23. Dezember 2023

Jetzt weiß ich, wer du bist/Erzählung von Annemarie Roth

Annemarie Roth, geboren 1958 in Marienburg bei Schäßburg, begann während der Coronazeit Erzählungen zu schreiben, die in Siebenbürgen spielen und eine Mischung aus realen Begebenheiten und Fiktion sind. Die Geschichte „Jetzt weiß ich, wer du bist“ handelt vom „Chrästmaun“ und ist ihre zweite literarische Veröffentlichung in der SbZ Online.
Die Autorin Annemarie Roth ...
Die Autorin Annemarie Roth
Als Kind haderte ich mit dem, den wir „Chrästmaun“, also Christmann nannten; verständlich für jedermann: Ich haderte mit dem Christkind oder dem Weihnachtsmann, wie auch immer sein Name sei.
Ich erwartete ihn mit zwiespältigen Gefühlen.

Einerseits wollte ich unbedingt wissen, was er in seinem Sack für mich mitgebracht hatte und gab mir die größte Mühe, ein gehorsames, ja vorbildliches Kind zu sein, zumindest in dieser christlichen Zeit, andererseits hatte ich in mir einen tiefen Groll dieser so machtvollen Erscheinung gegenüber. Er gab sich immer so überlegen und das ging mir gewaltig gegen den Strich.
Hätte es die Mitbringsel nicht gegeben, hätte ich mich irgendwo in der Scheune versteckt, bis er wieder weggewesen wäre, dachte ich bockig bei mir im Stillen. Die Erwachsenen hätten mich lange suchen können. Na und?
Wenn der Christmann uns Kinder liebte, wie es uns oft erzählt wurde, wieso reichte das dann nicht aus, um uns zu beschenken?
Mein Kinderhirn zermarterte sich, war aber wohl zu klein, um das alles auf die Reihe zu bekommen. Aber irgendetwas, sagte ich mir, stimmte mit dem Christmann nicht. Ich machte das Prozedere halt mit, pragmatisch denkend.

Der Christmann war also vornehmlich eine strenge Person, die, wenn sie am Heiligabend anklopfte, erstmal mit tiefer Stimme von draußen fragte, ob wir auch brav gewesen wären, sonst gäbe es keine Geschenke.
Aha, sagte ich mir jedes Jahr, nachdem ich angefangen hatte selbstständig zu denken, schon wieder das gleiche Spiel. Spannt uns erst auf die Folter, wir warten ewig lang, erinnert uns an unsere Pflicht, folgsam zu sein, und ist dann meist auch noch knauserig. War ich ein undankbares, respektloses Kind oder einfach nur kritisch?

Nun, auch hier in punkto Christmann griff unsere Erziehung. Man verdiente sich Geschenke durch Gehorsam. Sonst hatte man kein Recht darauf.
Wir Kinder fürchteten uns schon und wurden kurzatmig, bevor der Christmann überhaupt eintrat. Wir bangten um die mitgebrachten Gaben, aber auch, weil der Christmann herrisch war. Er konnte aufmüpfige Kinder zurechtweisen oder sogar bestrafen. So wurde es von Generation zu Generation weitergegeben und nicht hinterfragt.

Bei uns gab es also kein Weihnachten oder den Weihnachtsmann, wie er von Coca-Cola reklametechnisch fest etabliert wurde, freundlich blickend, mit einem roten Umhang bekleidet und mit einem weißen Rauschebart im Gesicht, zudem auf einem Rentierschlitten fliegend.
Nein, sowas kannten wir nicht. Bei uns wurde schon immer der Christtag gefeiert und wir hofften auf einen mild gestimmten und großzügigen, unauffällig, eher dunkel gekleideten Christmann.

So war es seit je her. Wahrscheinlich seit der Zeit Luthers. Die Protestanten bekamen das Christkind überliefert und der Abend der Bescherung war der 24. Dezember, der Vorabend von Jesu Geburt. Man blieb über Jahrhunderte in dieser Tradition verhaftet.

Der moderne Weihnachtsmann hatte keine Chance, zu uns vorzudringen.
Einmal wegen unserer religiösen Gepflogenheiten und zum Zweiten in späterer Zeit auch wegen des politischen Systems, in dem wir lebten. Nicht einmal mit fliegenden Rentieren hätte ein Coca-Cola-Weihnachtsmann es über den Eisernen Vorhang geschafft. Da hätte er schon eher ein politischer Spitzel sein müssen.

