Auf der Flucht

17. Februar 2008

Allgemeiner Bericht

2005 waren 60 Jahre seit der Verschleppung der Rumäniendeutschen zur Aufbauarbeit in die Sovjetunion vergangen.
Im Heimatblatt für das Jahr 2005 wurde über das Schicksal verschleppter Tekeser Frauen im Arbeitslager Lisitschansk berichtet. In Tekes haben sich viele der Verschleppung entzogen und haben dadurch nicht all das Schrecklich erlebt, was die Verschleppten erdulden mußten. Aber auch sie haben monatelang versteckt und in Angst leben, oder sich durch Flucht ihren Verfolgern entziehen müssen. So auch zwei, zeitweilig auch drei Tekeser junge Burschen, die kaum das 17. Lebensalter überschritten hatten. Bald nach dem 23. August 1944, nachdem Rumänien das BÜndnis mit Deutschland gelöst hatte und mit den Russen gegen Deutschland kämpfte, wurden auch aus Tekes alle männlichen Jugendlichen zum Arbeitseinsatz nach Chitila, neben Bukarest geschafft. Bei den derzeitig, chaotischen Verhältnissen, waren sie bei Wintereinbruch von dort einfach durchgegangen und befanden sich Anfang Januar in Tekes. Dort wurden sie aufgestöbert und nach Fogarasch geschafft, von dort aber, zu ihrer Verwunderung, am 12. Januar wieder nach Hause geschickt. In Tekes erfuhren sie am Morgen des 13. Januar, dass sie sich mit Winterkleidung und Essen für mehrere Tage im Gemeindesaal zu melden hatten. Nun wußten sie auch, weshalb man sie so unerwartet aus Fogarasch entlassen hatte. Bald verbreitete sich die Nachricht, dass sie nach Russland geschafft wÜrden. Im Dorf trafen rumänische Soldaten und Gendarmen ein, die dafür sorgen sollten, dass alle auf den Verschleppungslisten erfassten Personen sich auch im Gemeindesaal einzufinden hatten. Hier beginnt nun die abenteuerliche Geschichte von zwei Freunden, die das oben Geschilderte schon hinter sich hatten. Es waren die siebzehnjährigen Johann Holdreich und Johann Depner. Ich werde sie, der Einfachheit halber, nur beim Familiennamen nennen. Sie trafen sich im Oberwinkel und Überlegten, ob sie sich wohl im Gemeindesaal melden sollten. Als sie aber mit einem Mann gesprochen hatten, der Russland aus seiner Kriegsdienstzeit kannte, und dieser ihnen riet, sich unbedingt zu verstecken, nach Möglichkeit in einem Haus, wo keine Leute gesucht würden, festigte sich bei ihnen der Entschluß, auf keinen Fall nach Russland zu gehen. Damit begann eigentlich auch ihr "Katzundmausspiel" mit ihren Verfolgern. Holdreich schlug vor, zu seinen Großeltern in den Niederwinkel zu gehen, wo bestimmt kein Soldat oder Gendarm Versteckte suchen wÜrde. Vorsichtig schlichen sie durch den Garten, entlang des kleinen Wiesenbaches bis in den Niederwinkel. Als sie durch den Garten und die Scheune in den Hofvon Holdreichs Großeltern gelangten, und in der Nähe kein Soldat zu sehen war, fühlten sie sich erleichtert und öffneten die TÜre zur Wohnung. Fast erstarrt vor Schreck blieben sie in der Türe stehen, denn am Tisch saßen zwei rumänische Soldaten. An der Stuhllehne hingen ihre Gewehre. An ein Flucht war nicht zu denken. Also traten sie etwas verlegen in die Stube. Die Soldaten sahen sie musternd an und fragten sie, ob sie sich im Gemeindesaal melden müßten, was sie bejahten, denn als FÜnfzehnjährige konnten sie sich nicht mehr ausgeben. Was in diesem Augenblick in ihren Köpfen vorging, kann