12. Januar 2003

Georg Aescht: Literatur als Mittel gegen die Ratlosigkeit vor der Zeitgeschichte

Im Rahmen der Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage 2002 bot die Vortragsreihe „Umbruchzeiten – Aufbruchzeiten“ im Festsaal auf Schloss Horneck vier hochkarätige Vorträge. Prof. Dr. Paul Niedermaier aus Hermannstadt referierte zum Thema „Von der Ansiedlung zur Städtelandschaft Siebenbürgen“, Prof. Dr. mult. Harald Zimmermann über „Die Siebenbürger Sachsen – Ein Rechtsproblem“, Dr. Ute Anneli Gabanyi über „Die Siebenbürger Sachsen nach 1989“ und Georg Aescht über „Literatur als Mittel gegen die Ratlosigkeit vor der Zeitgeschichte“. Dieser Vortrag wird im Folgenden wiedergegeben.
"Wie in aller Welt kommt man zu einem solchen Allerweltsthema? Schließlich ist es ja Anliegen jeglicher Literatur, der Zeit und der Geschichte nicht nur nachzuspüren und auf die Schliche zu kommen, sondern sie für das schreibende und für das lesende Subjekt auch durch Gestaltung verstehbar und erträglich zu machen. Die Betrachtung einer Randliteratur wie der siebenbürgischen, banaterischen, schließlich rumäniendeutschen und deutschen Literatur aus Rumänien bietet jedoch gerade zu dieser Frage Bedenkenswertes, das hier nur angedeutet werden kann. Dass jeder unmittelbar Angesprochene das als vermessen empfinden mag, ist verständlich und sein gutes Recht.

Das 20. Jahrhundert mit seinen zahlreichen Einstürzen und Umbrüchen trifft eine zu großen Teilen in archaischen Strukturen verharrende Gemeinschaft wie die der Siebenbürger Sachsen und die der Banater Schwaben ins Mark. Ihre intellektuellen Eliten suchen in volkspädagogischer Tradition – oft krampfhaft – nach Rat und versuchen Zuspruch zu formulieren, um der verunsicherten Gemeinschaft wieder eine moralische und geistige Orientierung zu geben. Ein erzieherischer Impetus zieht sich als Grundton durch die Werke deutscher Dichter im Karpatenbogen und an der unteren Donau, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg klingt er langsam ab oder schlägt gar um ins ästhetisch reizvolle Eingeständnis eigener Ratlosigkeit. Souveräne Gestaltung zeitgeschichtlicher Thematik hat hier Seltenheitswert.

Elite: Lebensweisheit – Naivität?


Eigentlich gestoßen, sozusagen gestoßen worden bin ich auf das Thema bei der Lektüre eines Buches, das mir Bewunderung abverlangt, zugleich aber Verwunderung verursacht hat. Man wusste von seiner Existenz, lange schon wartete man auf die literarische Darstellung des siebenbürgisch-banaterischen Traumas der Deportation zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion aus der Feder des – wie nicht nur ich meine – bedeutendsten deutschen Erzählers aus jenen Gefilden: Erwin Wittstock. 1998 endlich wurde sein Roman „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“ nach jahrzehntelangen Peripetien des Manuskripts von den Erben des Schriftstellers herausgegeben. Der Sohn und Schriftsteller Joachim Wittstock hat dazu ein Nachwort geschrieben, in dem er die Peripetien skizziert.
Frei gesprochen, frei geurteilt: Georg Aescht. Foto: Hans-Werner Schuster
Frei gesprochen, frei geurteilt: Georg Aescht. Foto: Hans-Werner Schuster


Was daraus erhellt, hat mich gewundert, um nicht zu sagen erschreckt. Erwin Wittstock war einerseits ein erzählerisches Urtalent. Davon zeugt sein in großen Teilen bekanntes Lebenswerk. Zudem ist Wittstock der Autor gültiger literarischer Diagnosen der siebenbürgischen Endzeit. Ich erinnere an seine schicksalsschweren, kompromisslos „finalen“ Novellen wie „Der Viehmarkt von Wängertsthuel“ oder „Die Verfolgung“, an den Nachlassroman „Das Jüngste Gericht in Altbirk“, wo jeweils die Agonie dieser Lebens- und Kulturgemeinschaft aufs finsterste aufscheint. Und just dieser lebens- und literaturweise Mann hat inmitten stalinistischer Verheerungen und Versehrungen allen Ernstes geglaubt, einen Roman über die Sowjetdeportation veröffentlichen zu können.

