17. August 2023

Moralisch unbeugsam, literarisch unverwechselbar: Der Schriftstellerin und Regimekritikerin Herta Müller zum 70.

Wer als Deutscher aus Rumänien kommt, kennt sie wohl, und unter den Landsleuten genießt sie auch sicherlich eine hohe Wertschätzung. Herta Müller, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009, die bei der Verleihung dieses Preises großzügig zugeneigte Worte für ihre Freunde, die ehemaligen Mitglieder der „Aktionsgruppe Banat“, fand, begeht am 17. August 2023 ihren siebzigsten Geburtstag.
„Auf Photos ist immer etwas, was mich erschreckt: ...
„Auf Photos ist immer etwas, was mich erschreckt: als ob ich’s nicht gewesen wär. Und alles, was mich umgibt, was ich nicht so genau wahrnehmen konnte, steht plötzlich so deutlich und endgültig vor mir.“ (aus einer Karte Herta Müllers vom 13. März 1988 an den Autor des Bildes, das im November 1987 auf einer Lesung in Gauting entstand). Foto: Konrad Klein
Sie wurde bekanntlich in Nitzkydorf geboren, besuchte 1968 bis 1972 das Lenau-Lyzeum in Temeswar und studierte anschließend Germanistik und Rumänistik an der Temeswarer Universität, wobei sie in dieser Zeit oder auch bereits davor Literatur zu schreiben begann und diese Schreibtätigkeit seither intensiv und sehr erfolgreich fortsetzte. Es ist weltweit bereits sehr viel zu ihrem Werk, ihrer Person und ihren vielzähligen Preisen und Ehrungen veröffentlicht worden, so dass ich dem, anlässlich ihres runden Geburtstags, nur wenige eigene Anmerkungen hinzufügen möchte.

Für mich als Sozialwissenschaftler und Schriftsteller mit einem ähnlichen Erfahrungshintergrund wie Herta Müller erscheint zunächst als das Interessanteste und Wichtigste, was sie über die Diktatur geschrieben hat. In ihrer Literatur hat sie überaus eindrucksvoll die Wesenszüge, die Deformationen wie auch die Schwächen solcher Herrschaftssysteme, wie diese nicht zuletzt im nationalkommunistischen Rumänien unter dem Ceauşescu-Regime zu erleben waren, gründlich erschlossen und erkenntnisreich verarbeitet. In einem bereits 2003 verfassten Beitrag versuchte ich zu zeigen, wie sich die in den gängigen Totalitarismustheorien festgehaltenen Merkmale totalitärer Diktaturen sehr trefflich und zugleich bedrückend in den literarischen Arbeiten Herta Müllers veranschaulicht finden. Ihre Romane und Reflexionen und insbesondere der Roman „Herztier“ (1994), auf den sich meine Analysen damals hauptsächlich bezogen, lehren uns zu sehen und zu verstehen, dass eine Diktatur nicht nur ein wohl durchdachtes und durchorganisiertes Herrschaftssystem, sondern mehr noch die Summe vieler einzelner kleiner Dinge ist, die in nahezu sämtliche Winkel des alltäglichen Lebens und Denkens der Menschen zumeist zerstörerisch hinein reichen. Die Diktatur ist auch und vielleicht vor allem ein „Zustand in den Köpfen“, wiewohl natürlich ebenso eine rigide, durch Gewalt gestützte äußere Kontrolle des Verhaltens der Menschen dazu gehört. Erst die ständige Präsenz und die willkürliche Androhung von Gewalt bewirken psychische Verletzungen und führen Dispositionen und Zustände herbei, wie sie in Diktaturen typisch sind, wobei solche Herrschaftsordnungen natürlich auch über eigene „Anreiz- und Belohnungssysteme“ verfügen, wie Herta Müller etwa am Beispiel sozialer Aufsteiger oder abgestufter Privilegien der Kreise der der ideologischen Herrschaft Zugeneigten zeigte. Schließlich ist die Diktatur auch ein Kampf gegen die Denkenden, gegen die Intellektuellen, die Intellektuelle sind und nur bleiben können, wenn sie nicht den Bestrebungen der Diktatur willig und gefügig werden und damit eine Karikatur ihrer selbst. Dies ist nicht ganz einfach und fordert nicht selten eine mutige Haltung.

