Jahreszeiten-Gedichte

Um Beiträge zu verfassen, müssen Sie sich kostenlos registrieren bzw. einloggen.

Struwwelpeter
schrieb am 27.11.2012, 23:45 Uhr
Nasser November

Ziehen Sie die ältesten Schuhe an,
die in Ihrem Schrank vergessen stehn!
Denn Sie sollten wirklich dann und wann
auch bei Regen durch die Straßen gehn.

Sicher werden Sie ein bisschen frieren,
und die Straßen werden trostlos sein.
Und trotzdem: gehn sie nur spazieren!
Und, wenn‘s irgend möglich ist, allein.

Müde fällt der Regen durch die Äste.
Und das Pflaster glänzt wie blauer Stahl.
Und der Regen rupft die Blätterreste.
Und die Bäume werden alt und kahl.

Abends tropfen hunderttausend Lichter
zischend auf den glitschigen Asphalt.
Und die Pfützen haben fast Gesichter.
Und die Regenschirme sind ein Wald.

Ist es nicht, als stiegen Sie durch Träume?
Und Sie gehn doch nur durch eine Stadt!
Und der Herbst rennt torkelnd gegen Bäume.
Und im Wipfel schwankt das letzte Blatt.

Geben Sie ja auf die Autos acht.
Gehn Sie, bitte, falls Sie friert, nach Haus!
Sonst wird noch ein Schnupfen heimgebracht.
Und, ziehn Sie sofort die Schuhe aus!
(Erich Kästner)

Haiduc
schrieb am 18.12.2012, 13:11 Uhr
Die fremde Stadt ...

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war es; durch alle Gassen scholl
der Kinderjubel und des Markts Gebraus'.

Und wie der Menschenstrom mich fortspült,
drang mir ein heiser' Stimmlein in das Ohr:
"Kauft, lieber Herr!" Ein mag'res Händchen hielt
feilbietend mir ein ärmlich' Spielzeug vor.

Ich schrak empor und beim Laternenschein
sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
wes Alters und Geschlechte es mochte sein,
erkannt' ich im Vorübertreiben nicht.

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
noch immer hört' ich, mühsam wie es schien:
"Kauft, lieber Herr!" den Ruf ohn' Unterlass;
doch hat keiner ihm Gehör verliehn.

Und ich?- War's Ungeschick, war es die Scham,
am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zur Börse kam,
verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

Doch als ich endlich war mit mir allein,
erfasste mich die Angst im Herzen so,
als säß mein eigen' Kind auf jenem Stein
und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.

(Theodor Storm)
Herzchen
schrieb am 18.12.2012, 17:06 Uhr
Die vier Kerzen

Vier Kerzen brannten am Adventskranz so still, dass man hörte,
wie die Kerzen zu reden begannen.
Die erste Kerze seufzte und sagte:
„Ich heiße Frieden. Mein Licht leuchtet, aber die Menschen halten keinen Frieden!“
Ihr Licht wurde immer kleiner und verlosch schließlich ganz.

Die zweite Kerze flackerte und sagte:
„Ich heiße Glauben, aber ich bin überflüssig. Die Menschen wollen von GOTT nichts wissen.
Es hat keinen Sinn mehr, dass ich brenne.“
Ein Luftzug wehte durch den Raum, und die zweite Kerze war aus.

Leise und traurig meldete sich nun die dritte Kerze zu Wort:
„Ich heiße Liebe. Ich habe keine Kraft mehr zu brennen. Die Menschen stellen mich an die Seite, sie sehen nur sich selbst, und nicht die anderen, die sie lieb haben sollen.“
Und mit einem letzten Aufflackern war auch dieses Licht ausgelöscht.

Da kam ein Kind in das Zimmer. Es schaute die Kerzen an und sagte
„Aber – aber, ihr sollt doch brennen und nicht ausgelöscht sein!“
Und fast fing es an zu weinen.
Da meldete sich auch die vierte Kerze zu Wort. Sie sagte:
„Hab keine Angst! So lange ich brenne, können wir auch die anderen Kerzen
wieder anzünden. Ich heiße Hoffnung!“

Mit einem Streichholz nahm das Kind Licht von dieser Kerze und zündete die anderen Lichter wieder an!

