter: Nachruf, Porträt, Frauen, Siebenbürgen

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