Das allein allerdings wäre lediglich naiv. Was schwerer wiegt, ist die Mutmaßung, dass er sich in der Gestaltung Zwänge auferlegt hat, damit eine Veröffentlichung überhaupt in Frage kommt, dass er dem Geschehen einen historisch-moralischen „Sinn“ abzuringen versucht hat, wie er schon im Titel formuliert ist und wie ihn zumindest keine und keiner der Deportierten finden oder auch nur nachvollziehen kann. Schicksalsschweren Schrittes kommen seine Worte einher: „Machen wir uns bereit, die uns aufgebürdete Last nicht als sinnlose Schmach zu empfinden. Machen wir uns bereit, in ihr ein Opfer zu sehen, das zum Wesen unseres Schicksals gehört. Wo immer wir leben, gilt auch der letzte Tag und Atem der Heimat. Die unzähligen Gräber der Fremde ersetzen den Sinn vergilbter Urkunden und strahlen einen neuen Geist aus. Der Tag wird kommen, an dem wir auf die Schwelle des Leidens hinweisen und sagen dürfen: Über diese Schwelle sind wir gegangen und haben ohne Murren getan, was man uns gebot.“

Das schreibt er 1954 den Landsleuten ins Stammbuch in der Hoffnung, dass dieses Buch auch zu lesen sein wird, denn: „Es ist mir in meinem Alter unmöglich, bei jeder Arbeit ins graue Nichts hineinzuschreiben oder ins große Fragezeichen.“ Der gestalterische Anspruch an sich selbst geht einher mit einem moralischen Anspruch, den er den Lesern entgegenhält, den aber ein jeder als Zumutung empfinden muss, der die Deportation und die anderen stalinistischen Maßregeln erlebt hat. „Für die Heimat in redlichem Beisammenstehen jedes Opfer zu bringen, wer immer uns beherrscht, ist der einzige Weg, dem strengsten Beherrscher Vertrauen abzugewinnen. Dies ist die höhere Pflicht“.

Die Ratlosigkeit vor der Zeitgeschichte wird transzendiert zum moralischen Imperativ, die Unmenschlichkeit einer verbrecherischen Macht wird verbrämt mit der ethisch getönten euphemistischen Floskel vom „strengsten Beherrscher“. Wie kommt es zu dieser monumentalen Fehlleistung, zu diesem grandiosen Scheitern in aller epischen Breite bei dem Projekt, furchtbares Geschehen in eine kunstvolle und sinnvolle, sinngebende Form zu gießen? War Erwin Wittstock seinem Thema nicht gewachsen?

Ein Gesamtblick auf die rumäniendeutsche Literatur der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in und aus Rumänien legt einen allgemeineren Schluss nahe. Er ist nicht als literarisches Urteil oder gar als Verurteilung zu verstehen, sondern als Versuch, Erklärungen zu finden auch für die immer noch und wahrscheinlich für immer prekäre Präsenz vor allem der schriftstellernden Vertreter der Vorkriegsgeneration in der deutschen Öffentlichkeit. Alle beklagen die westliche Ignoranz, zuvörderst diese Autoren selbst. Wieso ist mit Ausnahme Eginald Schlattners noch keinem dieser Autoren ein richtiger Erfolg gelungen, wenngleich sie viel und soviel Interessantes, Unbekanntes, Exotisches und Dramatisches zu erzählen haben? Ich erlaube mir die Frage, die ich schon zu Wittstock habe anklingen lassen: Liegt es vielleicht daran, dass sie aus einer kleinen Gemeinschaft kommen, in der praktisch jeder jeden kennt, in der man „voneinander weiß“, und dass sie deshalb auch beim Schreiben nicht von all diesen Jedermanns absehen, wegsehen können? Eines ist genugsam bekannt: Alles Schreiben mit national- und sozialpolitischem Hinter-Gedanken, mit Blick auf Instanzen irgendwelcher Art, und sei es auch nur die Familie und der enge Bekanntenkreis, funktioniert nicht als Literatur. Ob zuviel verschwiegen oder, die Kehrseite derselben Medaille, zuviel gemeint wird, der Text nimmt allemal Schaden.

