Pfarrer Helmut Kramer: Die Chance, mehr wir selbst zu sein

25. Oktober 2003

Mitteilungen der HOG

Predigt von Pfarrer Helmut Kramer beim Gottesdienst am 18. Oktober 2003 in Brackenheim. 1. Samuel 16,7 (Jahreslosung 2003): "Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an."
Zwei Menschen, die einander sehr vertraut sind, sitzen schweigend nebeneinander. Da fragt der eine plötzlich: "Was denkst du gerade?" Er bekommt zur Antwort: "Ach, nichts Besonderes". Diese Szene hat jede(r) von uns schon mindestens einmal erlebt. Manchmal möchten wir gerne wissen, was dem Menschen, der uns nahe steht, gerade durch den Kopf geht. Wir können versuchen, in seinem Gesicht zu lesen: sein Gesichtsausdruck, seine Mimik verrät, ob ihn etwas belastet, oder ob er mit seinen Gedanken weit weg ist. Bis "vor die Stirn" können wir ihm schauen - weiter nicht; an seinen Augen können wir das eine oder das andere erkennen. Aber was in ihm wirklich vorgeht, lässt sich so nicht ergründen.
Gottesdienst in der Jakobus-Stadtkirche in ...
Gottesdienst in der Jakobus-Stadtkirche in Brackenheim, von links: Pfarrer Helmut Kramer, Pfarrer i.R. Helmut von Hochmeister und Helmut von Hochmeister jun. Foto: Petra Reiner
Die Gedanken bleiben frei und unlesbar. Zwar kenne ich den mir vertrauten Menschen gut; ich kann seinen Gesichtsausdruck, seine Körperhaltung oder seine Gesten deuten. "Ich sehe doch, dich bedrückt etwas" oder "Ich kann dir ansehen, dass du Schmerzen hast". Trotzdem: selbst

wenn zwei Menschen einander sehr vertraut sind, wissen sie nicht alles voneinander. Es kann ein Geheimnis geben, das der andere im Herzen versteckt hält. Oder ein Gedanke ist einfach nicht spruchreif, er muss noch ein paar Mal hin und her bewegt werden. Ich selbst bin in manchen Situationen froh, einen Gedanken noch für mich behalten zu können, weil er noch nicht ausgereift ist. Voreilig ausgesprochen würde er sicher den anderen Menschen verletzen. Und manchmal bin ich froh, dass meine Mitmenschen nicht wissen, was ich denke. Eine schlimme Vorstellung, jemand könnte die Gedanken des anderen lesen.

"Ein Mensch sieht, was vor Augen ist". Dieses Sehen sollte ausreichen, um ein liebevolles Miteinander zu gestalten: Eltern entwickeln ein Gespür dafür, was ihrem Säugling fehlt, wie er empfindet oder warum er unzufrieden ist. Ehepartner sind sensibel für die gegenseitigen Stimmungen und nehmen Rücksicht. Einem Arbeitskollegen sehe ich an, wann ich ihn besser in Ruhe lasse.

"Der Herr aber sieht das Herz an." Das Herz ist unser Innerstes, nicht nur der Taktgeber des körperlichen Lebens, sondern auch das Zentrum der Gefühle, der Sehnsüchte, des Begehrens; der Sitz unseres Gewissens, wenn das Gewissen zur moralischen Instanz wird. Im Herzen gibt es keine Heimlichkeiten. Und Gott sieht dieses Herz an, sieht in es hinein. Vor meiner Partnerin kann ich mich vielleicht verstellen und ihr Liebe vorspielen. Einem Mitmenschen kann ich Interesse an seinem Schicksal vorgaukeln. Gott kann ich nichts vormachen.

