Das Ende der Geschichte?

16.11.2020, 19:30 Uhr

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Das Ende der Geschichte?

Das Ende der Geschichte?
Siebenbürger Sachsen 30 Jahre nach dem Exodus
Von Prof. Dr. Hans-Christian Maner

Die massive Auswanderung der deutschen Minderheit nach dem gesellschaftspolitischen Umbruch in Rumänien hat eine lange Vorgeschichte. Im 20. Jahrhundert bot das Geschehen um den Zweiten Weltkrieg die Initialzündung für mehrere Migrationswellen. Damit ging auch eine anhaltende Zweiteilung der Geschichte der Siebenbürger Sachsen einher. Die Migration stellt nicht nur für die Gemeinschaft, sondern für jede und jeden Einzelnen ein existenzielles Ereignis dar. Für die in Deutschland Angekommenen stehen Fragen der Integration sowie des Umgangs mit der Herkunftsregion und -identität im Mittelpunkt. Für die Sachsen in Siebenbürgen geht es darum, den Massenexodus und seine Folgen, womit ebenfalls die Identitätsfrage zusammenhängt, zu verarbeiten. Sowohl für die Sachsen in Deutschland wie auch diejenigen in Siebenbürgen steht die Frage nach Zukunftsperspektiven im Raum.

Die Jahre 1989/90 kennzeichnen einen epochalen Einschnitt in der Geschichte Europas. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime im östlichen Europa bedeutete das Ende des „Eisernen Vorhangs“ und damit das Ende der Bewegungsunfreiheit. Wanderungsbewegungen großen Ausmaßes setzten ein. Besonders markant wird diese Entwicklung am Beispiel der DDR. Die Abstimmung mit den Füßen zahlreicher Menschen führte auf direktem Weg zur Maueröffnung und dem Ende der DDR. Auch deutsche Minderheiten aus dem östlichen Europa nutzten die Grenzöffnungen zur Auswanderung aus ihrer zum Teil jahrhundertealten Heimat. Während allerdings deutsche Bevölkerungsgruppen aus Polen und der Sowjetunion Länder verließen, in denen sie ihre Kultur nicht pflegen durften, war die Lage in Rumänien eine andere. Anders als in anderen osteuropäischen Staaten wurden die Deutschen in Rumänien nach 1945 nicht vertrieben. Und dennoch schwoll die Auswanderung der Deutschen aus Rumänien zum Exodus an. Wieso ist es dazugekommen? Antwortmöglichkeiten bieten ein historischer Rückblick und eine Einordnung.