Fiktion: Wirklichkeit – Literatur?


Ein literarischer Kasus, der weit über die kleine Literatur hinausreicht, hat die siebenbürgisch-sächsische Völkchensfamilie in den letzten Jahren aufgestört, verstört, in Atem gehalten. Es ist der Fall der fünf siebenbürgisch-deutschen Schriftsteller, die 1959 von einem rumänischen Militärgericht wegen verräterischer Umtriebe zu insgesamt mehr als 90 Jahren Kerker verurteilt werden, wobei ein kulturbewegter Student von der Securitate als Kronzeuge vorgeführt wird. Bei allen, die aus Rumänien kommen oder in irgendeiner Weise damit befasst sind, rufen gewiss schon die Namen verschiedenste Assoziationen wach. Wem es aber um Wahrheit zu tun ist, wird sich eingestehen: Es sind mitnichten Assoziationen literarischer Natur – obwohl es sich um Schriftsteller handelt. Es sind vielmehr historische, politische und personenbezogene Gedanken, die aufkommen, wohl bei manchen auch eigene Lebens- und Leidenserinnerungen, Gefühlsregungen von der Nostalgie bis zu schärfsten Ressentiments. Man hat mehr davon lesen und hören müssen, als einem lieb sein kann. In der Tat tun sich existentielle Abgründe auf, in die niemand schwindelfrei hineinzublicken vermag, am wenigsten die unmittelbar Beteiligten.

Fünf Männer, die sich nur flüchtig oder vom Hörensagen kennen – und warum diese, ist unerfindlich –, werden vom kommunistischen Geheimdienst zu einer Gruppe von subversiven Widerständlern „gebündelt“ und vor Gericht gezerrt, wobei die Anklage auf erzwungenen Aussagen eines sechsten und auf Interpretationen ihrer Texte gründet, zu denen dieser den Schlüssel geliefert haben soll. Dabei ist die geheimdienstliche „Exegese“ dermaßen läppisch, dass man daraus nur schließen kann, dass dieser sechste lediglich als Staffage gebraucht wurde und zugleich Zwist und Hader gesät werden sollten – die ja auch aufgegangen sind.

Dieser Prozess reiht sich in eine ganze Serie, die in den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas nach den Vorfällen in der DDR 1953 und in Ungarn 1956 Totenstille wiederherstellen sollten. Die paranoide Irrationalität der Vorgänge erreicht in Rumänien einen Höhepunkt. Dazu vermerkt Michael Kroner: „Betrachtet man die politischen Prozesse im kommunistischen Rumänien, stellt man fest, dass von den angeklagten und verurteilten Deutschen kaum jemand eine eindeutig regimefeindliche Handlung begangen hat.“ Und Peter Motzan skizziert die Inszenierung des Schriftstellerprozesses so, dass er fast als literarisches Fiktionsprodukt erscheint: „Die Prozesskonstruktion stützte sich auf Wirklichkeitssegmente, modelte diese zweckdienlich um, reicherte sie durch Übertreibungen, Unterstellungen, Erfindungen an.“