Trotz meiner frühen Zweifel am Christmann waren die Christtage eine sehr schöne Zeit. Der Ablauf dieser Tage hielt viel Wunderbares bereit und gab uns sicherlich allen, eben durch das unverrückbare Brauchtum, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit, was wohl alle Menschen nötig brauchen, um gefestigt durchs Leben zu gehen.
Wie liefen diese Christtage nun ab?
Mütter und Großmütter buken Hanklich und Nussstriezel, das traditionelle Feiertagsgebäck schlechthin, von dem wir nicht genug bekommen konnten.
Wir schmückten unseren Christbaum und stellten ihn in die gute Stube vorne vors Fenster, so dass er auch von draußen sichtbar war.
In dem Karton, der den Christbaumschmuck barg, gab es keine Überraschungen. Die heutige Angewohnheit einiger wohlstandsverwöhnter Menschen, dem Christbaum jedes Jahr anderen, neuen Schmuck angedeihen zu lassen, kannte man nicht.
Zu den Kugeln und sonstigen handgemachten Dekorationen kamen bestimmte, in buntes Stanniolpapier eingepackte Bonbons, Äpfel, silbern und golden gefärbte Walnüsse, Watte als Schneeersatz auf die Zweige, natürliche Kerzen, bunte Papiergirlanden und ab und an auch Engelshaar.
Das Prachtvolle des Baumschmucks wurde noch vollkommener durch den unnachahmlichen, würzigen Geruch der Tanne.

Heiligabend gingen wir alle früh am Abend zum Gottesdienst. In allen Häusern wurde das Licht angelassen, sodass man von draußen die festlich geschmückten Bäume sehen konnte. Es waren sehr einprägsame Bilder. Die erleuchteten Zimmer vermittelten ein Empfinden von Heimeligkeit und Wärme und die festlichen Tannen gaben dem Ganzen noch etwas Erhabenes. In den meisten Jahren war das Dorf verschneit an diesem Christabend und eisige Kälte hüllte einen ein.
Knirschender Schnee unter den Stiefeln und am Schal zu kleinen Eiskügelchen gefrorener Atem gehören zu meinen festen Erinnerungen.

Betrat man die Kirche, wurde man in eine betörende Flut von Aromen eingehüllt. Es schwebte der Duft von Kuchen, von Kerzen, der Tannenduft um einen herum, vermischt mit der Kühle der etwas modrig riechenden alten Kirchenmauern.

Die Kirche war an diesem Abend brechend voll, wie sonst nie. Der Christbaum stand vorne vor dem Altar und reichte bis an die Decke, was mich als Kind immer sehr beeindruckte, mir aber auch immer Rätsel aufgab.
Die Baumkerzen wurden mit einer an einem langen Stab befindlichen Kerze angezündet. Die Kirchenväter hantierten meisterhaft mit diesem langen Stab und wachten auch über die schon abgebrannten Lichter. Mir stellte sich nun immer die Frage, ob sie es schaffen würden, alle Kerzen bis oben hin zum Brennen zu bringen. Und hoffentlich fiel dieses wundervolle, einen mit seiner Pracht fast erdrückende feierliche Ungetüm nicht auf uns drauf, die wir praktisch darunter saßen. Es hätte so manchen unter seinem Gewicht und seiner leuchtenden, glitzernden, schweren Zierde begraben.

Es war ein feierlicher, spannender Abend. Und alles andere als dröge.
So empfand ich als Kind sonst die Gottesdienste. An diesem Abend musste ich nicht, wie sonst, aus Langeweile die Striche und Punkte auf dem grün-braunen Teppich vor dem Altar zählen oder durch Neigung meines Körpers nach links oder rechts den einfallenden Sonnenstrahlen ausweichen. Auch bestand kein Grund dazu, dass ich mir das Gähnen verkneifen hätte müssen, wofür ich immer gemaßregelt wurde.
Ich fühlte mich klein und demütig und zutiefst aufgewühlt unter dem strahlenden Christbaum und ich empfand ihn über mir wie ein Teil von etwas Größerem, Herrlichem, das uns alle wie in einen weichen, schützenden Schleier einhüllte.

