10. April 2015

Siebenbürgen- Krivoi Rog- Sibirien- Gefängnis bei Ploiești und Leschkirch!

Gerda Emilie Edling, verheiratete Schuster, Jahrgang 1929, erzählt über die Deportation. Sie kommt aus Leschkirch und lebt zurzeit in Nürnberg. Die zierliche, etwas untersetzte Frau lernte ich erst in diesem Jahr kennen. Schüchtern, aber hellwach erzählt sie mir von der Verschleppung nach Russland. Im Herbst 1944 waren die Russen schon im Dorf, es herrschte überall große Angst vor ihnen.
Den ersten Kontakt mit zwei Russen hatten wir beim herbstlichen Säen des Weizens. Der Großvater war alt und schwach, ich war erst 15 Jahre alt und beide quälten wir uns mit dem Ackern. Zwei Russen gingen vorbei und als sie sahen, dass wir uns plagten, blieben sie stehen, einer schüttelte den Kopf und beide kamen uns zu Hilfe. Das hätten wir nicht gedacht. Mein Vater war im Krieg und Mutter hatte daheim mit den acht Kindern genug zu tun.

Die Herbst- und Weihnachtszeit war nicht mehr wie sonst. Alles stand unter Spannung. Am 6. Januar 1945 erblickten meine Zwillingsbrüder das Licht der Welt, leider waren sie nicht sehr vital. Für Mutter begann eine sorgenvolle Zeit: Zehn Kinder zu ernähren, und vom Vater keine Nachricht. Ich als Älteste war ihre Stütze.

Es war ein Samstag, der 27. Januar 1945, alle Kinder sollten gebadet werden. Ich musste viel Wasser vom Brunnen bringen. Der Zuber stand mitten in der Stube, auf dem Herd Töpfe mit heißem Wasser. Das Baden dauerte eine gute Weile. Als alle gebadet hatten, legten wir uns schlafen und im ersten Schlaf fing ein Geschrei und Gepolter an, ein starkes Klopfen ans Tor und ans Fenster: „Aufmachen, aufmachen!“, schrien die. Es waren zwei bewaffnete Russen, der rumänische Gemeindediener Banea Ioane und der Sohn des Bürgermeisters Teașcu Traian, beide mit dicken Knüppeln. Die Kinder erwachten und weinten angsterfüllt. Welch ein Schreck! ,,Wir sind gekommen deine Tochter Gerda abzuholen", schrie der eine. Die Russen blickten mitleidig drein als sie die vielen Kinder sahen. Mutter: ,,Oh, mein Gott, das könnt ihr nicht machen, sie ist ja kaum 15 Jahre alt." Sie wehrte sich dagegen, aber all ihr Bitten und Flehen half nichts. Die Rumänen verhielten sich dreist und erbarmungslos. Mutter packte weinend meinen Rucksack. Den Anblick beim Abschied der weinenden Geschwister und meiner betenden Mutter kann ich nie vergessen. Ich selbst war verzweifelt. An der Sammelstelle waren noch Leschkircher, das gab mir ein klein wenig Trost.

Von Freck ging es in die kalten, schmutzigen Viehwaggons mit Frieren, Hungern, Trauer und Ungeziefer nach Russland, Krivoi Rog, Region Djnepropetrovsk. Ein langer schwerer Fußmarsch führte uns unter Bewachung bis in unser Lager 14 04 Frunse. Dort erwarteten uns kalte, schmutzige Räume, leere stockhohe, feuchte, Holzpritschen, kaputte Fenster. Wir haben nur noch gefroren. Erst nach Tagen bei der Entlausung wurden wir im Bad warm.