Die abstrusen Manipulationen, mit denen Menschen an den Rand ihrer Existenz gebracht wurden, sind auch später weder zu rumäniendeutscher Folklore geronnen noch zu literarischen Produktionen, die im Westen Aufsehen erregt hätten. Es zeigt sich vielmehr auch hier, was bei Erwin Wittstock zu beobachten war: kollektive und individuelle Ratlosigkeit und Verängstigung vor einer Macht, von der man weder die Strukturen noch die Absichten kennt. Georg Scherg erzählt zur Vorgeschichte von einem eher privaten Treffen deutscher Schriftsteller in Hermannstadt 1956: „Vermutlich wusste noch keiner von uns, wer oder was die Securitate war. Sie muss aber schon damals von unserem Treffen unterrichtet gewesen sein.“ Die psychologische Dimension der Ohnmacht formuliert Horst Peter Depner, kein Schriftsteller, sondern Angeklagter eines Parallelverfahrens, bekannt als Schwarze-Kirche-Prozess, mit pointierter Klarheit, indem er die Haltung der Angeklagten nach dem Urteilsspruch in gebotener Diskretion, jedoch scharf umreißt: „Jedenfalls sollten wir über unsere ‚letzten‘ Worte lieber den Mantel des Vergessens breiten. Es erfüllte keiner, was er von sich erwartet hatte.“

Nachgerade erschütternd und verblüffend, wenngleich für jeden, der in und nach jener Zeit dort gelebt hat, nachvollziehbar ist das Bekenntnis Alfred Wagners, der als Korrespondent der Kronstädter (damals Stalinstädter) Volkszeitung mit seinem Kollegen Franz Storch vom Bukarester Neuen Weg zur „Prozessbeobachtung“ abkommandiert worden war: „Obwohl wir freundschaftlich miteinander verbunden waren, uns gut verstanden und Storch überdies auch noch während des Prozesses als mein Gast bei mir wohnte, wechselten wir kein einziges Wort über Prozess, Angeklagte, Zeugen usw. Auch in den Jahren danach sprachen wir niemals über die Kronstädter Gerichtsverhandlung.“ Die Totenstille funktionierte, und sie hallt bis heute nach.

Zwar sollte man nicht mit Kategorien des Dämonischen an diese historischen Abläufe heran gehen, gleichwohl muss man sich bewusst sein, dass auch der rumänische GULag vor allem eine irrationale Dimension hatte, die alle einbezog und einbezieht, die schließlich auch rigorose Werturteile, ja sogar die verbindliche Unterscheidung von Täter und Opfer relativiert. Eginald Schlattner, der sechste Mann im Schriftstellerprozess, weiß, wovon er in seinem Roman „Rote Handschuhe“ spricht: „Fällt hier ein Name, ist der Mensch verdammt und geschändet. [...] einem, der hier einen Namen bekommen hat, wird man nie mehr in die Augen sehen können, nachher.“

Es tut sich eine der ewigen Fragen auf, die man nur in den Raum stellen kann, ohne sie hier weiter zu erörtern: Inwieweit ist Literatur, Kunst allgemein überhaupt in der Lage, solche Kalamitäten begreiflich zu machen? Trägt sie nicht vielmehr durch die künstlerischen Mittel zur Verharmlosung bei, macht Unerträgliches hinnehmbar, ja erträglich? Und als drittes: Inwieweit darf sich ein nicht Betroffener zu einem Urteil entschließen, das ja in solchen Zusammenhängen, wie immer es ausfällt, ein Fehlurteil sein muss? Was vermag Literatur überhaupt in unwirtlichen Gefilden und in geistfeindlicher Zeit? So stellen sich die Fragen natürlich nicht, denn Kunst kommt laut Gustav Mahler nicht vom Können, sondern vom Müssen, und sollen soll sie schon gar nichts, also auch nichts vermögen. Dennoch: Wieso hat dieses Trauma denn die deutsche Textproduktion in Rumänien nicht gelähmt? Wieso schießt in den sechziger Jahren und danach diese Literatur buchstäblich ins Kraut?

