Pfarrer Helmut Kramer: Liebe und Lebenserfüllung im Hier und Jetzt

21. Dezember 2006

Mitteilungen der HOG

Predigt von Pfarrer Helmut Kramer am 23. September 2006 in der Jakobus-Stadtkirche zu Brackenheim. Bibelworte: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. (Psalm 103,2) „Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“ (1. Petrus 5,7)
Eine alte Legende erzählt von zwei Mönchen, die in einem alten Buch die Verheißung fanden: Am Ziel der tausend Straßen dieser Welt sei ein Ort, wo Himmel und Erde einander berührten. Dort sei eine Tür, und wer mit reinen Händen anklopfe, dem werde sie aufgetan, und er werde über die Schwelle hineingehen in den nahen Glanz Gottes.

Die beiden Mönche wurden von einer großen Unruhe und Sehnsucht ergriffen, jene Tür zu suchen und zu finden. Sie erbaten sich Urlaub und verließen ihr Kloster. Sie wanderten über die tausend Straßen dieser Welt. Sie schritten durch die tausend Versuchungen des Lebens. Sie trugen die tausend Leiden des Unterwegsseins. Sie wurden alt und müde bei ihrer Wanderung. Aber die Sehnsucht nach dem nahen Glanz Gottes blieb jung in ihren Herzen. Und eines Tages waren sie am Ziel. Da war die Tür. Da war die Schwelle. Da war der Weg in den nahen Glanz Gottes. Zaghaft, wie Kinder vor der Weihnachtstür, klopften sie an. Wie Kinder schlossen sie die Augen, als die Tür sich auftat. Wie Kinder fassten sie sich an der Hand und überschritten die Schwelle, geschlossenen Auges.
Der Kirchenchor unter der Leitung von Detlef ...
Der Kirchenchor unter der Leitung von Detlef Copony gestaltete den Gottesdienst in der St. Jakobuskirche musikalisch mit, an der Orgel spielte Hans-Günther Mörk. Foto: Petra Reiner
Dann blickten sie auf, erwartend den nahen Glanz Gottes. Und siehe, sie fanden sich wieder in der Zelle ihres Klosters, aus der sie aufgebrochen waren vor langer Zeit. Auf dem Tisch lag die Bibel aufgeschlagen. Und die Glocke rief zum Morgengebet. Warum diese Geschichte? Weil sie sehr eindeutig und eindrücklich belegt, wie nahe aneinander Lebenserwartung und Lebenserfüllung liegen können. Die Grundbotschaft dieser Legende ist wohl die Einsicht, dass Gott seinen Menschenkindern Liebe und Lebenserfüllung nicht erst grundsätzlich in jenseitiger Ferne verheißen und versprochen hat, sondern im gelebten Leben, im Hier und Jetzt. Da sind sie regelrecht hineingelegt – nicht als abstrakte und unfassbare Größen, sondern durchaus als ganz reale Gegenwart. Und es ist mit in des Menschen Hände hineingelegt, was er daraus macht. Und gerade darum ist das Fazit an den Schnittpunkten des Lebens immer ein Ausblick, der viel Weite offen lässt und doch sehr konkret bleibt: Der Himmel ist gar nicht so weit weg, wie wir mitunter meinen; sondern er ist da, wo ich lebe; der nahe Glanz Gottes verwirklicht sich in meinem Alltag – in der Art und Weise, wie ich in den Gesichtern der anderen Gottes Angesicht suche und finde; wie ich merke: der andere ist ein Menschenkind wie ich – Gott selbst begegnet mir in ihm; in meiner Schwester und meinem Bruder- Gottes Liebe in Reinkultur. Ich glaube aber, dass diese Legende für uns alle auch insgesamt eine weitere Botschaft bereithält: für die einen die Frage, die sie sich mitunter ganz ehrlich stellen müssen – vielleicht tut diese Ehrlichkeit an einem gewissen Punkt auch weh: „Was sind wir ausgezogen, zu suchen? Was haben wir gefunden? Haben wir den Mut eine Zwischenbilanz zu ziehen? Hat sie vor uns selbst und vor Gott Bestand?“ Und für die anderen – und ich denke da auch an die Gäste aus der Heimat – für die anderen mag es ein Stück Ermutigung sein: das, was wir tun und was unser Auftrag ist, steht immer noch unter dem Segen Gottes. Solange es diesen Standort hat, wird es Zukunft haben, wie immer diese auch aussehen mag – denn Gottes Glanz scheint durch in dem, was wir tun.