sich jeder vorstellen. Kaum richtig begonnen, schien die Flucht schon gescheitert zu sein. Es trat aber eine Wende ein. Ob es die GutmÜtigkeit der beiden Soldaten war, oder das gute Herz der Großmutter, die die frierenden, jungen Soldaten ins Haus gebeten hatte, um ihnen ein warmes Essen zu geben, die diese Wende herbeigeführt hatte, wissen die beiden auch heute nicht. Der freundlichere der beiden Soldaten sagte den Burschen klar, dass sie für mindestens 5 Jahre in die Sovjetunion geschafft würden, wünschte ihnen, dass sie lebend von dort heim kommen mögen, und versprach ihnen, bei ihrem Transport nach Fogarasch, sich um sie zu kümmern. Nun schien ihre Flucht be endet zu sein. Aber die beiden Soldaten standen auf, bedankten sich für das Essen, nahmen aber die beiden Burschen nicht mit in den Gemeindesaal, was sie eigentlich hätten tun mÜssen. Nun waren sie fest entschlossen alles zu tun, um nicht doch verschleppt zu werden. Sie hatten aber erleben mÜssen, dass ein Aufenthalt in der guten Stube der Großeltern ihnen nicht viel helfen konnte, und ein gutes und sicheres Versteck hatten sie noch nicht. Weil viele sich versteckt hatten, wurde die Suche nach ihnen verstärkt, denn für den gleichen Tag war der Abtransport der Zwangsarbeiter aus Tekes geplant. Sie beschlossen das Dorf zu verlassen und gingen auf das Feld, dem Saubrunnen zu, bis zu den Wichtelbergen. Sie froren, waren mÜde und merkten zu spät, dass ein Mensch auf sie zukam, der scheinbar ein Gewehr in der Hand hielt. Ausweichen konnten sie nicht mehr. Wieder ahnte ihnen nicht Gutes. Erleichtert atmeten sie auf, als der Mann näher herankam, und sie feststellten, dass es ein Tekeser war, der für sich und seine Frau in Langental (Daisoara), einem rumänischen Nachbardorf, eine Unterkunft bestellt hatte, um nicht verschleppt zu werden. Sie berichteten ihm wie die Lage in Tekes sei und trennten sich. Die Kälte nahm zu und sie froren erbärmlich. Vorsichtig schlichen sie sich in den Niederwinkel zu Holdreichs Großeltern. Großmutter hatte Brot gebacken und beide legten sich auf den noch warmen Backofen um sich ein wenig zu erwärmen. Das Vergnügen dauerte nicht lange, denn gegen Abend klopften die beiden Soldaten an das verschlossene Gassentürchen, wohl nicht um die zwei Burschen zu holen, sondern weil sie hofften, von der Großmutter wieder ein Essen zu bekommen. Das konnten die beiden Burschen auf dem Backofen nicht wissen und retteten sich schnell auf den Aufboden. Als die Soldaten weg waren, gab Großmutter auch ihnen zu essen. Obwohl sie hungrig waren, konnten sie das Essen nicht genießen, denn vor Angst blieb ihnen fast jeder Bissen im Hals stecken. Sie fühlten sich dort nicht sicher und begaben sich auf Schleichwegen wieder in den Oberwinkel, zu Depners Schwester, verheiratete Geisler. Diese hatten die Gendarmen schon abgeholt, und ihre zwei kleinen Kinder waren in der Obhut der Großeltern geblieben. Dort erfuhren sie von dem gleichaltrigen Georg Geisler, dass es bei der Familie Kliesch in der Hintergasse ein gutes und sicheres Versteck gebe. Zu dritt machten sie sich hin auf den Weg, entlang des kleinen Wiesenbaches bis zum Anfang der Neugasse. Um von hier in den Garten der Familie Kliesch zu gelangen, mußten sie ein FeldstÜck überqueren. Das konnte gefcihrlich