29. Juni 2021

Lern- und Erinnerungsort in Berlin: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung von Bundeskanzlerin Merkel eröffnet

Berlin - Seit dem 23. Juni ist das neue Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Deutschlandhaus in Berlin für das Publikum geöffnet. Das Haus soll als Lern- und Erinnerungsort über Zwangsmigrationen in Geschichte und Gegenwart informieren und aufklären. Einen Themenschwerpunkt bildet dabei die Flucht und Vertreibung von rund 14 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat in Ost- und Südosteuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Das Dokumentationszentrum der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wurde am 21. Juni von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kulturstaatsministerin Monika Grütters feierlich eröffnet. An dem Festakt nahmen pandemiebedingt nur wenige Gäste vor Ort teil, darunter Altbundespräsident Joachim Gauck, Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble, Kulturstaatsministerin Monika Grütters, der frühere Kulturstaatsminister Bernd Neumann sowie der Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), Dr. Bernd Fabritius.
Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, ...
Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung schließt „eine Lücke in unserer Geschichtsaufarbeitung“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Eröffnung. Dem Festakt wohnten prominente Ehrengäste bei, von links: Kulturstaatsministerin Monika Grütters, Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble, Altbundespräsident Joachim Gauck, Direktorin des Dokumentationszentrums Gundula Bavendamm und Präsident des BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius. Foto: © BKM / Köhler

Merkel: Lebendige Erinnerungspolitik bleibt gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Die per Video zur Feierstunde live zugeschaltete Bundeskanzlerin sagte in ihrer Rede, das Zentrum schließe „eine Lücke in unserer Geschichtsaufarbeitung“. Merkel erinnerte an die vorangegangenen jahrelangen, teils erbittert geführten Debatten „in Deutschland, aber auch mit unseren Partnern in Europa“. Insbesondere in Polen war befürchtet worden, dass sich die Deutschen selbst zu Opfern machen und von ihrer Schuld in der Zeit des Nationalsozialismus ablenken könnten. Umso mehr freue sie das Kommen der Botschafter Polens, Tschechiens und Ungarns. „Die Diskussionen um diesen Ort waren wahrlich nicht immer einfach. Doch sie waren wichtig“, betonte die CDU-Politikerin und führte weiter aus: „Denn nur so konnte in einem offenen und dialogorientierten Geist dieser besondere Ort inmitten Berlins entstehen. Als ein Ort des Lernens und der Erinnerung, mit einer Dauerausstellung und Bibliothek, mit einem Zeitzeugen-Archiv und einem Raum der Stille.“

„Um eine gute Zukunft gestalten zu können, müssen wir die Erinnerung an vergangenes Leid wachhalten“, unterstrich Merkel und wies in diesem Zusammenhang auf die deutsche Schuld hin: „Wir haben einen würdigen Ort der Erinnerung an Flucht und Vertreibung gewonnen, der stets bewusst macht: Ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebrachten Terror, ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Zivilisationsbruch der Schoah und ohne den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg wäre es nicht dazu gekommen, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs und danach Millionen Deutsche Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung erleiden mussten.“ Die Vertreibungsgeschichte der Deutschen müsse daher in ihrem historischen Kontext von Ursache und Folgen eingebettet sein und dürfe nicht isoliert dargestellt werden. Merkel erinnerte in ihrer Ansprache auch an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und die Millionen Opfer.

Die Themen Flucht und Vertreibung bleiben Merkel zufolge „so aktuell wie eh und je“. Gegenwärtig seien „weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor“. Es bleibe „eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, eine lebendige Erinnerungspolitik – auch und gerade für junge Menschen – zu pflegen, die nicht mehr das Privileg haben werden, mit Zeitzeugen zu sprechen.“

Kulturstaatsministerin Monika Grütters hob in ihrer Rede hervor, dass sich Deutschland mit der Eröffnung der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung „einer lange zu wenig wahrgenommenen historischen Wahrheit“ stelle: „nämlich dem unermesslichen und millionenfachen Leid in Folge von Flucht und Vertreibung im und nach dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg“. Sie sei dankbar, dass mit dem Eröffnungstag endlich jenes sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung gesetzt werden konnte, das bereits vor 16 Jahren im Koalitionsvertrag 2005 beschlossen wurde. Die Staatsministerin für Kultur und Medien dankte auch der Direktorin der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Gundula Bavendamm, und dem beteiligten international besetzten Wissenschaftlichen Beraterkreis. Das 75 Millionen Euro teure Dokumentationszentrum sei aufgrund der verschiedenen Perspektiven viel mehr als Vergangenheitsbewältigung; es verweise im Geiste der Versöhnung in die Zukunft eines geeinten Europas, so Grütters.