Zu einer anderen Geschichte möchte ich mit den beiden Wochensprüchen eine Brücke schlagen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Es stimmt: die Wohltaten in unserem Leben vergessen wir allzu leicht. Es stünde uns insgesamt nicht schlecht an, uns mitunter daran erinnern zu lassen. Wer aber den Psalm weiterliest, merkt: „Hier geht es um mehr. Hier lobt einer Gott mit folgenden Worten: Lobe den Herrn, meine Seele, vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat; der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen; der dein Leben vom Verderben erlöst; der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit“. Welche Abgründe menschlicher Existenz und welche Dimensionen der Rettung und Bewahrung tun sich da auf? Sind wir in der Lage das nachzuvollziehen? Sind wir in der Lage, Menschen, die von Schicksalsschlägen oder Misserfolgen im Leben gezeichnet sind, mit zu begleiten? Als wollte es beschwichtigen, klingt auf diesem Hintergrund jenes andere Wort aus dem Petrusbrief: Alle eure Sorge werfet auf ihn, (Gott) denn er sorgt für euch. Aber Beschwichtigung ist das nicht. Es ist die Einladung, all das abzugeben, was unsere Kräfte übersteigt. Fakt ist, dass wir Lasten, die drücken, leichter machen können, indem wir mittragen helfen. Genau das meint der Predigttext für morgen, der das Wort des Paulus aufgreift: „Tragt einander und wechselseitig die Lasten, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal. 6.2) Damit wir das können, sollten wir selbst in mancher Hinsicht lastenfrei sein. Es tut gut zu wissen, dass wir das dürfen.
Gottesdienst in der St. Jakobuskirche in ...
Gottesdienst in der St. Jakobuskirche in Brackenheim, v.l.n.r: Pfarrer Helmt Kramer, Pfarrer Dr. Peter Klein, Pfarrer i.R. Helmut von Hochmeister sen., Helmut von Hochmeister und Kuratorin Rosi Rusu. Foto: Petra Reiner
Wie das gemeint ist, will folgende Geschichte von Marianne Schmidt verdeutlichen: „Es begab sich zu einer Zeit, dass ein Mensch mit einem Karren durchs Land zog. Er zog von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt. Er ließ den Karren kaum für ein paar Minuten stehen, war besorgt, dass er nicht verloren ginge, und hütete ihn so wie ein Kind. Es war ein einfacher Karren. Er hatte zwei Räder und eine mittelgroße Ladefläche und eine Deichsel, daran ein lederner Gürtel befestigt war, den der Mensch sich um die Schultern legen konnte, um den Karren zu ziehen.

Der Gürtel hatte Spuren auf der Schulter hinterlassen, denn der Karren war schwer. Er war mit allerlei verwunderlichen Dingen beladen, die auf den ersten Blick als nutzloser Ballast erschienen, ungeordnetes, unbrauchbares Zeug. Für den Menschen schienen diese Dinge eine wichtige Bedeutung zu haben. Kaum je trennte er sich von dem einen oder anderen verbrauchten Stück.

Aber er war nicht der einzige Mensch dieser Art. Auf seinen Wegen begegneten ihm viele andere Menschen, die ebensolche Karren mit sich zogen und sich, wenn sie die Hand zum kurzen Gruße hoben, müde, aber unendlich verständnisvoll in die Augen sahen. Nie fragte einer den anderen, was er geladen habe, nie wunderte sich einer über des anderen Last. Es war, als wäre für jeden nur der eigene Karren von Bedeutung.