Die lange Vorgeschichte des Exodus
Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen kann seit ihren Anfängen als Migrationsgeschichte erzählt werden. (Im Beitrag wird „Siebenbürger Sachsen“ für „Siebenbürger Sächsinnen und Sachsen“ verwendet.) Einsetzend mit der West-Ost-Wanderung um die Mitte des 12. Jahrhunderts folgte im Mittelalter, der Frühen Neuzeit bis hin zur Ost-West-Wanderung im 20. Jahrhundert eine Reihe von Ein-, Aus- so-wie Binnenwanderungen. Eine entscheidende Ursache für die Loslösung der Siebenbürger Sachsen von dem Staat und dem Gemeinwesen, in dem sie lebten, ist im 19. Jahrhundert zusuchen, als die Umwandlung von einer Rechtsgemeinschaft, einer „Nation“, zu einer „nationalen Minderheit“ statt-gefunden hat.
Im 20. Jahrhundert markierte der Zweite Weltkrieg den Ausgangspunkt für die nachfolgenden großen Ost-West-Migrationsströme. Wie auch die anderen deutschen Minderheiten Rumäniens gerieten die Sachsen während der 1930er und 1940er Jahre in das Räderwerk der Propaganda und Kriegspolitik des nationalsozialistischen Deutschland. Nach dem Ende des Weltkrieges fanden sich Soldaten, die auch aufgrund des Waffen-SS-Abkommens von 1943 in deutschen Armeeeinheiten gekämpft hatten, Flüchtlinge aus Nordsiebenbürgen, das Rumänien nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch an Ungarn abtreten musste, aber auch aus Mittelsiebenbürgen sowie nach der Deportation in die Sowjetunion Entlassene in Deutschland und Österreich wie auch in den USA und in Kanada wieder. Viele Männer und Frauen aus diesen Gruppen kehrten nicht mehr nach Rumänien zurück. Die zerrissenen Familien, aufgelösten und zerstörten Nachbarschaften und Wohngemeinschaften waren Auslöser für die erste Auswanderungs- bzw. Flucht- und Vertriebenenwelle, die zugleich auch eine anhaltende Zweiteilung der Geschichte der Siebenbürger Sachsen einleitete. Mit der Etablierung des kommunistischen Regimes, nach Beseitigung der politischen Gegner und der Abschaffung der Monarchie setzte ab 1948 eine lang anhaltende zweite Phase der mitunterschiedlicher Intensität erfolgten Auswanderung während der totalitären Herrschaft ein, die natürlich auch auf dem Hintergrund des Kalten Krieges gesehen werden muss. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen Rumäniens stellten das grundlegende Motiv für die Emigration dar. Die ersten Nachkriegsjahre standen für Repression und Ausgrenzung der deutschen Minderheitengruppen. Durch die Deportation gezeichnet, waren die Siebenbürger Sachsen dem Vorwurf der Kollaboration („Faschisten“ und „Hitleristen“) und damit der kollektiven Schuld ausgesetzt. Die Enteignungen des Bodens, der Höfe und Arbeitsgeräte 1945 sowie nachfolgend der Großbetriebe, Banken, der Kaufleute und Handwerker entzogen der Minderheit die Existenzbasis. Hinzu kam, dass die deutsche Bevölkerung Rumäniens zwischen 1946 und 1950 kein Wahlrecht besaß und damit rechtlos und der Willkür ausgesetzt war. Auch wenn die Maßnahmen gegen die Minderheit in den 1950er Jahren gelockert wurden, blieb das Misstrauen bezüglich der Politik bestehen. Repression, Verfolgungen, Verhaftungen, Terrormaßnahmen, die sich auch gegen andere Minderheiten sowie die Mehrheitsbevölkerung richteten, hielten an. Die Anfangsjahre unter Nicolae Ceauşescu in den 1960er Jahren markierten zwar eine Phase der Entspannung, doch recht bald verwies das Konzept des Nationalkommunismus auf eine Minderheitenpolitik, die eine verschärfte Homogenisierung und Assimilierung zum Ziel hatte. In den 1950er und 1960er Jahren bewegten sich die Auswanderungszahlen auf einem überwiegend konstanten Niveau. Mit den 1970er Jahren ist dann ein markanter Anstieg der Zahlen zu verzeichnen. Zwischen 1970 und 1974 siedelten mit 29802 Mitgliedern der deutschen Minderheit mehr Menschen nach Deutschland als in den 1950er und 1960er Jahren zusammen. Zwischen 1980 und 1984waren es 72824 Aussiedler und von1985 bis 1989 kamen noch 78337 hinzu. (In den Statistiken werden die Siebenbürger Sachsen nicht gesondert ausgewiesen.) Ausgangspunkt waren die sich aktiver gestaltenden deutsch-rumänischen Kontakte nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien 1967. Während des Besuchs von Nicolae Ceauşescu in Bonn im Juni 1973 wurden „humanitäre Fragen“, d. h. die Familienzusammenführung, angesprochen. Im Januar 1978 folgte während des Besuchs von Helmut Schmidt in Rumänien das sogenannte „Handschlagabkommen“. Konkrete jährliche Ausreisezahlen waren die Folge. Geldzahlungen durch die Bundesrepublik, die die Ausreise von Rumäniendeutschen fördern sollten und die bereits seit den 1950er Jahren flossen, spielten bei der Zunahme der Auswanderungszahlen in den 1970er Jahren eine wichtige Rolle. Der vereinbarte „Freikauf“ bzw. „Aufkauf“ der Sieben-bürger Sachsen (und auch der anderen deutschen Gruppen wie der Banater Schwaben), die Politik der Bundesrepublik sowie die Haltung der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in der Bundesrepublik, all diese miteinander verwobenen Push- und Pull-Faktoren, also abstoßende wie anziehende Faktoren, hatten einen entscheidenden Einfluss auf das Weggehen der Deutschen aus Rumänien. Die Familienzusammenführung war die nach wie vor von allen Seiten vorgebrachte zentrale Motivation. Dieser Begriff, der sich in den 1950er Jahren zunächst nur auf die Kleinfamilie (Eltern und Kinder) bezog, erfuhr ab den 1970er Jahren eine entscheidende Erweiterung mit gravierenden Folgen für den Zusammenhalt von Großfamilien. Die Zusammenführung von Familien ging auch einher mit einer „Familienauseinanderführung“.