Alle saßen still und mit geneigten Köpfen auf ihren Plätzen und man hörte nur den Pfarrer mit Inbrunst und vor Rührung leicht zitternder Stimme beten und ab und zu das Zischen einer erlöschenden Kerze.
Und beim mehr und mehr anschwellenden und manchmal, wahrscheinlich vor innerer Rührung, auch schrill werdenden Gesang der Menschen sah man den heißen Atem aus ihren Mündern sich an die kühle Decke erheben und sich dort mit dem Ruß der Kerzen vermischen.

Es gab damals keine Heizung in unserer Kirche. Trotz der Kälte wurde die Luft im Laufe der christlichen Feier lau durch die Wärme der menschlichen Leiber, aber auch durch die Ergriffenheit und Aufregung der Anwesenden angesichts der göttlichen Nähe. Und mit jedem mit Hingabe und Emphase gesungenen Lied röteten sich die Wangen der Glaubensmitglieder zunehmend und manch einer musste seinen Schal abnehmen und seinen dicken Mantel öffnen.

Für uns Kinder bestand der schönste und aufregendste Augenblick darin, dass wir beim Hinausgehen jeder ein Päckchen mit herrlichen Honigkeksen und anderen Leckereien überreicht bekamen. All dies wurde Tage zuvor von den Müttern gebacken und verpackt. Eine wunderbare Tradition und viel Aufopferung für die Kinder.

Man wünschte sich gegenseitig einen frohen und besinnlichen Heiligabend und dann machten sich alle auf den Heimweg.
Als junges Mädchen fand ich das Bescheren und das Zusammensein immer sehr beglückend und anregend. Ich fühlte mich umsorgt und beschützt. Die Geschenke waren klein, dies spielte aber eine untergeordnete Rolle.
Mir sind die Abende mit Weihnachtsliedern, die wir sangen, um den Baum mit angezündeten Kerzen sitzend und Hanklich und Striezel essend, die Gespräche und der Austausch untereinander fast noch gegenwärtig.

Anders war es als kleineres Kind. Als ich anfing, mir meine eigenen Gedanken über mich und die mich umgebenden Ereignisse zu machen, hatte ich, wie erwähnt, nicht den besten Zugang zu unserem Christmann.
Wer oder was war dieses Wesen eigentlich? Diese Frage trieb mich um.
Es ärgerte mich schon, wenn der Christmann sich, versteckt vor der Tür, erstmal mit Forderungen unser Verhalten betreffend, mit dröhnendem Bariton ankündigte und uns ein paar Walnüsse hereinwarf, die in der angespannten Stille laut über den Holzfußboden bis in die äußerste Ecke des Raumes kullerten und die wir dankbar auch noch suchen und aufheben mussten, obwohl ich mir leicht selbst welche aus der Kammer hätte holen können, und das ohne mich zu bücken.

Kam er dann in den Raum, war ich von seiner Erscheinung jedes Mal enttäuscht. Jemand, der Geschenke bringt, muss doch ein freundliches Gesicht haben und dementsprechende Kleidung tragen, dachte ich und schüttelte innerlich empört den Kopf ob der Einfalt dieser Erscheinung.
Unser Christmann trug einen bodenlangen dunklen Mantel und verbarg sein Gesicht unter einer Kapuze. Er sprach jedes Kind an und wir mussten ihm versichern, brav gewesen zu sein, um uns dann irgendeine Kleinigkeit überreichen zu lassen.
Ich fand, dass er ganz schön viel Aufhebens machte. „Von drauß` vom Walde komm ich her ...“ Ewig lang und mit leiernder Stimme trug er dieses Gedicht vor. Na ja, wenn er aus dem Wald kam, vielleicht erklärte das ja seine Kleidung.
Während seines Vortrags näherte ich mich, um ihn genauer zu betrachten oder irgendwie unter die Kapuze zu sehen. Sofort wurde ich mehrstimmig von den Erwachsenen erbost ermahnt: „Bleib hier, Kind“.

Dann war da noch etwas an ihm, was mich völlig verwirrte. Ich fragte mich, wieso dieser Christmann, wenn er doch von so weit herkam, so gut unser Sächsisch und dazu noch den Dialekt unseres Dorfes ausgezeichnet beherrschte.
Las man uns Weihnachtsgeschichten vor, so sprach das Christkind nur Deutsch. Dieses ganze Durcheinander bedurfte einer schnellen Aufklärung.
„Woher kannst du unser Sächsisch?“, traute ich mich, forsch zu fragen.
„Hör auf, Kind“, schallte es unisono, laut und entsetzt aus den Mündern der Erwachsenen.