Das liegt zum einen an dem im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil der Minderheit inflationären Angebot an staatlichen Publikationsmöglichkeiten, zum anderen aber wohl auch an einem Bedürfnis, ins klare zu kommen, selbst wenn man weiß, dass dies kaum möglich ist. Vom Schreibenmüssen, davon, dass die Zeitumstände danach waren, spricht beispielsweise Dieter Schlesak mit sanfter Ironie und meint, es seien „Nazizeit, Krieg, Kommunismus, Aussiedlung, die meine wie die jüngere Literatur erst möglich gemacht haben. So dass einige, wenn nicht sogar alle durch sie zu Autoren geworden sind. Ich weiß nicht, ob ich es in friedlichen Zeiten so ausschließlich geworden wäre.“

Spannung: Müssen – Sollen – Können


Durchaus verständlich wird aus dieser Perspektive das trotzige Selbstbewusstsein der ehemaligen Securitate-Opfer, die sich kein anderes Mittel gegen die Ratlosigkeit und Angst, keine andere Rache wissen als das Schreiben, dieses einen aber mehr denn gewiss sind wie Hans Bergel mit der Einschätzung, „wenn uns der [Bergel‘sche; Anm. G. A.] Roman ‚Tanz in Ketten‘ in dieser Literatur fehlen würde, wären wir um ein substantielles Dokument der Kommunismusjahrzehnte in Rumänien ärmer“. Andreas Birkner enthebt sein Schreiben gar jeder historischen Bedingheit: „Ich habe 1934 nicht anders schreiben müssen als 1980“, von Georg Scherg auf höherer Ebene sekundiert: „Meine Erfahrung lehrt, dass man alles sagen kann und konnte – es kommt und kam nur darauf an, wie man es sagt.“

Demgegenüber bekennt sich Oskar Pastior, ein Meister der Selbstzweifel bis in die kleinste Sprachpartikel, zur Ratlosigkeit auch vor dem, was er möglicherweise erlebt, aber nicht eigentlich erfahren hat: „Bin ich heil davongekommen? Manchmal frage ich mich, ob die Pfiffigkeit der gebrannten Kinder, von der wir aus dem Osten alle ein wenig was haben, wenn wir gewitzt und witzig generalisieren, nicht den Revers jener schlafenden Hunde darstellt und in ihrer Besserwisserei auch Symptom einer Ideologieversehrtheit ist.“ Genereller noch und deshalb bitter bis zur Verbitterung ist die Feststellung von Franz Hodjak, Schriftsteller und in den Siebzigern und Achtzigern Verlagslektor in Klausenburg, also mit Einblick auf beiden Seiten der ideologischen Front: „Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder man schrieb keinen Roman. Oder man schrieb einen, einen verlogenen. Aus dieser Verlogenheit haben alle, die Romane geschrieben haben, versucht, sich herauszulügen.“

Schon diese wenigen Aussagen werfen ein Zwielicht auf die Zwiespälte, denen Literatur über die Zeitgeschichte in der Zeitgeschichte ausgesetzt ist, zeigen die schwer zu ertragende, oft lähmende Spannung, der alle schöpferischen Menschen ausgesetzt sind, die in solche Räume hineingeboren werden: die Spannung zwischen dem inneren Bedürfnis zur Gestaltung und zugleich dem akuten Missbehagen an den Zwängen, die ihnen auferlegt werden und die sie sich selbst auferlegen. Ein solcher Mensch will, muss von innen heraus schreiben, und er weiß zugleich, dass er nicht schreiben kann, wie er will – tut es aber trotzdem. Auf diese Gegensätze kann er nur mit Verzweiflung und/ oder gesteigertem Selbstbewusstsein reagieren. Der Selbstschutz ist dürftig und wird nicht wirksamer dadurch, dass man sich andern gegenüber abzugrenzen sucht.