Das Ende des totalitären kommunistischen Regimes
Die Flucht von Nicolae und Elena Ceaușescu am 21. Dezember 1989, deren Hinrichtung am 25. Dezember und das revolutionäre Aufbegehren der Menschen ließen Hoffnungen aufkeimen. Nicht wenige Städte in Siebenbürgen erhielten zur Ehrung der Opfer während der Dezembertage den Titel „Märtyrer-Stadt“, ebenso auch Hermannstadt, wo sich am Großen Ring Menschen während der Ereignisse in einem Reigen, aber einige auch noch ungläubig und abwartend um einbrennendes Auto als Symbol der Staatsmacht und der Securitate versammelten. Das Ende des totalitären Regimes und der Wegfall von Restriktionen bedeuteten jedoch keineswegs ein Nachlassen des Auswanderungsdrucks oder gar das Ende der Auswanderung, sondern genau das Gegenteil. Die Öffnung der Grenzen wirkte wie ein Dammbruch. Die aufgestauten Sorgen, Unzufriedenheiten und Frustrationen, das Gefühl des Fremdgewordenseins im eigenen Land, die lange vorher mental odertatsächlich gepackten Koffer, die nach wie vor bestehende Rechtsunsicherheit, die Ungewissheit darüber, ob die neuen Freiheiten von Dauer sein würden und ob die Lage der Minderheiten sich tatsächlich verbessern würde, führten letztendlich zu einer Auswanderungswelle größten Ausmaßes. Der Versuch des bundesdeutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, in einer Rede im Januar 1990 in Hermannstadt der Entwicklung Einhalt zugebieten („das Tor bleibt offen“), lief ins Leere. Zu groß war die Skepsis, die Bundesrepublik Deutschland könnte die Ausreise an neue Bedingungen knüpfen, was sich dann auch bestätigte. Insgesamt verließen 1990 schließlich 111150 Deutsche Rumänien. Bis Ende des 20. Jahrhunderts, zwischen 1995 und 1999, übersiedelten noch 14440 Menschen nach Deutschland. Danach gingen die Zahlen kontinuierlich zurück, von 2010 bis 2018 waren es dann noch 121 Personen. Die Anzahl der Deutschen in Siebenbürgen ist somit von ca.251000 zu Beginn der 1940er Jahre auf etwa 16000 zu Beginn des 21.Jahrhunderts gesunken. Die Entscheidung zur Migration war ein komplexer, schwieriger und schmerzvoller Prozess, bei dem eine Reihe von Faktoren eine wichtige Rolle spielte. Neben der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Lage waren das familiäre, das gemeinschaftliche und das individuelle Umfeld grundlegend. Die Zerrissenheit der Familien, gefolgt von dem Verlust der Freunde waren auch für den Exodus1990 entscheidend. Insbesondere für die Menschen in den Dörfern war der Lebenshalt durch das Aufbrechen zentraler Pfeiler wie der Gemeinschaft sowie der Nachbarschaften weggebrochen. Unsicherheiten und Zukunftsängste haben ganze Dorfgemeinschaften dazu bewogen, Siebenbürgen nach einem tränenreichen Abschied zu verlassen.
Während bis 1989 zu den politischen Gründen das totalitäre Regime, die Repressionen und das Überwachungssystem der Securitate als Motive für die Ausreise zählten, waren es ab 1990 die Mängel des Transformationsprozesses: Verwaltungs- und Führungsmängel, Willkür, Korruption und Kriminalität. Ein zweites markantes Motiv für die Migration vor wie nach1990 blieb das ökonomische: Inflation und Arbeitslosigkeit (nach 1990) im Herkunftsland und die Aussicht aufbessere Lebensbedingungen, Ausbildungs- wie Berufschancen im Zielland. Schließlich spielten subjektive bzw. irrationale Gründe eine nicht zuunterschätzende Rolle bei der Entscheidung für die Emigration: der alte wie neue Nationalismus in Rumänien als Push-Faktor sowie der Mythos Deutschland und die Sehnsucht nach Freiheit als Pull-Faktoren. Wirk- und deutungsmächtig war die Erzählung von den Wurzeln und der Herkunft der Siebenbürger Sachsen, die eine Rückkehr ins „Mutterland“ begründete. Hinzu kamen die Betonung der ethnischen Zugehörigkeit und die damit verbundene Angst vor dem Verlust der deutschen Kultur. Was bedeutete die Migration für die aus Siebenbürgen Ausgewanderten wie für die in Siebenbürgen Verbliebenen?

