Pfarrer Helmut Kramer: Das Befreiende des Glaubens entdecken

15. Oktober 2000

Mitteilungen der HOG

Beim siebenten Nachbarschaftstag der Brenndörfer hielt Pfarrer Helmut Kramer folgende Predigt am 7. Oktober 2000 in der Jakobus-Stadtkirche Brackenheim. "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." (1. Johannes 5,4)
Liebe Schwestern und Brüder!

Eine Fülle von Eindrücken prägen diesen Tag. Die Freude des Wiedersehens dominiert sicherlich bei den meisten. Es tut gut, sich nach langer Zeit wieder einmal auszutauschen. Aber dann gibt es auch Erinnerungen: Erinnerungen, die aufgefrischt werden; Erinnerungen an liebe Menschen, die heute nicht oder nicht mehr unter uns sind; Trauer um den Verlust von Weggefährten, die beim letzten Mal noch dabei waren; Erinnerungen an die heimatlichen Gefilde, den Heimatort, die Heimatkirche; Fragen an die Zukunft der Heimatkirche; Fragen an unseren, an meinen Alltag; Fragen an meine, an unsere Zukunft hier.

Viele dieser Fragen werden wir heute stellen; einige werden unbeantwortet bleiben. Und viele dieser Fragen werden wir gar nicht erst aussprechen. So ist das eben: vielleicht, weil es weh tut, sie zu stellen; vielleicht, weil wir müde oder es leid geworden sind, immer und immer wieder an die gleichen Dinge erinnert zu werden. Vielleicht, weil wir gewisse, leidvolle Erfahrungen immer noch nicht überwunden haben - sie holen uns eben immer wieder ein.

Auf unser Liedblatt habe ich auf die Rückseite ein Bild von Brenndorf gepackt. Es sollte ein schönes Bild sein. So war es jedenfalls, das Original: ein schönes Erinnerungsstück. Mein Drucker hat es nicht geschafft, das eingescannte Bild hochauflösend auszudrucken und durch die Kopie wurde es zusätzlich verzerrt. So wird dieses Bild selber zu einem Bild: zum Bild für verblassende Erinnerungen. Mit der Zeit werden die Konturen immer schwächer; die Kontraste verwischen; Umrisse werden zu Schatten. Erinnerungen verblassen: die Kirche, die über Jahrhunderte hinweg alle Erdbeben überstand; die Schule, in der ich einst lernte; der Friedhof mit den gepflegten Anlagen, auf dem vielleicht die Eltern oder Großeltern liegen; der Elternhof selber und die Tage der unbesorgten Kindheit - das alles liegt weit, weit zurück. Es verblasst immer mehr; muss verblassen; denn ich lebe nun in einer anderen Welt: Effizienz und Anpassungsfähigkeit sind gefragt; Flexibilität; Mobilität...

Erinnerungen verblassen in einer schnelllebigen Zeit. Gibt es überhaupt etwas, das bleibt, das nicht verblasst, das nicht vergeht; sondern das uns hält, uns trägt; uns so etwas wie Ausgeglichenheit, Stabilität, Geborgenheit gibt?

"Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." Aufs Erste klingt dieser Spruch ein wenig verwegen. Wieso ist der Glaube ein Sieg? Der Alltag scheint uns doch eines anderen zu belehren: oft wird Glaube als Schwäche missverstanden, oft wird er als nutzlos und unwirksam hingestellt. "Glaube ist Privatsache", sagen viele, man spricht nicht gerne davon: mein Sexualleben kann im Fernsehen breitgetreten werden, aber doch nicht mein Glaube; da ziert man sich. Häufig hört unsereins die Frage: Glaube? Was habe ich davon, was bringt er mir, was schlägt dabei zu Buche? Und: was bringt mir denn meine Mitgliedschaft in einer Kirche? So, wie bei einer Kosten-Nutzen-Rechnung wird knallhart kalkuliert und aufgerechnet.

Und wie ist das bei uns? Was schlägt bei unserem, bei meinem Glauben zu Buche?