In der Feierstunde sprach zudem die aus dem Sudentenland geflohene, 92-jährige Christine Rösch als Vertreterin der Zeitzeugen-Generation: „Wir haben in Bayern eine neue Heimat gefunden. Meine alte Heimat aber habe ich nie vergessen. Da es mir wichtig erschien, dass Menschen, die die Vertreibung erlebt hatten, darüber berichten sollten, sammelte ich die Zeitzeugenberichte, damit nie vergessen wird, welches Leid den Menschen bei Flucht und durch Vertreibung angetan wurde und leider immer noch angetan wird." Rösch, die im Alter von 16 Jahren aus Nordmähren vertrieben worden war, hat Volkstänze ihrer alten Heimat gesammelt und Gespräche geführt mit Angehörigen der Erlebnisgeneration, die ähnliches Leid erfahren haben.

Im Anschluss an die Eröffnung führte die Direktorin des Dokumentationszentrums Gundula Bavendamm die Gäste des Festaktes durch die Ausstellung.

BdV-Präsident Bernd Fabritius betonte in einer Pressemitteilung zur Eröffnung, das Dokumentationszentrum sei „der wichtigste der bislang fehlenden Bausteine in der Erinnerungs- und Gedenkstättenlandschaft der Hauptstadt“ und ein weiterer Schritt, die dort dargestellten „Schicksale aus dem Erinnerungsschatten zu holen“. Der BdV werde mit seinen sechs Stiftungsratsmitgliedern auch weiterhin seine Überzeugungen konstruktiv in die Stiftungsarbeit einbringen, „die in vielen Bereichen erst jetzt richtig beginnen wird“. Durch die Einbettung in den historischen Kontext sowie in andere Flucht- und Vertreibungsgeschehen biete sich für jeden Besucher die Chance zu erkennen, „wie groß die Gefahren immer wieder zu beobachtender Kreisläufe von Rache und Gewalt gerade im Fall von Vertreibungen und ethnischen Säuberungen sind“. Als Schlussfolgerung daraus halte der BdV am Menschenrecht auf die Heimat sowie an der Einführung eines internationalen Vertreibungsverbotes fest.

Ausstellung macht millionenfache Fluchterfahrung greifbar

Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Internet: https://www.flucht-vertreibung-versoehnung.de/de/home) hat am 23. Juni seine Türen für das Publikum geöffnet. Der Eintritt ist frei. Besucher der Ausstellung, der Bibliothek und des Zeitzeugenarchivs benötigen ein Zeitfensterticket, das für einen Zeitraum von zwei Stunden gilt und kostenfrei buchbar ist.
Kleiner Leiterwagen als Fluchtrelikt in der ...
Kleiner Leiterwagen als Fluchtrelikt in der Dauerausstellung. Bildquelle: Marc-P. Halatsch/BdV
In der Ständigen Ausstellung sind auf etwa 1 300 Quadratmetern Ausstellungsfläche über zwei Geschosse insgesamt rund 700 Exponate zu sehen, wie den Presseunterlagen zu entnehmen ist, die anlässlich der Eröffnung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung bereitgestellt wurden. Die meisten Originale stammen aus der Sammlung des Dokumentationszentrums. Hinzu kommen 45 auch internationale Leihgaben. 140 Karten unterstützen die geographische Orientierung und 250 Fotos machen ein komplexes Thema anschaulich. 65 teils interaktive Medienstationen stehen zur Verfügung. Besonders hervorzuheben sind neun animierte Erklärfilme in einfacher Sprache an markanten Punkten des Rundgangs. Die Ausstellung schildert eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen vom 20. Jahrhundert bis in unsere Zeit. Im Mittelpunkt stehen Flucht und Vertreibung von rund 14 Millionen Deutschen im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Politik.

Im ersten Obergeschoss tauchen Besucherinnen und Besucher in eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen ein. Sechs Themeninseln dienen als Einführung und Überblick. Anhand zahlreicher Beispiele aus dem 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart geht es in diesem Teil um die Ursachen, Phänomene und Folgen von Zwangsmigrationen vor allem in Europa. Die Deutschen begegnen dem Publikum als Verursacher und Betroffene von Vertreibungen. Filme, Bilder und Objekte machen die Erfahrungen von Flüchtlingen und Vertriebenen unmittelbar anschaulich. Der Pass einer deutschen Jüdin mit einem aufgestempelten „J“, das Tagebuch eines jungen Mädchens aus Ostpreußen über erlittene sexuelle Gewalt, das Foto eines Theaters in Athen, das als Flüchtlingslager dient, oder das Smartphone eines syrischen Flüchtlings – die Exponate zu universellen Fragen.