In einer ihrer Gedicht-Collagen wendet sich Herta ...
In einer ihrer Gedicht-Collagen wendet sich Herta Müller an ihren Freund Oskar Pastior, der bekanntlich während der Arbeit am gemeinsamen Buchprojekt „Atemschaukel“ 2006 verstarb. Die Aufnahme entstand in der Ausstellung, die das Literaturhaus München 2010 für die ein Jahr zuvor mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Herta Müller veranstaltete. Foto: Konrad Klein
Im Sinne der Ausführungen Herta Müllers kann man synoptisch befinden: Die Diktatur erreicht dann ihren gesellschaftlichen Zielzustand – und darauf arbeitet sie wohl auch unentwegt hin –, wenn in den Köpfen aller ständig „der gleiche Film abläuft“. Das heißt, alle Denkalternativen müssen möglichst gekappt, alles Nichtgefügige muss eliminiert, alle auffälligen Abweichungen des Denkens und des Verhaltens müssen unverzüglich und konsequent unterdrückt werden. Dies geschieht nicht zuletzt durch die Schließung des Weltbildes, durch die Durchsetzung einer alleingültigen Ideologie, die sich durch Allgegenwärtigkeit unhinterfragbar macht und sich gegen jedes kritische Denken, eigentlich gegen jedes Denken überhaupt, immunisiert und abschirmt. Eine solche Ideologie ist dann erfolgreich durchgesetzt, wenn sie selbst das Denken ihrer Gegner noch an ihre Grundvorstellungen, Selbstverständlichkeiten und Leitprinzipien bindet. Das lehrt uns die Literatur Herta Müllers und dies vermittelt uns zugleich ein sensibles Wahrnehmungsinstrumentarium, mit dem die Tücken und Herausforderungen ideologischer Gefahren in jeder Gesellschaft früh zu erkennen sind.

Von ähnlicher Bedeutung und wahrscheinlich noch größerer Reichweite wie die literarischen Arbeiten zu dem Themenkreis der totalitären Diktatur ist sicherlich auch Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ (2009), der die Verleihung des Literaturnobelpreises an sie bekanntlich mitbegründete. In diesem Werk findet sich in eindrucksvoller literarischer Verarbeitung und zugleich mit außergewöhnlicher sprachlicher Sensibilität das kollektive Trauma der bürokratisch geplanten und durchorganisierten Massendeportation der Deutschen aus Rumänien und aus anderen Ländern des sowjetischen Einflussgebietes am Ende des Zweiten Weltkrieges verdichtet. Also die bedrückenden Erfahrungen der Zwangsarbeit unter einem inhumanen Lagerregime, mit strengen, gewaltgestützten Regelungen, Zwängen, Kontrollen, Demütigungen, Schikanen und Repressionen, unter oft rudimentären Unterbringungs-, Hygiene- und Lebensbedingungen, bei im Winter eisiger Kälte, häufiger Krankheit, nahezu ständigem Hunger, körperlicher Schwäche, Gebrechlichkeit und vielfach eingetretenem Tod literarisch dargestellt. Dies sollte auch und gerade in unserer Zeit eine sehr eindringliche Erinnerung und Mahnung, angesichts des brutalen Überfalls der Ukraine durch Russland und den dabei erfolgten und bekannt geworden Gräueltaten sein, sind die Orte der Deportation der Deutschen aus Rumänien doch vielfach identisch oder räumlich sehr nahe denen der heutigen Kampfhandlungen gelegen.
Herta Müller bei einer ihrer ersten Lesungen in ...
Herta Müller bei einer ihrer ersten Lesungen in Deutschland in der Gautinger Buchhandlung L. Kirchheim, wo sie ihr Buch „Barfüßiger Februar“ vorstellte (1987), rechts die Buchhändlerin Luitgard Kirchheim. 14 Jahre später trafen hier Hans Bergel und Eginald Schlattner zusammen, der aus seinem Roman „Rote Handschuhe“ las. Foto: Konrad Klein
Zum Schluss möchte ich einen anderen Punkt doch nicht ganz unerwähnt lassen. Leider ist es so, dass das durch die kommunistische Diktatur und die Securitate auch und gerade unter den Deutschen in Rumänien hinterhältig verbreitete Gift der Bespitzelungen, Intrigen, Verleumdungen usw. wegen der moralischen Skrupellosigkeit oder vielleicht auch nur der unbelehrbaren Dummheit, Blindheit oder Befangenheit einiger in die Irre geleiteter Helfer und Helfershelfer der Securitate zerstörerisch, verletzend und schmerzhaft weiter wirkt. Ich weiß, Herta Müller leidet immer noch unter diesen anhaltenden, boshaften und irrationalen Verleumdungen einer kleinen unbelehrbaren Minderheit aus dem Kreis ihrer Landsleute. Sie hat gewiss anderes verdient. Nicht nur angesichts ihres runden Geburtstags möchte ich ihr daher auch im Namen unzähliger Landsleute versichern, dass wir ihr für ihre einmalig eindringliche Literatur sehr dankbar sind, dass wir ihre unverwechselbare Schreibweise und ihre unbeugsame moralische Haltung, selbst wenn wir in Detailfragen auch andere weltanschauliche Standpunkte und Ansichten vertreten mögen, schätzen und dass wir natürlich auch stolz auf sie sind.

Anton Sterbling

Schlagwörter: Kultur, Literatur, Nobelpreis, Banat, Temeswar, Diktatur

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