Unerhört, dieses Kind stiftete nur Unruhe, sogar am Christtag.
Es brachte die ganze Ordnung durcheinander. Ich schnaubte vor Wut und schwieg aber. Es war wohl klüger.
Der Christmann blieb mir die Antwort schuldig. So nicht, dachte ich. Ich musste handeln. Während er weiter seine Gaben verteilte, näherte ich mich ihm und zerrte an seinem Umhang. Ich würde schon sehen, was sich darunter verbarg. Alle schrien durcheinander und jemand versuchte, mich am Arm festzuhalten. Der Christmann reagierte prompt, hielt sein Gewand fest und brummelte etwas wie einen Fluch vor sich hin. Jetzt war er endgültig bei mir unten durch. Ein fluchender Christmann.
Unerhört! Er drehte sich um und verschwand hastig nach draußen.

Nein, nicht mit mir, dachte ich. Ich habe schon an anderer Stelle erzählt, dass ich eine gute Läuferin war. Also setzte ich ihm nach und lief hinterher auf den Hof, in die beißende Kälte, wie mir draußen schnell, meine Situation sofort bedauernd, klar wurde.
Der Christmann lief in Richtung Hühnerhof auf das Türchen zu. Davor standen zwei Eimer, einer mit Futter für die Schweine und ein Wassereimer.
Ich war schnell und packte den Umhang. Er verhedderte sich darin, stolperte und fiel auf die scheppernden Eimer, noch derber fluchend als vorhin und wimmernd.

Mit dem Umhang in den Armen stand ich staunen da und blickte auf meinen Martinonkel herunter, der die Eimer umgeworfen hatte und durchnässt im Schnee saß. Er schaute verdattert und war äußerst schlecht gestimmt. Ich traute meinen Augen kaum. Hab ich‘s doch gewusst, schoss es mir mit Genugtuung durch den Kopf.
Und obwohl ich wusste, dass mich Unmengen von Schimpftiraden erwarteten, stieg aus meinem Bauch langsam und mir die Kehle kitzelnd eine nie gekannte Heiterkeit auf und ich prustete los.
Es waren wahre Lachsalven. Ich konnte gar nicht mehr aufhören und sackte auf die Knie. Als dann Martinonkel auch in dieses Lachen einfiel, gab es kein Halten mehr. Das war wohl das erste Mal in meinem jungen Leben, dass ich erkannte, dass man mit Tränen lachen kann.
Unser Gelächter schallte laut über den verschneiten, stillen Hof und wurde dann von den hoch aufgetürmten Schneemassen geschluckt. Na, Gott sei Dank, wird es den Erwachsenen durch den Kopf gegangen sein. Es wäre ja noch schöner, wenn die Nachbarn mitbekommen hätten, wie sich unser Christmann und ich vor Vergnügen buchstäblich am Boden wälzten.

Selbst die anderen schleunigst herbeigeeilten Erwachsenen konnten diesem Frohsinn in gewisser Weise etwas abgewinnen. Das erkannte man an ihren Gesichtern, auf denen sie nur schwer einen ernsten Ausdruck wahrten.
Sie hielten sich zwar zurück, die vielleicht auch in ihnen erwachte Fröhlichkeit zu zeigen, gingen aber, ohne viele Worte, erhobenen Hauptes wieder zurück ins Haus. Wenigstens gab es keine Vorhaltungen.

Ich kam ungeschoren davon, was sicher dem Umstand zuzuschreiben war, dass sich Martinonkel von meiner guten Laune hatte anstecken lassen.
Die anderen waren in gewisser Weise in einer Zwickmühle. Die Tarnung des Christmanns war aufgeflogen und damit war die Mär drumherum nicht mehr aufrecht zu erhalten. Für Erklärungen seien wir noch zu klein, befand der Rat der Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel. Wir seien noch nicht in der Lage, das Ganze zu verstehen.