Ich habe heute etwas mitgebracht: einen schlichten, einfachen Holzrahmen. So einen, den wir verwenden, wenn wir ein Bild oder ähnliches einrahmen wollen. (Mir fällt jetzt gerade das eingerahmte Bild ein, das bis 1989 in allen öffentlichen Räumen zu hängen hatte - Gott sei Dank: Erinnerungen können auch verblassen.) Heute sagt mir dieser Rahmen, dass alles in unserem Leben seinen Rahmen hat: Normen, Konventionen, Abmachungen, Verträge; Umgangsformen, Auffassungen und Meinungen. Irgendwie hat so ein Rahmen eine Schutzfunktion: Er soll das Schlechte ausschließen; er soll uns Unerwartetes oder Unerwünschtes vom Leibe halten. Er soll uns Sicherheit geben. Aber nun empfinden wir solche Rahmen manchmal gerade als eng und unbequem, als hinderlich, als Gefängnis. In einem Jugendlied heißt es: "Gesellschaftliche Normen bestimmen unser Leben und nur der Starke bleibt bestehen, wer schwach ist, hat kein Recht mehr auf ein lebenswertes Leben, weil wir es nicht besser verstehen. Gefragt ist nicht die Fähigkeit, zu lieben und zu geben; gefragt ist deine Leistung und dein Geld. Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt des Lebens, er ist auf ein Abstellgleis gestellt." Aus solch einem Gefängnis möchte man gerne ausbrechen, man möchte buchstäblich aus dem Rahmen fallen.

Manchmal wünsche ich mir, wir könnten die Sachzwänge unserer Zeit und unserer Gesellschaft erkennen und ihre Hintergründe entlarven; ich wünsche mir, wir hätten den Mut und die Kraft, uns dagegen zu stellen. Ich denke da an jemand, der das gut konnte: den Rahmen sprengen und gegen die Erwartungen leben: Ich denke an Jesus. Er versuchte zuallererst, den Rahmen zu sprengen, in den Menschen immer wieder Gott hineinzwängen wollten. Gott ist nicht irgendwo, weit weg, sagte er, sondern er ist uns nah, wie Vater und Mutter. Wir brauchen nicht in abgestandenen Formeln mit ihm zu reden, sondern wir können es so vertrauensvoll tun, wie wir mit lieben und vertrauten Menschen sprechen. Wir brauchen auch nicht denken, dass die Gebote Gottes uns eingrenzen wollen, nach dem Motto: was Spaß macht, darf man ja sowieso nicht, sondern im Gegenteil: sie wollen nur unser Glück sicherstellen und wenn sie das nicht mehr tun, dann müssen wir eben noch einmal darüber sprechen und vielleicht auch nachfragen, ob sie denn wirklich Gottes Gebote sind bzw. was wir daraus gemacht haben. Jesus hat vorgemacht, wie man den eigenen Rahmen dann überschreiten kann und muss: er hat sich, wenn es sein musste, mit seinen Zeitgenossen angelegt. Und diese Sätze stammen von ihm: für den Himmel muss man alles, was man hat, wegschenken können. In den Himmel kommen nicht die, die reichlich spenden, sondern die beim Spenden nicht rechnen. In den Himmel kommen nicht die, die zwischen Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht fein säuberlich zu unterscheiden wissen, sondern die sich ihrer eigenen Schuld und ihrem eigenen Unrecht stellen. Mitunter hat es den Eindruck, dass Jesus sich mit dem ganzen gesellschaftlichen Rahmen seiner Zeit angelegt hat. Und so sah es aus, als Jesus den Rahmen endgültig sprengte: so soll es aussehen, wenn wir auf seiner Seite aus dem Rahmen fallen: [- der Rahmen wird zu einem Kreuz umgesteckt - ] alle Balken sind noch da. Aber sie schließen nicht mehr ein. Sie verbauen keine Aussicht mehr. Sie geben frei. Und sie bleiben doch da, sozusagen als Haltepunkte, wenn sie zur Orientierung oder als Stütze gebraucht werden. Mitunter ist das auch nötig, denn wenn man aus dem Rahmen fällt, kann es auch Ärger geben. Jesus ist er nicht erspart geblieben.

Wenn wir heute fragen, wie das aussehen kann in unserem Leben, dann möchte ich nur sagen: ein Glaube, der Sieg ist, beginnt dort, wo ich etwas nicht glauben und nicht sagen will, nur, weil alle es glauben und alles es sagen. Der Glaube beginnt dort, wo ich mich nicht mehr verlieren brauche an Zwänge, an beengende und eingrenzende Lebensumstände. Der Glaube beginnt dort, wo ich merke: da gibt es noch den anderen, und dessen Glück ist nicht mehr sichergestellt und dagegen kann und muss ich etwas tun. Der Glaube beginnt da, wo ich mich öffnen und führen lasse durch diese Balken. Wenn ich das tue, dann brauche ich die Kosten-Nutzen-Rechnung nicht mehr anstellen. Ich wünsche uns Mut, den Rahmen, der uns so oft gefangen hält, zu sprengen - auch die Fesseln unserer Erinnerungen - und uns auf das Befreiende des Glaubens einzulassen. Ich wünsche uns Mut, die Freiräume zu entdecken, die zwischen den Balken dieses Kreuzes noch unerschlossen sind. Wenn wir diesen Mut haben, dann tun sich uns neue und helle und weite Gefilde auf...

Pfarrer Helmut Kramer

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