Integration und Existenz in Deutschland
Bundesdeutsche Außenbetrachtungen bezeichnen die Integration der deutschen Aussiedler aus Rumänien als eine gesellschaftliche und berufliche Erfolgsgeschichte. Die Beurteilung der Aussiedler selbst darüber, wie die Integration erfolgt ist, hängt von mehreren Faktoren ab: dem Alter, dem Aussiedlungszeitpunkt, dem Herkunfts- sowie dem Zielort. Neben positiven Selbstdarstellungen stehen auch Bilder von einem schwierigen längeren oder kürzeren Prozess des Einfindens in die neuen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Strukturen in Deutschland. Angekommen zu sein bei Familie und Freunden in politisch wie wirtschaftlich gesicherten freiheitlich-demokratischen Strukturen, umgeben von vertrauter Sprache und Kultur, aber auch Orientierungslosigkeit, Verunsicherung, Heimweh, die Betrachtung als „Rumäne“ bzw. „Rumänin“, „fremde Deutsche in deutscher Fremde“ oder sich zwischen den Welten zu befinden, all diese Tatsachen und Empfindungen prägten und prägen die Integration. Darüber hinaus können zwei unterschiedliche Integrationsmuster beobachtet werden. Während die eine Gruppe nach einer Angleichung an die bundesdeutsche Gesellschaft sucht und sich von Bezügen und Verbindungen zur Herkunftsregion trennt, ist eine andere Gruppe ganz bewusst darum bemüht, Kultur und Traditionen zu erhalten, zu pflegen und weiter zugeben. Mit Hilfe eines gut ausgebauten Netzwerkes, des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, der Landesverbände, Kreisgruppen, Heimatortsgemeinschaften, Nachbarschaften und einer Reihe von Kultureinrichtungen, wird an einer historisch ausgebildeten und immer wiedererzählten Identität festgehalten. Diese gründet auf markanten Wesensmerkmalen, Bildern, Tugenden und Werten: die Abstammung und viele Jahrhunderte alte Geschichte, die geprägt ist von Leistungs- und Opferbereitschaft sowie Leidenserfahrung, aber auch der Fähigkeit zu Toleranz und Miteinander, getragen von Gemeinschaft und Zusammenhalt. Dadurch wird keineswegs mangelnde Integration in die neue bundesdeutsche Gesellschaft ausgedrückt, ganz im Gegenteil. Siebenbürgen wird, durchaus auch mit nostalgischen Rückblicken, zur „ersten“ oder „alten“ Heimat, während Deutschland als „zweite“ oder „neue“ Heimat angenommen wird. In vielen lokalen und regionalen Treffen bis hin zum jährlich stattfindenden Heimattag in Dinkelsbühl widmen sich Menschen mit viel, größtenteils ehrenamtlichem Engagement der Pflege und Förderung des kulturellen Erbes sowie dem Erhalt der gemeinschaftlichen Verbindungen. Im Mittelpunkt aller Zusammenkünfte, geselliger wie wissenschaftlicher Natur, stellte und stellt sich nach 1990 noch einmal verstärkt und neu die Frage nach dem individuellen wie gemeinsamen Selbstverständnis. Antworten auf diese Frage fallen entsprechend auch den Integrationsstrategien naturgemäß sehr unterschiedlich aus und reichen sehr grob gesprochen in einer großen Spannungsbreite von einer Ablehnung oder Bejahung einer „siebenbürgisch-sächsischen“ Identität, über den Versuch der Verbindung von „alter“ und „neuer“ Identität bis hin zum Sich -Verschließen vor dem „Neuen“ oder der Verklärung früherer Zeiten. Die Suche nach der eigenen Identität durch die wissenschaftliche Erkundung der Vergangenheit stand auch am Anfang der Neugründung des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde in Deutschland. Der inzwischen renommierte und mit zahlreichen fundierten Arbeiten aufwartende wissenschaftliche Verein mitsamt dem Siebenbürgen-Institut sowie der umfangreichen Siebenbürgischen Bibliothek in Gundelsheim als Herzstück hat sich voll und ganz der „Siebenbürgen-Forschung“ verschrieben, wie es auch in der neuen Satzung von 2020 lautet. Wenn eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Siebenbürgen, wie auch der Nachwuchs verdeutlicht, durchaus losgelöst von der Herkunft stattfindet, bleibt die Frage: Welche Wege eröffnen sich den in Deutschland lebenden Siebenbürger Sachsen mit dem Abtreten der Erlebnisgeneration? Welche Folgen hat das für das Selbstverständnis und die Identität?