Was sie noch erzählten, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, ob im darauffolgenden Jahr ein anderer Christmann noch einmal dasselbe Schauspiel versuchte.
Ich konnte aber nicht locker lassen. Für mich war die ganze Situation konfus wie zuvor. Nun wusste ich zwar, dass unser Christmann eine Illusion gewesen war, und ich war mächtig enttäuscht. Warum tat man das den Kindern an? Gab es den Christmann doch? Schaffte er es nur nicht aus dem ach so weiten Himmel oder dem tiefen dunklen Wald bis in unser abgelegenes Dorf? War deshalb Martinonkel eingesprungen?
Fragen über Fragen purzelten wie aufgeschreckte Vögelchen durch meinen kleinen Kinderkopf. Mit unseren Erwachsenen war bei der Aufklärung des Christmannfalles ganz bestimmt nicht zu rechnen. Und bevor ich mir Ärger einhandelte, ließ ich das Nachfragen sein. Ich war ganz auf mich gestellt.

Dann fügte sich für mich alles wie von Geisterhand. Nein, keine Geisterhand. Sicherlich hatte die höhere Macht erkannt, dass dieses alle nervende Kind schon in der Lage war, die unglaublich schöne und rührende Geschichte vom Christkind und ihren Sinn für die Menschen zu verstehen.

Eines Tages war ich Schlittenfahren.
Nachdem alle Kinder nach Hause verschwunden waren, saß ich noch ganz allein unten am Weg auf dem Schlitten, es war inzwischen sehr spät und sehr neblig, und dachte wieder über den Christmann nach. Ich kam zu keinem Ergebnis. Vielleicht waren bei der Kälte meine Gedanken auch zu träge.
Ab und zu schälte sich ein Mensch aus dem dichten Dunst, fragte verwundert, was ich denn hier so alleine tue, und wurde beim Weitergehen wieder von der weißen Suppe aufgenommen.
Dann hörte ich etwas rhythmisch klopfen und im nächsten Augenblick tauchte ein uralter Nachbar, am Stock gehend, aus dem kompakten nassen Weiß auf. Ein Gedanke löste sich blitzartig von allen anderen, die etwas ziellos durch meinen von der Kälte apathisch gewordenen Kopf waberten, und ich fragte ohne Umschweife: „Hansonkel, wisst Ihr, wer der Christmann ist?“
Und ich erzählte ihm die Begebenheit, die sich mit unserem zugetragen hatte.

Er lachte belustigt und setzte sich mühevoll und ächzend zu mir auf den Schlitten. Dann begann er zu erzählen, bis es dunkel wurde. Ich hatte das Gefühl, dass ich alles, einfach alles über die Geschichte des Christmanns erfuhr.
Es war ein gedanklicher Ausflug in die Anfänge des Christentums, er sprach über die Spaltung der Kirche, über Katholiken und Protestanten, über christliche Bräuche, bis er zuletzt den Christmann in unserer dörflichen Tradition erklärte.
Er hatte auf all meine vielen Fragen Antworten. Und eben nicht solche, mit denen man Kinder beschwichtigt, weil sie noch zu unreif sind. Sondern richtige Antworten. Ich war stolz und zufrieden. Er nahm mich ernst und stillte meinen Wissensdurst.

Dieser alte, erfahrene und wahrscheinlich auch belesene Mann war damals für mich das, was Wikipedia für die heutigen Kinder ist.
Man kam nicht so schnell an Fakten und Wissen wie heute mit Hilfe der vielen Medien, man musste sich wirklich anstrengen, um einiges in Erfahrung zu bringen. Gut war aber, dass wir auf dem Weg dahin gezwungen waren, uns unsere eigenen Gedanken zu machen, was mit Sicherheit unser Denken schulte.
Der größte und schönste Vorteil dieser Wissensvermittlung aber war der soziale Kontakt. Es war ein alter Mensch da, der seine Lebenserfahrung und seine im Laufe seines Lebens angesammelten Kenntnisse und Weisheiten an ein noch unbedarftes, aber neugieriges Kind weitergab. Welches Glück!

Ich erfuhr damals, wie wichtig die alten weisen Menschen für die jungen waren. Ein Schatz, den man immer, ganz gleich in welcher Zeit, schätzen sollte.

Schlagwörter: Erzählung, Erinnerung, Weihnachten, Literatur

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  • 25.12.2023, 15:12 Uhr von Katzken: Sehr schön geschildert! Vergessen sollten wir aber nicht, dass Weihnachten, Ostern und Pfingsten ... [weiter]

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