werden, weil Soldaten begannen auch außerhalb der Dorfstraßen zu patroullieren. Gerade als sie Ausschau halten wollten, erschien am Bachrand ein Soldat, der gerade in die Neugasse gegangen war, und richtete sofort das Gewehr auf die drei Gehetzten. Depner hatte etwas Geld bei sich. Schnell reichte er es von hinten Holdreich und flüsterte ihm zu, er solle versuchen, den Soldaten zu bestechen. Holdreich verwickelte den Soldaten in ein Gespräch, indem er ihn zuerst fragte, ob in Nähe noch Soldaten seien. Dieser sagte ihm, es würden noch welche nachkommen. Also war es aussichtslos, über das Feld zu den Klieschen zu gelangen. Inzwisch hatten sich Depner und Geisler aus dem Staub gemacht, und Holdreich saß allein in der Klemme. Entschlossen drückte er dem Soldaten das Geld in die Hand. Der war froh, dass seine Kameraden noch nicht dort waren und er etwas verdient hatte. Er machte einfach Kehrt und ließ Holdreich laufen. Keuchend trafen sich die drei wieder im Oberwinkel. Die Gendarmerie hatte erfahren, dass sich in Tekes auch flüchtige deutsche Soldaten aufhielten und verstärkte die Hausdurchsuchungen in den meisten Häusern. Unsere Burschen fühlten sich in Tekes nicht mehr sicher. Holdreich und Depner beschlossen, in das ungarische NachbardorfKobor zu gehen, wo Depners Familie gute Bekannte hatte. Am nächsten Morgen, als noch eine gewisse Ruhe im Dorf herrschte, machten sie sich auf den Weg. Durch den Katzgraben gelangten sie schnell in den kleinen Wald und über das Buchhorn nach Kobor. Dort fanden sie Unterschlupfbei einer etwas wohlhabenderen Familie, bekamen gutes Essen, konnten sich in einem geheizten Raum aufhalten und sich ein wenig entspannen. Bloß wenn ein Fremder ins Haus kam, mußten sie sich in einem ungeheizten Raum aufhalten. Leider hatte sie doch jemand dort entdeckt und sie verraten. Am Morgen des zweiten Tages brachte der Schwager ihres Gastgebers die Nachricht, dass der Gendarmeriechef Bogdan, mit dem Sitz im Nachbardorf Feimern, über die zwei versteckten Burschen informiert sei. Bogdan war längere Zeit auch in Tekes tätig gewesen und hasste die Sachsen. Also mußte schnell gehandelt werden. Durch Scheune und Garten ging es zu einem anderen Bekannten. Das waren aber sehr arme Leute. Da gab es nur kalte, gekochte Kartoffeln zu essen, und geschlafen wurde in einem elenden Stall unter zwei feuchten Decken. Im Stall standen zwar zweijunge Ochsen, aber es war so kalt, dass sogar der Mist, der im Stall gelassen wurde, gefror. Am nächsten Morgen schien herrlich die Sonne, und unsere zwei Burschen trauten sich aus dem Stall, um sich wenigstens an der Sonne ein wenig zu wärmen. Das war aber ein großer Fehler, denn der Hof war von allen Seiten leicht zu überblicken. Sie wurden auch hier entdeckt und verraten. Also mußten sie sich schleunigst aus dem Staub machen, und gelangten zum dritten Helfer in Kobor. Auch dort mußten sie sich im Stall aufhalten und auch dort schlafen. In diesem Stall war es wenigstens warm, weil sich darin mehrere Tiere befanden. Zu essen bekamen sie hier sogar geschmierte Brote. Aber lange sollten sie sich auch hier nicht aufhalten, denn Bogdan hatte in Kobor ein Rundschreiben verteilen lassen, in dem es hieß: "Wennjemand flÜchtigen Sachsen in seinem Haus Aufenthalt gewährt, wird er selbst nach Russland