Ist dies eine beruhigende Vorstellung? Oder macht sie Angst und verunsichert sie? "Der liebe Gott sieht alles!" Damit wurde uns als Kindern gedroht, nichts Verbotenes zu tun. Und dahinter versteckte sich die Drohung: Alles kommt irgendwie raus! Dieses Gottesbild hat reichlich Schaden angerichtet. Richtig ist allerdings: Ich könnte mich noch so verstellen, Gott erkennt, was nicht echt an mir ist. Spielte ich den Gönner, den Engagierten, den Starken, den Charmanten, und machte mir und meinem Mitmenschen damit etwas vor: - ihm könnte ich nichts vormachen; Gott würde mich durchschauen.

Kann uns ein so verstandenes Wort durch die Jahre und Zeiten tragen? Ich glaube: Ja, wenn wir wissen und vertrauen, dass Gott seine Einsicht in unser Innerstes nicht missbraucht, um uns bloßzustellen. Es ist kein bohrender Röntgenblick, der mein Innerstes nach außen kehrt. Menschen könnten in Versuchung geraten, das zu tun, aber nicht er, der unser Herz mit Güte ansieht. Gottes Herzensblick ist voller Wärme und Zuwendung. Deshalb brauche ich ihm nichts vorzumachen. Vor Gott bin ich der, der ich bin. Nicht mehr, aber vor allem nicht weniger. Ich darf der Zweifler sein, der Verunsicherte, der Suchende, der Unzufriedene, und ich brauche dabei meine Position, meinen Job, mein Ansehen in der Gesellschaft nicht zu riskieren. Ich kann zu meinem Frust stehen, ich kann meine Enttäuschung zugeben oder meine Freude zulassen. Ich darf einfach ich selbst sein, so wie ich in dieser Zeit bin. Ich stehe nicht nackt vor Gott, auch wenn er meine innersten Seiten kennt. Die Menschenfreundlichkeit und Liebe, die er jeder und jedem von uns schenkt, die kleiden mich. Das Wissen, vor Gott ganz ich selbst zu sein, befreit. Das befreit von dem Druck, mir selbst etwas vorzumachen. Ich kann lernen, zu mir zu stehen, als der Mensch, der ich bin und nicht der, der ich sein soll. Ich darf aber auch die innere Freiheit haben, mich zu verändern. Manchmal ist das nötig. Veränderung braucht Sicherheit, bedarf der Gewissheit, grundsätzlich angenommen zu sein.

Übrigens - erinnern Sie sich noch, an welcher Stelle der Bibel dieses Wort steht? Die Geschichte war Bestandteil des kirchlichen Unterrichts: Samuel der Prophet, wird von Gott ins Land geschickt, er soll einen neuen König salben. Auf Gottes Geheiß sucht er einen Mann in Bethlehem auf - Isai - der sieben stattliche Söhne hat. Einer von ihnen soll der neue König sein - meint Samuel. Doch er muss sich von Gott sagen lassen: Ein Mensch sieht, was in die Augen fällt; ich aber sehe ins Herz. Keiner der sieben, von denen einer stattlicher ist als der andere, ist der Auserwählte. Schließlich lässt Samuel den letzten, den kleinsten und jüngsten Sohn holen, der draußen die Schafe hütet. David heißt er; und als der kommt, weiß der Prophet plötzlich: das ist er. Das Land hat wieder einen König. Nichts Menschliches ist diesem König fremd. Schonungslos wird er gezeichnet als der, der seine Macht auch durchaus missbraucht hat. Und doch: Gott bleibt ihm nahe, weil er das Innerste durchschaut hat und weiß: der meint es grundehrlich. So bleibt die Davidsgeschichte ein großes Bild für eine besondere Freiheit: Sie weist auf unseren Verbündeten hin, dem wir nichts vorzumachen brauchen. Damit eröffnet auch uns dieses Bibelwort die Chance, auch bei unseren Mitmenschen mehr wir selbst zu sein. Als stimmige Menschen begegnen wir einander, mit unseren Schwächen und Fehlern, aber auch mit unseren vielen Stärken und Begabungen.

"Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an". - "Ein Mensch sieht, was in die Augen fällt; ich aber sehe ins Herz". Ein gutes Wort - einen ganzen Wegabschnitt lang.

Pfarrer Helmut Kramer

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