(Autor unbek.)
Lilith
schrieb am 18.12.2012, 19:31 Uhr (am 18.12.2012, 19:57 Uhr geändert).
das Gedicht von Theodor Storm erinnert sehr an "das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern" wer nun wen inspiriert hat ist nicht wichtig, beides stimmt nachdenklich...

Vor paar Jahren gab es hier einen Artikel mit der Weihnachtsgeschichte
"und manchmal gab es auch Orangen",
ich wünschte, Mohn könnte (mir zuliebe) diese Orangen in Verse fassen...
Struwwelpeter
schrieb am 18.12.2012, 20:15 Uhr
Vorfreude auf Weihnachten

Ein Kind - von einem Schiefertafel-Schwämmchen
Umhüpft - rennt froh durch mein Gemüt.
Bald ist Weihnacht! Wenn der Christbaum blüht,
Dann blüht er Flämmchen.
Und Flämmchen heizen. Und die Wärme stimmt
Uns mild. Es werden leider, Düfte fächeln, -
Wer nicht mehr Flämmchen hat, wem nur noch Fünkchen glimmt,
Wird dann doch gütig lächeln.
Wenn wir im Traume eines ewigen Traumes
Alle unfeindlich sind - einmal im Jahr!
Uns alle Kinder fühlen eines Baumes
Wie es sein soll, wie` s allen einmal war.
(Joachim Ringelnatz)
Haiduc
schrieb am 19.12.2012, 21:14 Uhr
Der Seelchenbaum

Weit draußen, einsam im öden Raum
steht ein uralter Weidenbaum
noch aus den Heidenzeiten wohl,
verknorrt und verrunzelt, gespalten und hohl.
Keiner schneidet ihn, keiner wagt
vorüberzugehn, wenn's nicht mehr tagt,
kein Vogel singt ihm im dürren Geäst,
raschelnd nur spukt drin der Ost und West;
doch wenn am Abend die Schatten düstern,
hörst du's wie Sumsen darin und Flüstern.

Und nahst du der Weide um Mitternacht,
du siehst sie von grauen Kindlein bewacht:
Auf allen Ästen hocken sie dicht,
lispeln und wispeln und rühren sich nicht.
Das sind die Seelchen, die weit und breit
sterben gemußt, eh' die Tauf' sie geweiht:
Im Särglein liegt die kleine Leich',
nicht darf das Seelchen ins Himmelreich.
Und immer neue, - siehst es du? -
in leisem Fluge huschen dazu.

Da sitzen sie nun das ganze Jahr
wie eine verschlafene Käuzchenschar.
Doch Weihnachts, wenn der Schnee rings liegt
und über die Länder das Christkind fliegt,
dann regt sich's, pludert sich's, plaudert, lacht,
ei, sind unsre Käuzlein da aufgewacht!
Sie lugen aus, wer sieht was, wer?
Ja freilich kommt das Christkind her!
Mit seinem helllichten Himmelsschein
fliegt's mitten zwischen sie hinein:
»Ihr kleines Volk, nun bin ich da -
glaubt ihr an mich?« Sie rufen: »Ja!«
Da nickt's mit seinem lieben Gesicht
und herzt die Armen und ziert sich nicht.
Dann klatscht's in die Hände, schlingt den Arm
ums nächste - aufwärts schwirrt der Schwarm
ihm nach und hoch ob Wald und Wies'
ganz graden Weges ins Paradies.


Ferdinand Avenarius (1856-1923)
Struwwelpeter
schrieb am 02.03.2013, 22:42 Uhr

Abendlich tönet Gesang

Abendlich tönet Gesang ferner Glocken,
lächelnd versinkt voll Frühling ein Tag.
Über das eigene Lied scheu erschrocken,
verstummte die Amsel mitten im Schlag.
Und in dem Regen, der nun begann,
fing leise die Erde zu atmen an.

Wolfgang Borchert (1921-1947)
Kichermaus
schrieb am 02.03.2013, 22:53 Uhr
Danke, Struwwelpeter, für diese schönen guten Borchert-Worte, nun - schon in der Umarmung der Nacht...
Struwwelpeter
schrieb am 02.03.2013, 23:35 Uhr (am 02.03.2013, 23:38 Uhr geändert).
Wünsche ein frühlingshaftes Rest-Wochenende!
Kichermaus
schrieb am 02.03.2013, 23:48 Uhr
Danke, ebenfalls.
Joachim
schrieb am 03.03.2013, 00:45 Uhr
Auch ich wünsche einen schönen Wochenendverkehr.......
Struwwelpeter
schrieb am 11.03.2013, 18:43 Uhr
Wollte nicht der Frühling kommen?


