15. Januar 2024

Literatur und Haltung: Gedanken zu einer Tagung zu Herta Müllers 70. Geburtstag

Mit einer Hommage an die politische Schriftstellerin feierte eine Tagung in Heiligenhof in Bad Kissingen vom 8.-10. Dezember 2023 den 70. Geburtstag der Nobelpreisträgerin Herta Müller. Die Tagung musste ohne die Anwesenheit der Autorin auskommen. Dafür war aber mit Anton Sterbling einer ihrer Gefährten aus der Zeit in Rumänien zugegen. Gefördert wurde die Veranstaltung von der Bundeszentrale für politische Bildung, weshalb man sich wohl auch auf die politische Verortung der Schriftstellerin konzentrieren wollte. Doch auch um sie politisch zu verorten, musste man zu ihren eigentlichen Wurzeln zurückkehren, zur Literatur.
Herta Müller bei einer Lesung am 11. Novem­ber ...
Herta Müller bei einer Lesung am 11. Novem­ber 2000 in Schwabach. Foto: Josef Balazs
Über Herta Müller sind bereits einige Dissertationen geschrieben und Bücher veröffentlicht worden. Bei dieser Tagung, organisiert von Gusti Binder, dem Studienleiter in Heiligenhof, wurde ein Ausschnitt der aktuellen Forschung an den Universitäten Großwardein/Oradea und Budapest zu ihr und ihren Texten präsentiert, meist im Vergleich mit ungarischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Mit der Germanistin Marion Acker, die über die Autorin promoviert hat, und dem Journalisten und Rumänienkenner Markus Bauer waren auch zwei Berliner mit dabei. Anton Sterbling lieferte eine soziologische Analyse zu Müllers Roman „Herztier“. Zudem las man aus dem Publikum Lieblingstexte aus dem Werk der Autorin. Der Journalist Peter Miroschnikoff stellte seinen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1987 vor, der schon früh sein feines Gespür für die Bedeutung der Schriftstellerin bewies. Dem Image von Müller als öffentliche Person widmete sich Markus Bauer, und Katharina Kilzer sprach über die Rezeption Müllers in der Presse anlässlich der Verleihung des Nobelpreises.

Die Schwierigkeit der nationalliterarischen bzw. ethnokulturellen Einordnung der Schriftstellerin stellte sich schon bald in der Diskussion über die Vorträge als zentrale Fragestellung der Tagung heraus, als Szabolcs János, Literaturwissenschaftler aus Großwardein, über Müllers ungarische Rezeption zwischen Politik und Ästhetik sprach, ihre Kanonisierung in Ungarn ins Auge fasste und sie als rumäniendeutsche Schriftstellerin bezeichnete. Dabei wies er auf die Problematik dieses Begriffs hin.

Vor allem seit sie den Nobelpreis erhielt, versuchte man zuweilen in der rumänischen Literaturwissenschaft Herta Müller auf ihre rumänischen Wurzeln zurückzuführen, namentlich von Florin Oprescu, der sie in einem Sammelband zum kulturellen Gedächtnis von ihrer Methodik her in gewisser Weise auch der rumänischen Literatur zuordnete. Für ihn sei nicht nur die Sprache ausschlaggebend, in der ein Werk verfasst wurde, sondern auch der Raum des kulturellen Gedächtnisses, aus dem der Autor stamme. Herta Müllers Prosatexte schöpften aus dem rumänischen kulturellen Gedächtnis und würden dadurch bestimmt. Das mache sie als Autorin aus.

Bei der Tagung zitierte Katharina Kilzer einen Artikel des Literaturkritikers Jörg Magenau, der in der taz schreibt, dass der „geschichtliche Raum der rumänischen Diktatur“ Herta Müller wohl von der ‚hiesigen‘ Literatur trenne. Doch gehört sie damit gleich der rumänischen Literatur und Kultur? So wie Ion Bogdan Lefter, den Kilzer zitiert, darauf hinweist, dass auch „auch ein ‚Nicht-Rumäne‘ Vertreter der Rumänen und ihrer gemeinsamen Vielvölker- und vielsprachigen Kultur sein kann?“ William Totok – ebenfalls zitiert von Kilzer –, selbst ein Weggefährte Müllers, setzt dagegen, dass die rumänische Herkunft der Schriftstellerin ein „biographischer Zufall“ sei, eine „strikt geographische Angelegenheit“ und keineswegs relevant für die Kultur und Literatur Rumäniens. Der Referent Szabolcs János fand hingegen die Einordnung Müllers zumindest als rumäniendeutsche Autorin notwendig und griff in seiner Argumentation auch auf den spatial turn zurück, mit dem der geopolitische und kulturelle Raum, der durch die Thematik der Texte der Autorin gegeben ist, in den Blick gerät. Marion Acker hingegen wies auf die komplexe Problematik solcher Kategorisierungen hin, vor allem bei einer Autorin, die sich ihnen permanent zu entziehen versuche. In Müllers Texten sei manchmal nur vom fernen Land im Osten oder vom Diktator die Rede und nicht von einem konkret zuzuordnenden realen Raum. Sei sie nun Deutschrumänin, Banatschwäbin, Rumäniendeutsche, Angehörige der deutschen Minderheit, Beatrice Ungar hat es in einem Interview in der FAZ, aus dem Kilzer zitierte, auf den Punkt gebracht: „Herta Müller ist eine deutsche Schriftstellerin, ganz gleich, woher sie kommt.“