Gerda Schuster am 5. März im Haus der Heimat in ...
Gerda Schuster am 5. März im Haus der Heimat in Nürnberg. Foto: Horst Göbbel
Noch ein kleiner Trost, ich war mit 15 Sächsinnen zusammen, die mich oft mütterlich umsorgt haben. Mutters Bruder war auch da. Ich konnte die stinkenden Fischsuppen nicht essen und erst das klebrige Brot schon gar nicht, ich gab es meinem Onkel und der hatte noch ein wenig Speck von daheim, von dem ich dann täglich ein kleines Scheibchen bekam. Onkel Rudi war für mich wie ein guter Vater. Ich schulde ihm tausend Dank! Wir erledigten Arbeiten in einer Gärtnerei, mit der Schubkarre konnten wir zu dritt kaum den Schutt wegschleppen, der Hunger und die Kälte hatten uns schnell geschwächt. Danach kamen wir in ein anderes noch schlechteres Lager es hieß: Grüne Stadt Nummer 4 bei Krivoi Rog, wir nannten es Krepierlager, weil diese Menschen dort schon so ausgezehrt waren, dass sie dort starben. Ich half dort beim Aufbau des Großen Kockschemiewerkes bei Krivoi Rog. Es waren die Hungerjahre 1946-1947. Ich kann nur sagen: Jeder Tag im Lager war ein Überlebenskampf. Es war kein Wunder, dass viele Sachsen hier gestorben sind, so auch mein Landsmann Johann Schuster und viele andere. Unser Lagerleiter war ein Banater mit dem Namen Weißenberger, ein sehr unmenschlicher Typ. Für das kleinste Vergehen wurden wir hart bestraft: Karzer, Schläge, Essensentzug. Für ein paar Maiskolben, die ich vom Feld geklaut hatte, wurde ich mit der Lagerkommandantin und zwei bewaffneten Soldaten nach Dnjepropetrofsk eskortiert und im Schnellverfahren verurteilt. Ich kam in ein russisches Straffrauenlager – die auch Feldfrüchte geklaut hatten, bekamen vier bis sechs Jahre Haft im Lager in Sibirien. Es war vor Weihnachten, ich fuhr nun ohne Bekannte, kauerte in der Ecke des Waggons und weinte bitterlich, ich fühlte mich unendlich verlassen und das Heimweh tat das Übrige. Ich sehnte mich nach den Meinigen. Im Lager angekommen, war ich halb erfroren, krank und schwach. Zum Glück kam ich in ein Lagerkrankenhaus wo mich die Ärztin und die Schwestern einen Monat gut behandelten und sehr nett mit mir waren. So konnte ich mich gut erholen. Ich half noch zwei Monate beim Brot verteilen und dann ging es wieder an die Arbeit in ein Sägewerk als Häftling. Sibirien hat eisige Winter und heiße Sommer voller Moskitos. Als im Sommer die Sägewerke gewartet wurden, mussten wir bei der Flößerei auf der Petschora dafür sorgen, dass beim Flößen die Stämme ordnungsgemäß abgestoßen werden. Manchmal kam es mir wie im Urlaub vor, wären nur diese Moskitos nicht gewesen. Dort verbrachte ich drei Sommer und zwei Winter.

Eines Tages rief eine Mitgefangene: ,,Gerdotchka, heute gehst du heim!“ Ich konnte es nicht glauben! Das war 1950. Ich hoffte, Weihnachten daheim zu sein! Zunächst ging es ins Sammellager bei Moskau, täglich kamen Landsleute dazu, dann nach Odessa, dort stiegen rumänische Kriegsgefangene hinzu. Endlich auf rumänischem Boden: ,,Aussteigen", hieß es in scharfem Ton und vorwärts marsch zu Fuß - alles unter strengster Bewachung, geblendet von Scheinwerfern! Soldaten mit Wachhunden umstanden uns, wir kamen uns wie Schwerstverbrecher vor. Wir wurden getrennt in Räume eingesperrt, für die Notdurft standen Kübel auf dem Gang, die morgens überquollen, saubermachen mussten wir selber. Endlich wurde eine Grube ausgehoben und dann durften wir unsere Notdurft nur unter Aufsicht verrichten. Mit den Männern durften wir nicht sprechen, die Fenster wurden mit Kalk überstrichen, damit wir nicht hinausgucken konnten. Wir hatten keine Ahnung, wo und weshalb wir dort waren, nur am Palukes und den geriebenen Bohnen haben wir gemerkt, dass wir in Rumänien sind. Letztlich erfuhren wir, dass wir in einem politischen Gefängnis unschuldig unter Verbrechern waren. Drei Monate wurden wir schlimmer als in Russland behandelt. Endlich, am 21. Februar 1951, wurden die Frauen und später auch die Männer entlassen. Nun stand ich mit Meta Eckart verlassen am Bahnhof in Tîrgușorul Nou nach sechs grauenvollen Jahren der Unfreiheit und Abgeschiedenheit da! Wir wussten nicht einmal, in welche Richtung wir fahren sollten. Ein Bahnbeamter erklärte uns, wir müssten über Ploiești nach Schäßburg, dann über Agnetheln nach Leschkirch. Die Reisenden haben uns angestarrt als hätten sie noch nie solche Gestalten in dieser Kleidung – Wattejacke und Hosen, dazu die schweren Schuhe und die Ohrenmützen – gesehen! Und dann, endlich das Wiedersehen mit den Geschwistern und der tapferen Mutter! So viele Freudentränen, aber ein kleines, feuchtes Häuschen war unser neues Zuhause. Wir haben alles überlebt.

Sie sitzt im Haus der Heimat neben mir, es gibt einen Vortrag über die Deportation. Ich merke, ihre Hände zittern, ab und zu wischt sie Tränen aus den Augen- und dann ist sie sogar bereit, Fragen zu beantworten, diese kleine tapfere Frau.

Aufgezeichnet von Margarete Schuster

Schlagwörter: Zeitzeugin, Deportation, Geschichte

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