Legitim ist es, wenn Joachim Wittstock seinen Vater und dessen Roman „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“ apologetisch heraushebt: „Im fälschlich so genannten ‚volksdemokratischen‘, im pseudosozialistischen Rumänien ein Romanwerk dieser Thematik zu verfassen und dabei Haltung zu bewahren, erforderte Selbstüberwindung und Mut. Manches aus der Kunstpraxis, was sich danach, in Perioden der Liberalisierung, als kühn dünkte, wirkt daneben recht dürftig.“ Doch welchen Erkenntnisgewinn bieten solche Vergleiche? „Wenn übrigens ich zum Vergleich lese, was einige jüngere, seit den achtziger Jahren in Deutschland lebende rumäniendeutsche Autoren von ihrem ‚Martyrium‘ im Umgang mit der Securitate hiesigem ahnungslosen Publikum erzählen, drängen sich mir die Fragen auf: Ist das Mangel an Information? An Maßstäben? Oder Ignoranz der größeren Leiden des Nächsten?“ fragt Hans Bergel. An Mängeln haben wir nun beileibe alle allenthalben genug, der Vorwurf der Ignoranz aber liegt eher außerhalb der literarischen Diskussion.

Dort, außerhalb der Literatur, geschehen auch sonst merkwürdige Dinge. Schließlich ist es zumindest merkwürdig, wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach einer Fontane beschwörenden Rezension zu Eginald Schlattners „Geköpftem Hahn“ im Feuilleton eine zweite auf der Seite „Das politische Buch“ folgen lässt, in der Schlattner vorgeworfen wird, er habe das politische Buch nicht geschrieben, das er schuldig sei. Auch in der Publizistik siebenbürgisch-sächsischer Observanz wird viel halbseidene Wäsche gewaschen, nicht immer im reinsten Wasser redlichen Bemühens. Es aufzurühren ist nicht Sinn und Zweck dieser Zeilen. Geradezu erfrischend wirkt demgegenüber Wolf von Aichelburgs konjunktivische Aussage, die Schlattners Verleger in seiner Gegendarstellung auf die „politische“ Rezension in der F.A.Z. zitiert: „In meinem Fall hat er sich so benommen, wie man es von ihm hätte erwarten können.“ Das Sprachempfinden eines siebenbürgisch „verhedderten“ deutschen Dichters bewährt sich in dieser fast aphoristischen Volte.

Nicht aphoristisch, sondern in trockenster, ihm selbst eigentlich fremder Manier kommentiert Oskar Pastior solche außerliterarischen Zusammenhänge: „Rechtfertigung und Verteidigung zeitigen meistens nur blöde Texte.“

Intimität: Autor – Leser


Das Bedürfnis nach Rechtfertigung und Verteidigung aber kommt gerade im kleinen siebenbürgischen Raum, der sich durch die Massenaussiedlung nach Deutschland paradoxerweise nicht wesentlich erweitert hat, aus einer eigenartigen Intimität zwischen dem Leser und dem Autor. Derlei Intimität nimmt man in einer westlichen Mediengesellschaft mit einigem Befremden wahr, aber pikant genug ist sie, dass man darüber genüsslich berichtet, so etwa die Süddeutsche Zeitung über eine Lesung Schlattners in Gauting. Die Fama tobt, die Unterstellung hat das Wort. Derlei feiert auch in der neuen freien Presse in Rumänien unerfreuliche Urständ. In der bedeutenden Literaturzeitschrift România literară steht neben einem um Objektivität bemühten Text zu den „Roten Handschuhen“ von Rodica Binder die haarsträubende Denunziation eines Dan Dănilă, in der er Schlattner ohne jeden Beleg zum Spitzel der Securitate stempelt. So leicht schlägt Ratlosigkeit in besinnungslose, wiewohl kalkulierte Aggression um.

Es tut unter solchen Umständen gut, sich zu besinnen auf das, was Literatur ausmacht oder ausmachen sollte, aus welchem Raum immer sie kommt. Der ostpreußische Schriftsteller Arno Surminski erinnert in der Besprechung zu Hans Bergels „Wenn die Adler kommen“ in der Welt an künstlerische Tugenden, die mancher Träger einer siebenbürgischen Brille über allem Lauern auf Hintersinn und biographische Bezüge zu verdrängen scheint: „Leser, die Freude an Naturschilderungen haben, kommen in diesem Band auf ihre Kosten.“ Sabine Brandt greift in ihrer Besprechung zu Schlattners „Roten Handschuhen“ ebenfalls zurück auf Kategorien, die altbacken scheinen, aber den urtümlichen Antrieb literarischer Produktion und Rezeption erfassen: „Wenn es erlaubt wäre, die Begriffe Erschütterung und Erheiterung in einem Atemzug zu verschmelzen – Schlattners unterhaltende Belehrung über ein Stück europäischer Menschengeschichte wäre damit charakterisiert.“ Der Dialektik von Dichtung und Wahrheit vollends Genüge tut Sigrid Löffler in ihrer komprimierten Formel, Schlattners Bücher seien Romane, „wie sie autobiografischer kaum zu erfinden sind“. Von weither klingt die Frage von Thomas Mann durch: „Wenn ich aus einer Sache einen Satz gemacht habe – was hat die Sache noch mit dem Satz zu tun?“