Die Siebenbürger Sachsen in Siebenbürgen nach dem Exodus
Die Frage, wie eine noch weiterschrumpfende deutsche Minderheit bestehen kann, stellt sich auch für die in Siebenbürgen verbliebenen Sachsen, die die Massenmigration und deren Folgen zu verarbeiten haben. Sehr schnell organisierte sich als Vertretung der deutschen Minderheiten in Rumänien das „Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien“. Bereits seit 1990 sind Vertreter des Forums in den verschiedenen Gremien aktiv, im Parlament Rumäniens oder als Räte in verschiedenen Städten Siebenbürgens. Bis in die Gegenwart des Jahres 2020 beweisen das Landesforum wie auch die Regionalforen, dass es trotz des kleinen zur Verfügung stehenden Personenkreises und angesichts der zu bewältigenden Mammutaufgaben in der Lage ist, ein enormes Arbeitspensum zu bewältigen und kreative Lösungen zu finden. In mehreren Ort-schaften in Siebenbürgen stellt das Forum Bürgermeister, Vizebürgermeister, Kreisratsvorsitzende und Stadträte. Die aktive Rolle der kleinen Gruppe in der Kommunalpolitik, auffällig ist hier natürlich Hermannstadt, spiegelt sich auch in dem in verschiedenen Varianten anzutreffenden Bonmot: „Wenn auf den Straßen Hermannstadts kein Sachse zu sehen ist, wird wohl gerade Stadtratssitzung sein.“
Dass Mitglieder der Gruppe der Siebenbürger Sachsen dieses aus der historischen Tradition heraus weitergetragene Verantwortungsbewusstsein mit Leben füllen, beweist auch der das zweite Mandat wahrnehmende Staatspräsident Klaus Werner Johannis. Es ist ihm nicht nur gelungen, zur Zeit der EU-Ratspräsidentschaft Rumäniens die Aufmerksamkeit Europas auf Hermannstadt zu lenken, wo am 9.Mai 2019 ein EU-Gipfel stattfand. Bereits 2007, dem Beitrittsjahr Rumäniens zur EU, war Hermannstadt Europäische Kulturhauptstadt. Dass Rumänien den gewaltigen Schritt vom mitleidig belächelten „Schmuddelkind“ zum geachteten Partner in der EU vollzogen hat, ist nicht zuletzt auch das Verdienst gelebter siebenbürgisch-sächsischer Tugenden. Damit kann auch die 2014 von Johannis geäußerte zukunftsweisende Überlegung verknüpft werden, in Rumänien eine offene, auf staatsbürgerlichen, verfassungsrechtlichen und demokratischen Werten und Prinzipien gründende Bürgernation zu formen und zu stärken.