Einmal begegnete dem Menschen auf seinen Wegen ein anderer, der hatte offensichtlich viel weniger auf seinem Karren geladen. Die Neugierde trieb ihn, nun doch anzuhalten und zu fragen. Denn es machte ihn misstrauisch und neidisch, zu sehen, dass da einer auf gleichen Wegen mit so viel weniger Lasten beladen war. Und er fragte: „Wie kommt es, Reisender, dass du auf deinem hölzernen Karren so wenig geladen hast? Kann es nicht sein, dass du unterwegs wichtige Dinge verloren hast?“

Der Reisende überlegte eine Weile und sagte lächelnd: „Es ist nicht zu wenig darauf. Du musst einfach ein paar alte unbrauchbare Stücke herunterwerfen. Lass sie liegen; dreh dich nicht um und trauere ihnen nicht nach. Du wirst sehen, du brauchst sie eigentlich gar nicht. Und es läuft sich viel leichter dann.“

Der Mensch blickte den anderen ungläubig an. Er nahm seinen Gürtel wieder auf und zog wortlos weiter mit seinem schweren Karren. Aber die Worte verklangen nicht ungehört. Ob er wollte oder nicht, manchmal erschien ihm die Idee verlockend, die schwere Last hinten etwas zu erleichtern. Eines Tages, nahm er sich vor und setzte diesen Tag in unbestimmte Ferne, werde auch ich ein paar Stücke am Wegesrand lassen.

Ein anderes Mal begegnete der Mensch auf seinen Wegen einem anderen. Der zog einen leeren Karren hinter sich her. Die Neugierde trieb den Menschen wieder anzuhalten. Und er fragte: „Warum, Reisender, hast du nichts geladen auf deinem Karren? Hast du denn all dein Hab und Gut verloren?“ Der Reisende sagte mit freundlichem Lachen: „Was soll ich Ballast auf meinem Karren hinter mir herziehen? Ich brauche ihn nicht. Du musst einfach alles herunterwerfen von deinem Karren. Du wirst sehen, dass du nichts vermisst. Und es geht sich viel leichter so.“

Wortlos und noch misstrauischer setzte der Mensch seinen Weg fort. Aber die Worte klangen ihm im Ohr. Eines Tages, nahm er sich vor und setzte diesen Tag in unbestimmte Ferne, werde auch ich alles von meinem Karren werfen.

Ein weiteres Mal begegnete der Mensch einem anderen, der lief ohne Karren seines Weges. Die Neugierde trieb den Menschen nun so stark, dass er schon von weitem rief: „He, Reisender, wo hast du deinen Karren gelassen? Hast du ihn verloren?“

Der Reisende drehte sich einmal um sich selbst, warf die Arme hoch und sprang in die Luft. Als er sich von seinem Lachen beruhigt hatte, rief er: „Wozu sollte ich einen Karren brauchen? Du musst ihn einfach stehen lassen. Du wirst sehn, es läuft sich viel besser ohne ihn.“

Schweigend und mutlos setzte der Mensch seinen Weg fort. Er merkte, wie sein Karren immer schwerer und schwerer wurde und wie ihm der Neid Kräfte raubte.

Eines Tages, nahm er sich vor und setzte diesen Tag in unbestimmte Ferne, werde auch ich meinen Karren stehen lassen.

Aber da merkte er, dass ihm der Gürtel schon zu lange um die Schultern lag und der Karren schon zu schwer nach hinten zog. Er spürte, wie verwachsen er mit dem Gürtel war und dass er den Karren niemals mehr zurücklassen konnte. Und er konnte nicht verhindern, dass ihm noch manches nutzlose Stück aufgeladen wurde.

Soweit die Geschichte von Marianne Schmidt. Das ist das volle Kontrastprogramm, liebe Gemeinde, zu der ersten Geschichte. Wo stehen wir? Wo stehe ich? Lassen wir uns das noch einmal sagen: der Himmel ist gar nicht so weit weg. Es liegt mit an uns, wie wir ihm und Gottes Liebe Raum geben oder ob wir es vorziehen ihn zur Hölle verkommen zu lassen.

Pfarrer Helmut Kramer

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