Großmutter, die Glucke ist weg!

Es war in den dreißiger Jahren. Die Oberwinkel-Lausbuben, eine Rasselbande, waren für ihre Streiche und Schabernacks bekannt, und wurden von ihren erwachsenen Mitmenschen nicht gerade wohlwollend betrachtet. Ihr Tun entsprang aus gleichem Denkvermögen für Frohsinn, Abenteuer und Zeitvertreib.
Es ist Sonntag und warm. Die Oberwinkel-Lausbuben wollen im kleinen Wiesenbach baden und anschließend Zigaretten rauchen. Geld hat aber keiner. Bei Frau Stefani im Geschäft kann man für Eier Zigaretten kaufen, und das sogar am Sonntag. Man muss bloß durch die Hintertür gehen.
In der Nachbarschaft der Lausbuben steht ein kleines Häuschen mit Vorgarten. Dahinter sind Stallungen für Kleintiere und ein Hühnerhaus angebaut. In diesem Haus wohnt eine Großmutter mit zwei kleinen Mädchen, ihren Enkelkindern. Die Großmutter hat im Anbau eine Bruthenne gesetzt, auf deren Eier es die Lausbuben abgesehen haben. Zwei der Buben verwickeln die Großmutter in ein Gespräch, möglichst weit vom Stall, wo die Bruthenne sitzt, zwei andere holen die Bruteier. Die Henne wird mit Wasser bespritzt und verlässt lautlos ihr Nest. Zwei der Übertäter stehen Schmiere und sorgen dafür, daß kein Ungebetener dazu kommt.
Die Großmutter hat den beiden von ihren Krankheiten erzählt und auch selbst einige Neuigkeiten erfahren, als plötzlich die beiden Enkelinnen ganz aufgeregt schreien: „Großmutter die Glucke ist weg". Während diese aufgeregt zu den Stallungen läuft, verschwinden die beiden Neuigkeiten-Erzähler. Bis jetzt ist die Aktion halbwegs gut gelaufen.
Wie geplant, sind die sechs Freunde am kleinen Wiesenbach an der altbekannten Badestelle mit den Zigaretten erschienen. Am Bachrain, der höher liegt als das Gewässer, entledigen sie sich ihrer Kleider. Jeder schichtet sie auf einen Haufen, obendrauf den Strohhut und die Zigarette, für nachher, zum gemütlichen Rauchen.
Ein Pfiff, und alle springen im Adamskostüm ins Wasser, versuchen zu schwimmen, schreien laut und spritzen sich gegenseitig an. Die Frösche, mit ihren Glotzaugen, flüchten ins Schilf. „Horcht mal", ruft einer, und schon hören sie alle die Großmutter schreien: „Ihr Räuber, ihr Haiducken, die Eier habt ihr mir gestohlen, eurem Lehrer werde ich es sagen:. Mit dem Stock drohend nähert sie sich der Badestelle. Die Meute springt erschrocken durch das Schilf auf die Feldseite des Baches. Versteckt hinter Weidenbüschen beobachten sie die Großmutter. Bei den Kleiderhaufen angelangt, packt sie die Strohhüte und Zigaretten, als Beweis für den Lehrer, schimpft wild vor sich hin und geht, auf den Stock gestützt, wieder in Dorfrichtung zurück.
Klassenlehrer dieser Bande ist der gutmütige, aber gelegentlich auch strenge Schuldirektor Martin Thot. Ruhig wie immer schließt er am Montagmorgen den Schrank im Klassenzimmer auf und holt nacheinander sechs Strohhüte heraus. Bei jedem fragt er: „Wem gehört der?". Der erste ist der meinige. Alle müssen wir, der Reihe nach, vor die Tafel treten. Dann wird nach dem Hauptschuldigen gefragt, aber keiner sagt etwas. Die Strafe folgt umgehend. Die Haselrute tanzt auf den allerwertesten Hinterteilen. Nicht gerade angenehm, aber doch einigermaßen gerecht, empfinden die sechs Bürschchen das Strafgericht. Es war wieder einmal eine heilsame Therapie, deren Wirkung längere Zeit spürbar war.

Johann Mathiä, Wiesenbronn

(Beitrag im „Heimatblatt der HOG“, Ausgabe 6, Januar 2001)

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