Zukünftige Einheit in der Vielfalt?
Mitte der 1950er Jahre setzte eine Debatte ein, die sich in einem lange anhaltenden Auswanderungskonflikt niederschlug und sich in der Frage „Bleiben oder Gehen?“ zusammenfassen lässt. Durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges sowie die innenpolitische Entwicklung in Rumänien sahen Vertreter der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland die Familienzusammenführung als einzigen Weg, um den Sachsen in ihrer „hoffnungslosen“, „katastrophalen" Lage zu helfen. Das Hilfskomitee, das als Sprachrohr der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien galt, vertrat hingegen nicht den Standpunkt des „Untergangs“ und befürwortete das „Ausharren“, das „Bleiben“ in Siebenbürgen. Die Auseinandersetzung verschärfte sich, als zu Beginn der1960er Jahre nicht mehr lediglich von Familienzusammenführung, sondern von „erweiterter Familienzusammenführung“ gesprochen wurde. Der auf landsmannschaftlicher Seite aufgetauchte Begriff der „Aussiedlung“ verhärtete die Fronten. Die „Bleiben“-Befürworter prophezeiten, die „Aussiedlung“ führe für die „Beharrungswilligen“ zu ausbleibender politischer Aktivität in Rumänien, zu einer Zunahme der Auswanderung wegen Resignation, Niedergeschlagenheit und Torschlusspanik. Einen eigenen Stellenwert in diesem Konflikt hatte die Pfarrerauswanderung. Während die Debatte zwischen den Kontrahenten nach personellen und organisatorischen Veränderungen 1981 zu einem Ende gekommen war, wurde die nach wie vor im Raum stehende Frage durch die hohen Zahlen der Auswanderer 1990 beantwortet. Doch bedeutet diese Antwort nach den Drohungen während des Streits und auch danach das „Finis Saxoniae“, den „Todesstoß“, das „Aus“, das „Geschichtsende“, das „Nichts“ für die Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen? Bleibt gar ein Siebenbürgen ohne Siebenbürger Sachsen zurück.
In Siebenbürgen begegnen die Menschen dem Schock des Exodus, trotz des Verlustschmerzes, konsequent durch die Ausrichtung des Blicks nach vorne. Der Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien Reinhart Guib sprach 2017 von einem Ende des Jammerns. In den letzten Jahrzehnten erfolgte ein bewusstes Aufeinanderzugehen. Trotz der Verschiedenheiten zwischen den Ausgewanderten, den „Zurückgebliebenen“ (ironische Selbstbezeichnung der Sachsen in Siebenbürgen) und den „Heruntergekommenen“ (ironische Bezeichnung der temporär oder dauerhaft nach Siebenbürgen wandernden „Sommersachsen“, Sachsen und Nichtsachsen) wurden und werden Bemühungen unternommen, Brüche zu überwinden. Aus Deutschland wie aus Siebenbürgen kommen deutliche Signale. So stand der Heimattag 2010 in Dinkelsbühl unter dem Motto „Gemeinsam unterwegs“ und das Sachsentreffen von 2017 in Hermannstadt rief dazu auf, Trennen des gemeinsam zu überwinden.
Und ein von allen Seiten verwendetes Bild ist dasjenige einer Brücke. Der Verband der Siebenbürger Sachsen beansprucht, eine „Brückenfunktion" zu verkörpern „zu den an deren siebenbürgisch-sächsischen Organisationen“ sowie auch „in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien“. Das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien sieht die Deutschen in Rumänien vor der Aufgabe, in doppelter Hinsicht eine Brückenfunktion zu erfüllen: erstens gegenüber Deutschland sowie dem deutschsprachigen Ostmitteleuropa und zweitens zwischen der rumänischen Mehrheitsbevölkerung und den anderen ethnischen Minderheiten in Rumänien. Auch die bundesdeutsche Seite bemüht das Bild der Brücke. Demnach werden Siebenbürger Sachsen in Deutschland als Brückenbauer nach Rumänien und die Sachsen in Siebenbürgen als Verbindung nach Deutschland ebenso wie als Vermittler zwischen den Ethnien und Kulturen Siebenbürgens und als Brückenbauer zwischen Ost und West gesehen. Die vielfachen Erfahrungen als ethnische Minderheit in einem multi-ethnischen Raum, in einer totalitären Herrschaft sowie die Erfahrungen mit Migration, Heimatverlust, Integration sowie Neubeginn und Neuaufbau sind Grundlagen für ein gemeinsames europäisches Identitätsbewusstsein in einem gemeinsamen Europa.
„Quo vadis, Siebenbürger Sachse/Sächsin?“ oder: „Gehören Siebenbürger Sachsen und Siebenbürgen noch zusammen?“ – so könnte abschließend gefragt werden. Starke, selbstbewusste und wegweisende Botschaften an die Siebenbürger Sachsen kamen vom Sachsentreffen 2017 in Hermannstadt, das unter dem Motto stand: „Inder Welt zu Hause, in Siebenbürgen daheim“. Und es heißt dazu: „Wer in der Welt zu Hause ist, kann in Siebenbürgen daheim sein. Das eine schließt das andere nicht aus. Das eine bedingt das andere sogar.“ Statt „Finis Saxoniae“ heißt es, „es geht weiter in Siebenbürgen! Anders! In einer viel bunteren Gesellschaft als zu der Zeit von Johannes Honterus oder Stephan Ludwig Roth.“ Für die siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft prägte Bischof Guib das Bild vom Apfelbaum mit seinem festen Stamm, den beweglichen Ästen, Zweigen, Blättern und der Krone.
Siebenbürgen wird von verschiedenen Seiten als Anker, als fester Bezugsort der Siebenbürger Sachsen, aber auch als Sehnsuchtsort immer wieder beschworen. Zu dem verweist die historische wie gegenwärtige Zuschreibung einer Brücke in und zu Europa auf eine für Wandel und Neues offene, ausbaufähige und gestaltbare Zukunft. In diesem Zusammenhang ist auch der Aufruf der Evangelischen Kirche in Rumänien wie auch des Forums zum Engagement in Siebenbürgen zu sehen. Ein ansteckendes „Virustranssilvanicus“ führt zu Begegnung, Lebensbejahung, Freude, Leidenschaft sowie der Entdeckung neuer Zugänge und Wege.