geschafft." Um ihre Gastgeber nicht zu gefährden, mussten die zwei Burschen Kobor verlassen. Über Nacht hatte es leicht geschneit. So bestand die Gefahr, dass ihre Spur im Schnee verfolgt werden konnte. Deshalb suchten sie auf ihrem Weg Stellen aus, wo sehr wenig Schnee lag. Unbemerkt erreichten sie den Wald, wo sie sich etwas sicherer fühlten. Aber auch das war nur von kurzer Dauer, denn bald entdeckten sie menschliche Fußspuren im Schnee. Sie fürchteten jemandem begegnen zu können, der sie verraten würde. Also machten sie einen großen Bogen um diese Spuren, ständig aufmerksam, ob sich ihnen jemand näherte. Unbehelligt kamen sie zu den Schwiegereltern von Depners Schwester an. Ein sicheres Versteck hatten sie nicht, von denen es nur einige in Tekes gab. Es waren meist zugemauerte Kellerräume, mit einem gut getarnten Zugang aus einer Stube. Einige hatten sich Hohlräume im Heu in der Scheune gemacht. An so etwas dachten auch die beiden. Man hatte aber gehört, dass suchende Soldaten in Scheunen oft mit dem Bajonett im Heu herumgestochert hatten. Also verzichteten sie auf diesen Plan und hielten sich im Hause Geisler auf. Das Gassentürchen war immer verschlossen, so dass sie sich bei einer eventuellen Hausdurchsuchung auf den Aufboden retten konnten. Einen anderen Fluchtweg gab es nicht. Eines Tages war es so weit, dass zwei Soldaten ans Gassentürchen klopften. Ein guter Nachbar versuchte sie abzulenken, indem er ihnen sagte, dass aus dem Hause bereits eine Frau nach Russland geschafft worden sei. Die Soldaten ließen aber nicht locker, denn sie suchten ja auch versteckte deutsche Soldaten. Inzwischen waren die beiden auf den Aufboden geflüchtet und der "Geislerbotsch" hatte klugerweise die Aufstiegsleiter weggestellt. Holdreich saß auf dem sogenannten "Hanhbalken", verdeckt durch irgendwelche Gegenstände und Depner hatte sich mit Mühe hinter den Kornkasten gezwängt. Beide zitterten vor Anspannung und Angst. Bei Depner, der mit dem Rücken an die Dachziegel reichte, begannen diese regelrecht zu klirren. Das hörten die Soldaten aber nicht und zogen bald ab. Die RusslandverscWeppung war inzwischen abgeschlossen, aber die Suche nach Versteckten noch nicht. Es kam sogar dazu, dass ein großes Militäraufgebot das Dorf umzingelte, und im Dorfe Hausdurchsuchungen gemacht wurden. Unsere beiden Burschen trennten sich und kamen bei Hausdurchsuchungen in sicheren Verstecken unter. Wenn Leute, die nach Russland hätten verschleppt werden sollen, entdeckt wurden, mußten sie irgendwo im Lande Schwerarbeit leisten. So dauerte das "Katzundmausspiel" noch einige Monate. Aber darüber berichte ich vielleicht im nächsten Heimatblatt. Diese Geschichte basiert auf den Erinnerungen, die mir Johann Holdreich, Hausnr. 156/41 erzählte. Viele derer, die ähnliches erlebt haben, leben nicht mehr, und manchen Lebenden hört man vielleicht gar nicht mehr zu, wenn sie wiederholt davon sprechen, was sie erdulden mußten. Aber alle diejenigen, die solche Ereignisse nicht erleben mußten, heutzutage aber oft unzufrieden sind, sollten den Erzählungen dieser Alten aufmerksam zuhören, um es zu schätzen, dass sie heute und hier in Freiheit, Frieden und Wohlstand leben können.

Erwin Thot (Beitrag im „Heimatblatt der HOG“, Ausgabe 11, Januar 2006)

Weitere Nachrichten »