Der verdammte Hühnervogel

Alfred, der jüngste Sohn des Prediger-Lehrers Michael Zikeli, besuchte das Lehrerseminar in Hermannstadt. In den Sommerferien besuchte ihn in Tekes sein Freund, der Sohn wohlhabender Eltern aus Hermannstadt.
Dieser brachte auch sein so genanntes „Zimmergewehr" mit, damit unter den Krähen und Elstern, die auf dem Hofe des Lehrers Zikeli manches Küken verschwinden ließen, aufgeräumt werden konnte. Der junge Herr aus Hermannstadt war von der wunderschönen Landschaft, in der Tekes eingebettet ist, begeistert. An einem sonnigen Tag stiegen die beiden auf den Tekeser Kirchturm, um den Ausblick auf Tekes und bis zu den Bergen und Gebirgen am Horizont zu genießen. Das Zimmergewehr nahm der Freund mit.
Nachdem ihre Blicke in die Ferne geschweift waren, betrachteten sie die Bauernhöfe, die unmittelbar am Fuße des Turmes lagen. Selbst für Alfred, der noch nie den Turm bestiegen hatte, war es schwer sich so richtig zu orientieren, denn von oben sah die Tekeser Welt ganz anders aus als von unten. Der gute Freund entdeckte einen Hof, in dem viele weiße Hühner herumliefen und auf dem dunkeln Boden ein herrliches Ziel boten für einen Schützen.
Wie junge Leute nun sind, fragte dieser Alfred, ob er ihm wohl zutraue so eine Henne von da oben zu treffen. Alfred, auch ein abenteuerlustiger Kerl, hatte gar nicht gemerkt, dass dieser Hof der seines Elternhauses war und sagte natürlich „nein" auf dessen Frage, denn beide glaubten, dass ein Schuss mit diesem Gewehr nicht unbedingt tödliche Folgen haben könnte. Der Freund schoss, ein weißes Huhn begann herumzuflattern und die übrigen Hühner stoben auseinander.
Die Frau des Lehrer Zikeli sah das flatternde Huhn im Hof und rief verzweifelt, mit folgenden Worten ihren Mann herbei: „Misch, komm schnell, der verdammte Hühnervogel hat wieder einmal eine Henne gestoßen". Lehrer Zikeli eilte herbei, zückte schnell sein scharfes Taschenmesser, packte das Huhn, das inzwischen nicht mehr so wild mit den Flügeln schlug und schnitt ihm den Hals ab.
Glücklicherweise untersuchte er das Huhn nicht mehr, um die zugefügte Verletzung durch den „Hühnervogel" festzustellen. Auch Alfreds ahnungslose Mutter war beim Rupfen und Braten des Huhnes scheinbar nichts Verdächtiges aufgefallen.
Erst als Alfred sah, dass unten im Hof sein Vater herbeieilte, gab er sich Rechenschaft, was sie angestellt hatten. Von ihrem Aufstieg in den Turm erwähnten sie nichts, als sie nach längerer Zeit von einem „gemütlichen Spaziergang" heimkehrten und Alfreds Eltern von dem „verdammten Hühnervögel" sprachen. Am nächsten Tag, als den jungen Herren der Hühnerbraten serviert wurde, waren sie etwas schweigsamer als sonst.
Glücklicherweise fand niemand die tödliche Kugel im Hühnerbraten. Nach vielen Jahren hat Alfred das Ereignis um den Tod der guten Legehenne des Prediger-Lehrers Zikeli geklärt, zur Belustigung der Familie und Verwandtschaft.

Erwin Thot

(Beitrag im „Heimatblatt der HOG“, Ausgabe 9, Februar 2004)

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