Dazu kann man nur sagen, dass Herta Müller sich nicht nur von der Banater schwäbischen Dorfgemeinschaft ihrer Herkunft emanzipiert und jegliche landsmannschaftliche Vereinnahmung zurückgewiesen hat, sondern auch der rumäniendeutschen Literatur entwachsen ist. Spätestens mit dem Nobelpreis für den Roman „Atemschaukel“ hat sie sich endgültig als deutsche Schriftstellerin etabliert, wenn es dieser Bestätigung denn überhaupt noch bedurft hätte. Schon für F. C. Delius, ihren Förderer, so Markus Bauer, war allein die poetische Qualität ihrer Texte für ihre Einordung als deutschsprachige Autorin ausschlaggebend. Neben dem dichten jargonfreien „reinen“ Deutsch, wie er – hier zitiert von Kilzer – ergänzte.

Aber das Interesse für Herta Müller war nicht immer gegeben: Als sie im Februar 1987 zusammen mit Richard Wagner, ihrem damaligen Ehemann, und ihrer Mutter auswanderte und am Wiener Ostbahnhof vom deutschen Fernsehjournalisten Peter Miroschnikoff erwartet wurde, musste dieser die zu später Stunde und nur im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlte Reportage mit dem Titel „Die Frau, die aus der Kälte kam“ noch privat finanzieren. Erst 2009, nach der Vergabe des Nobelpreises, wurde der Film wieder „ausgegraben“ und gesendet. Schon damals positionierte sich die Autorin politisch und thematisierte die Schikanen, denen sie in Rumänien ausgesetzt war.

Haltung zeigen, das tut sie bis heute, wenn sie für politisch verfolgte Autorinnen und Autoren oder zu aktuellen Themen ihre Stimme erhebt, sich als eine der ersten bereits vor dem russischen Angriffskrieg für Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzt oder aber für den Bau eines Exil-Museums in Berlin ausspricht. So ist es verständlich, dass Anton Sterbling ihre literarischen Texte auch auf soziologische Aussagen abklopft und sie diesbezüglich wertvoller findet, als manch soziologisches Werk. Müllers Prosa sei „eine literarisch durchgearbeitete, subjektiv reflektierte und stilisierte und mithin pointierte und überhöhte Rekonstruktion, ein ‚Echolot‘ kommunistischer Spätdiktaturen“. Die Germanistin Marion Acker betrachtete in ihrem Referat Müllers Schreiben über die Diktatur auch als politisches Anschreiben bzw. Ansprechen gegen die Diktatur.

Eszter János, die die „Atemschaukel“ mit dem Roman „Die Aussiedlung“ von András Visky verglich, sieht beide als „Chroniken des Überlebenswillens inmitten jeder Form von Totalitarismus“. Orsolya Tamássy-Lénárt aus Budapest, die Müllers Texte in Bezug zu Terézia Mora und zu Melinda Nadj Abonji setzte, sprach über die Distanzierung vom Geburtsort und die Dekonstruktion des Mythos Heimat. Und schließlich setzte sich Markus Bauer mit dem Image der Autorin als Person in der Öffentlichkeit auseinander. Er kam zum Schluss, dass aus der „exotischen“ Dissidentin nun eine global anerkannte und übersetzte Schriftstellerin geworden sei.

Letztendlich hat Herta Müller nicht nur ihr Bild des Banater Dorfes, sondern auch ihre Beschreibung der Diktatur und des Totalitarismus sowie die Geschichte der Deportation der Rumäniendeutschen in den Donbass in die deutsche Literatur eingeschrieben. Damit ist ihre Literatur oft auch politisch aufgeladen, was ihren herausragenden ästhetischen Wert nicht schmälert.

Edith Ottschofski

Dateien zum Herunterladen:

Literatur-Nobelpreis 2009 an Herta Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Oktober 2009

Rumänische Reaktionen auf den Literaturnobelpreis an Herta Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Oktober 2009

Schlagwörter: Herta Müller, Literatur, Nobelpreis, Heiligenhof, Tagung

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