Wollte nicht der Frühling kommen?
War nicht schon die weiße Decke
von dem Rasenplatz genommen
gegenüber an der Ecke?
Nebenan die schwarze Linde
ließ sogar schon (sollt ich denken)
von besonntem Märzenwinde
kleine, grüne Knospen schwenken.
In die Herzen kam ein Hoffen,
in die Augen kam ein Flüstern –
und man ließ den Mantel offen,
und man blähte weit die Nüstern ...

Ja, es waren schöne Tage.
Doch sie haben uns betrogen.
Frost und Sturm und Schnupfenplage
sind schon wieder eingezogen.
Zugeknöpft bis an den Kiefer
flieht der Mensch die Gottesfluren,
wo ein gelblichweißer, tiefer
Schnee versteckt die Frühlingsspuren.
Sturmwind pfeift um nackte Zweige,
und der Rasenplatz ist schlammig.
In mein Los ergeben neige
ich das Auge. Gottverdammich!

(Erich Mühsam)
Struwwelpeter
schrieb am 27.03.2013, 11:50 Uhr

Der März

Sonne lag krank im Bett.
Sitzt nun am Ofen.
Liest, was gewesen ist.
Liest Katastrophen.

Springflut und Havarie,
Sturm und Lawinen, -
gibt es denn niemals Ruh
drunten bei ihnen.

Schaut den Kalender an.
Steht drauf: "Es werde!"
Greift nach dem Opernglas.
Blickt auf die Erde.

Schnee vom vergangenen Jahr
blieb nicht der gleiche.
Liegt wie ein Bettbezug
klein auf der Bleiche.

Winter macht Inventur.
Will sich verändern.
Schrieb auf ein Angebot
aus andern Ländern.

Mustert im Fortgehn noch
Weiden und Erlen.
Kätzchen blühn silbergrau.
Schimmern wie Perlen.

In Baum und Krume regt
sich's allenthalben.
Radio meldet schon
Störche und Schwalben.

Schneeglöckchen ahnen nun,
was sie bedeuten.
Wenn Du die Augen schließt,
hörst Du sie läuten.
(Erich Kästner)

Wanderer
schrieb am 27.03.2013, 12:04 Uhr
Hallo, März!

Hallo,März,da bist du!Fein!
Freuen sich die Bauern!
Spannen ihre Rösslein ein,
die ja darauf lauern.

Sonne flutet Feld und Flur,
und die Quellen sprudeln.
Leben kommt in die Natur,
Omas gehn mit Pudeln.

Erste Blümlein blühen auf
unter Himmels Bläue.
Menschen machen Dauerlauf,
glücklich grunzen Säue.

Laken flattern weiß im Wind,
Vögel singen Lieder.
Mutti lächelt gütig lind,
semmelt Vati nieder,

der ihr an die Wäsche will.
Nicht mehr lang,dann ist April.

Bernd Penners
Struwwelpeter
schrieb am 08.04.2013, 12:21 Uhr
Alle Birken grünen in Moor und Heid'

Alle Birken grünen in Moor und Heid';
Jeder Brambusch leuchtet wie Gold.
Alle Heidlerchen jubeln vor Fröhlichkeit;
Jeder Birkhahn kollert und tollt.
Meine Augen gehen wohl hin, wohl her
Auf dem schwarzen, weißflockigen Moor,
Auf dem braunen, grünschimmernden Heidemeer,
Und steigen zum Himmel empor.
Zum Blauhimmel hin, wo ein Wölklein zieht,
Wie ein Wollgrasflöckchen, so leicht;

Und mein Herz, es singt ein leises Lied,
Das auf zum Himmel steigt;
Ein leises Lied, ein stilles Lied,
Ein Lied so fein und so lind
Wie ein Wölklein, das über die Bläue zieht,
Wie ein Wollgrasflöckchen im Wind.

(Hermann Löns)

Um Beiträge zu verfassen, müssen Sie sich kostenlos registrieren bzw. einloggen.