Wie aber kommt man so weit, dass eine Sigrid Löffler über einen schreibt, wie kommt man aus der siebenbürgischen Enge auf den weiten deutschen Markt? Hier sprudelt, ja brodelt ein unerschöpflicher Quell der Missgunst: Schlattner ist Spätkömmling und Überflieger zugleich. Jüngere Autoren haben den vorgeblichen Durchbruch auch geschafft, aber sie gehören einer Generation an, die man nicht als Konkurrenz wahrnehmen muss. Zweierlei macht sie zu Nicht-Konkurrenten: Sie haben sich moderne Literatur und deren Techniken in den Siebzigern in einem recht liberalen Klima pfleglich aneignen und zu eigen machen können, und sie sind dadurch zu einer Souveränität gediehen, die man ihnen auch als Überheblichkeit anlasten kann.

„Das Rumäniendeutsche ist das Abwesende, das immer präsent ist. Es schreibt mit. Soll es.“ So kaltschnäuzig freimütig bekennt sich Richard Wagner zu einer Rückkopplung, die seine Freiheit nicht mehr beeinträchtigt, sondern weitet. Herta Müller überlistet die Bindung an Rumänien, indem sie sie zum Thema ihres Schreibens macht und in eine eigene Metaphernsprache bannt. Werner Söllner lässt seine Reflexionen über den „Siebenbürgischen Heuweg“ zu Versen gerinnen, deren vielfach gebrochene Schönheit von weither kommt, aber in Deutschland ankommt. Franz Hodjak schreitet den Widersinn der siebenbürgischen Spätzeit aus und diagnostiziert lyrisch wie erzählerisch das Endzeitsyndrom. Sie machen es sich nicht leicht, sie haben es leichter, denn ihr Ton harmoniert in zeitgemäß polyphoner Dissonanz mit der Kakophonie einer gegenwartsbesessenen, vergangenheitsvergessenen und deshalb gewissensgeplagten deutschen Gegenwartsliteratur.

Ein Aichelburg oder ein Bergel, das sind deutsche Schriftsteller aus der Fremde, und dass es die dort gibt, das wurde in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit nur beiläufig und eher missmutig kolportiert. Sie alle standen damals unter dem pauschalen und flächendeckenden Revanchismusvorwurf, und den grundsätzlich zu revidieren ist die deutsche Öffentlichkeit auch heute noch nicht (selbst)kritikfähig genug.

Bezug: Autor – Herkunftslandschaft


Will man daraus schließen, dass es ein Pech der Zwischenkriegs- und eine Gnade der Nachkriegsgeburt gibt? Gibt es außer der Herkunftslandschaft keinen gemeinsamen Nenner, keine Kontinuität, sei es auch eine mit Brüchen? Mir will scheinen, als zeige sich gerade in jenem Punkt, in dem sich diese Generationen grundsätzlich unterscheiden, am auffälligsten, was sie zugleich verbindet. Und dieser Punkt ist kein literaturgeschichtlich definierter oder auch nur definierbarer, ist nicht jener, an dem sich Tradition und Moderne in der rumäniendeutschen Literatur scheiden, sondern es ist der Standpunkt, den die Schriftsteller ihrer minderheitlichen Herkunft und Zugehörigkeit gegenüber einnehmen. Unvereinbar ist zwar die konservative Integrationshaltung der Älteren und die nonkonformistische, lange Zeit linksdefinierte Oppositionshaltung der Jüngeren. Gemeinsam jedoch ist ihnen allen das Grundbedürfnis, sich dieser Frage zu stellen, eine Haltung einzunehmen, sei diese auch ein Affront.