SBZ, Ausgabe 2020.-18, Seite 1, 4 und 5.



Autorenprofil

Prof. Dr. Hans-Christian Maner ist Historiker. Er lehrt und forscht im Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der Johannes Gutenberg - Universität Mainz. Seine Arbeitsschwerpunkte betreffen die politische, kulturelle, kirchliche, regionale und Ideengeschichte im Donau - Karpatenraum vom 18.-21. Jahrhundert. Der 1963 im siebenbürgischen Martinskirch (Târnăveni) geborene Autor pflegt enge Kontakte zu wissenschaftlichen Institutionen in Rumänien. So gelang es ihm, von Mainz aus mehrere Erasmus - Partnerschaften zu etablieren, u. a. mit der Alexandru Ioan Cuza Universität in Jassy (Iași), der Universität Bukarest und der Lucian Blaga Universität in Hermannstadt. Er ist seit 2014 Ehrenmitglied des Geschichtsinstituts der Akademie „A. D. Xenopol“ in Jassy und seit 2019 „Visiting Professor“ an der Hermannstädter Universität. Zudem leitet er seit 2009 die Zweigstelle Mainz der Südosteuropa-Gesellschaft. 2018 hat Prof. Dr. Hans-Christian Maner für seine wissenschaftliche Arbeit zur Geschichte Rumäniens im 20. Jahrhundert den „Preis der Exzellenz“ der rumänischen Regierung erhalten.

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