Im zweiten Obergeschoss geht es vertiefend um Flucht und Vertreibung der Deutschen. Ein chronologischer Rundgang führt das Publikum durch drei aufeinander folgende Bereiche. Projektionen an den Wänden lassen einzelne Personen, Paare oder Familien hervortreten und schaffen eine besondere Atmosphäre.
Kapellenwagen. Foto: Marc-P. Halatsch/BdV ...
Kapellenwagen. Foto: Marc-P. Halatsch/BdV
Zu Beginn werden die nationalsozialistische Politik, der Zweite Weltkrieg, die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa und die Ermordung der europäischen Juden thematisiert. Eine wandfüllende Installation dokumentiert die Planungen der Alliierten für die Vertreibung der Deutschen während des Krieges bis hin zu den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz. Anhand von oftmals persönlichen Zeugnissen geht es im Anschluss um Evakuierungen und die massenhafte Flucht der Deutschen vor der Roten Armee.

Im zweiten Abschnitt stehen Vertreibungen als ein Mittel zur Neuordnung Europas durch die Siegermächte und die ostmitteleuropäischen Staaten im Fokus. Rund 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und den südosteuropäischen Siedlungsgebieten sind davon betroffen, aber auch Millionen Menschen aus Polen, der Ukraine oder Weißrussland. Anhand vieler Exponate aus der Sammlung des Dokumentationszentrums und von Leihgebern aus dem In- und Ausland werden persönliche Erfahrungen und Schicksale lebendig.

Der dritte Abschnitt dreht sich um die Ankunft und Verteilung von 12,5 Millionen Menschen, die infolge von Flucht und Vertreibung in die Besatzungszonen in Deutschland gelangten. Mit zahlreichen Originalen, Dokumenten und Medienstationen wird die allmähliche und nicht immer einfache Integration der Vertriebenen in die Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR geschildert. Ein Akzent liegt dabei auf der Erinnerungskultur. Eine imposante Vitrine präsentiert 251 Objekte einer ehemaligen sudetendeutschen Heimatstube aus Gärtringen bei Stuttgart.
Blick in die Ausstellung. Foto: Marc-P. ...
Blick in die Ausstellung. Foto: Marc-P. Halatsch/BdV
Die Ständige Ausstellung schließt mit einem europäischen Epilog. Meilensteine einer neuen Staatenordnung seit Ende des Kalten Krieges, die Verständigung Deutschlands mit seinen europäischen Nachbarn und die Wiederkehr von Flucht, Vertreibung und ethnischen Säuberungen durch die Jugoslawienkriege in Europa klingen hier an. Auch die Gründungsgeschichte der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird aufgegriffen.

Ein wesentliches Anliegen der Präsentation ist, die millionenfache Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust greifbar zu machen. Daher verweisen viele Ausstellungsstücke auf individuelle Erfahrungen und persönliche Schicksale. 54 Biographien zeichnen knappe Lebensbilder vor allem von Flüchtlingen und Vertriebenen. Einige davon stellen auch Personen vor, die Vertreibungen und ethnische Säuberungen planten oder ausführten.

Die Präsentation versteht sich als Diskussionsbeitrag in Ausstellungsform. Die Ausstellung richtet sich an ein breites Publikum ohne besondere Vorkenntnisse. Alle Texte sind auf Deutsch und Englisch zu lesen. Der Audioguide ist auf Deutsch, in Einfacher Sprache, Englisch, Polnisch, Tschechisch, Russisch und Arabisch verfügbar. Mitten im ersten Teil der Ständigen Ausstellung im ersten Obergeschoss befinden sich das Forum und die Werkstatt. Im Forum haben Interessierte die Möglichkeit, sich selbst zu beteiligen. Sie können Notizen zu Exponaten aus der Ständigen Ausstellung hinterlassen. An einer Medienstation kann man die eigene Fluchtroute oder den Vertreibungsweg von Verwandten eingeben. Außerdem stehen wechselnde Fragen zur Abstimmung, die sich auf Zwangsmigrationen in Geschichte und Gegenwart beziehen. Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung mit seiner Ständigen Ausstellung ist barrierefrei und inklusiv. Alle öffentlichen Bereiche sind mit dem Rollstuhl zugänglich. Ein taktiles Bodenleitsystem dient der eigenständigen Orientierung auch für blinde und seheingeschränkte Menschen.

Öffnungszeiten: Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstraße 90, in Berlin kann Dienstag bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr besucht werden. Bibliothek und Zeitzeugenarchiv sind von Montag bis Freitag von 10 bis 19 Uhr geöffnet. Öffentlicher Nahverkehr: Die Haltestelle Anhalter Bahnhof befindet sich wenige Meter entfernt vom Haupteingang zum Dokumentationszentrum an der Stresemannstraße; S-Bahn: Anhalter Bahnhof S1, S2, S25, S26; Bus: Haltestelle S Anhalter Bahnhof M29, M41.

Christian Schoger


Schlagwörter: Flucht und Vertreibung, Dokumentation, Zentrum, Berlin, Stiftung, Bundesregierung, Merkel, BKM, Grütters, BdV, Bernd Fabritius, Gauck, Schäuble, Bavendamm

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