Mit unbehaglichem Staunen liest man bei Erwin Wittstock: „1918 war Siebenbürgen nach dem Ersten Weltkrieg von Ungarn losgetrennt und Rumänien einverleibt worden und die deutschen Bewohner Siebenbürgens, denen die Klarheit und Sauberkeit der öffentlichen Verhältnisse bis dahin eine notwendige Daseinsbedingung bedeutet hatten, sahen sich mit einem mal genötigt, ihr wirtschaftliches Fortkommen gegen die zum Teil durchfäulte altrumänische Beamtenschaft mit den Methoden zu verteidigen, die sich in der Walachei seit der im vorigen Jahrhundert zum Abschluss gekommenen Türkenherrschaft erhalten hatten, den Siebenbürgern aber fremd waren.“ Zwischen diesem Zitat aus „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“ und Franz Hodjaks sarkastischer Aussiedler-Selbstdefinition als „rumäniendeutscher Türke“ und Richard Wagners „Abwesendem, das immer präsent ist“, ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Doch es liegen Äonen zwischen der Selbstgewissheit, die sich bei Wittstock trotz der oder gerade in der existenzbedrohenden Situation dezidiert äußert, und den lakonischen Selbstzweifeln Hodjaks und Wagners, denen wir eine ganze Anthologie von Bosserts und Söllners und Müllers und Hensels zur Seite stellen könnten. Dennoch spannt sich über alle ein Bogen: Kein rumäniendeutscher Schriftsteller, auch nicht Oskar Pastior, schreibt, ohne sich, sei es positiv oder negativ, apologetisch oder ironisch, zur Kulturlandschaft seiner Herkunft in Bezug zu setzen.

Die kleine Literatur einer kleinen Volksgemeinschaft stellt sich dem großen Weltgeschehen, in das diese unvermittelt hineingerissen und in dem sie vermahlen wird. Eine Herausforderung, vor der souveräne Geister bis hin zu Thomas Mann, Bertolt Brecht oder Gottfried Benn schier verzweifelt sind, wird angenommen und redlich zu Text verarbeitet. Die Autoren sehen sich mit den lebensbedrohlichen Mühlsteinen der neuen kommunistischen Macht konfrontiert und geben nicht auf, sie sehen sich mit dem kapitalistischen Markt konfrontiert und geben nicht auf. Aufreibend jedoch ist nicht nur diese Konfrontation, sondern auch die untereinander.

Der dankbare Leser wünscht ihnen mehr, möglichst viel von dem einzigen literarischen Mittel, das gegen die Zeitgeschichte wirkt: der Ironie. Ein Beispiel, das seine Wirkung hoffentlich nicht verfehlt, findet man ausgerechnet bei jenem bedeutenden siebenbürgischen Erzähler, dem ich anfangs meine Verwunderung nachgetragen habe und bei dem sie seltene, aber dann sublime Formen annimmt. Zwei Hermannstädter Bürger, der eine ein Tuchfabrikant, unterhalten sich in Erwin Wittstocks „Januar ’45“ über die Berechtigung des „Klassenkampfes“: „‚Das sagst du so, als ob du kein Kapitalist wärst.‘ ‚Ich?‘ ‚Was bist du anderes?‘ ‚Ich bin ein Siebenbürger Sachse, der Kleiderstoffe erzeugt.‘“

Hier kondensiert der widersprüchliche Reiz dieser kleinen Literatur. Und das Schönste an dem ironischen Passus ist, dass er vielleicht gar nicht ironisch gemeint ist. Geholfen jedenfalls hat die Ironie den Romanhelden nicht, ihrem Erfinder wohl kaum, vielleicht hilft sie uns."

Schlagwörter: Kulturtage, Literatur, Aescht

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