Überlegungen zur Aufgabe unserer Kirche

9. Dezember 2011

Sonstiges

Von Dechant Dr. Wolfgang Wünsch, Mühlbach/Petersdorf
Vorbemerkung: Inmitten der Menge prosaisch anmutender Probleme, die wir im Alltag zu lösen haben, ist es oft sehr schwer, einen Schritt zurückzutreten, innezuhalten, das Rad aufzuhalten, sich ein Herz zu fassen und zum Wesentlichen zu kommen. Eine Sitzung jagt die andere, Papiere werden gemacht, unterschiedliche Positionen formuliert, manchmal gegeneinander gestellt, manchmal verschwiegen, manchmal geradezu ungeduldig vorgetragen. Es zeigt sich eine Fülle ungeklärter Fragen, die alle ihre eigene Geschichte aufweisen und auch mit langen Jahren unterbrochenen Gesprächs zu tun haben. Verzweiflung über zu Ende gehendes Gemeindeleben steht beinahe unvermittelt neben dem Stolz über Erreichtes und einem tief und fest im Herzen verwurzelten Vertrauen in den allmächtigen und barmherzigen HERRN, der trotz allem im Regiment sitzt und mitunter auf ungewöhnliche Weise hilft. Von Pavel Florenski habe ich gelernt, dass es trotzdem der Argumentation bedarf, der nüchternen Einsicht, des Aushaltens der anderen Position, des ungebrochenen Glaubens inmitten völlig belangloser Statistiken.

Von der ersten bis zur achten Klassenstufe waren eine Katholikin und ich die einzigen in meiner Klasse, die offen von sich sagten, dass wir Christen sind. Wir haben unsern Glauben trotzdem nicht aufgegeben. Die Konfirmation habe ich als öffentliches Bekenntnis zu Jesus Christus als unserm HERRN verstanden. Später stellte ich fest, dass dies andere aus meiner Konfirmandengruppe genauso sahen. Das Studium an der Universität war eigentlich eine Ermutigung und Vertiefung dieses Glaubens, wobei nicht zuletzt auch der intensive Mathematikunterricht an der Oberstufe eine große Hilfe war. Mich hat beeindruckt, dass manche Professoren um ihres Glaubens willen im Gefängnis gesessen hatten, manchen Nachteil auf sich nahmen und sich doch immer wieder mutig zum Glauben und zu Christus bekannten. Um es kurz zu sagen: Christus brachte uns Klarheit, intellektuell, lebensmäßig, denn genau das lernten wir auch zu den Füßen unsrer Lehrer, bei denen das Herz am rechten Fleck schlug. Manche von ihnen zähle ich auch heute noch zu meinen besten Freunden. Im Ergebnis meines Studiums stellte sich für mich die Frage nach dem neuen Leben in Christus: Was bedeutet dieses neue Leben in Christus für uns heute? Was bedeutet es, dass der HERR den Sünder liebt, nicht aber die Sünde? Luther hat einmal gesagt, dass Theologe sein bedeutet, immer wieder neu anzufangen, immer wieder neu Zuflucht zu suchen bei dieser unergründlichen, nicht erklärbaren, überraschenden, ganz und gar unverdienten Gnade, Zuwendung und Liebe unsres Gottes, die in so gar kein Schema passt. Zachäus hat mich beeindruckt, die Pfarrer meiner Gemeinde, die davon sprachen, wie sie selber zum Glauben gekommen sind, die Treue meiner beiden Großmütter, das Interesse meiner Eltern, der lange Weg des heiligen Augustinus von Hippo, bis er endlich zum christlichen Glauben durchgedrungen war, das aufrichtige und redliche Fragen nach Gott, der Himmel und Erde und den Menschen geschaffen hat, aber auch das komplexe und zugleich zutiefst einfache und fromme Denken eines Nikolaus von Kues und seine ‚belehrte Unwissenheit’ (docta ignorantia). Mich faszinierte die Sorgfalt, Zuverlässigkeit und der Humor des heiligen Evangelisten Lukas; der Schlüssel für alle weitere Theologie aber wurde die Frage nach dem Reich Gottes bei Matthäus, nicht als eine abstrakte Norm, sondern als eine Beziehungswirklichkeit, die Verbindung mit dem lebendigen HERRN, der gestern, heute, morgen und in alle Ewigkeit derselbe ist. Es ist jetzt unmöglich, alle Schritte und Stufen des Studiums wiederzugeben, und eben so wenig, alle Umwege und Sackgassen aufzuzählen, die freilich zum Ganzen doch auch mit dazu gehören. Wichtig war sicher die Beschäftigung mit der Anthropologie, der Lehre vom Menschen, inklusive Sprachphilosophie, und nicht zuletzt die Lehre von der Kirche, die Ekklesiologie. Denn genau hier setzen meine heutigen Überlegungen ein.

1. Anthropologische Herausforderungen für unsere Kirche:
Besonders aus der Perspektive des späteren Pfarramtes nützlich war die theologische Anthropologie bzw. Anthropologie in theologischer Perspektive von Wolfhart Pannenberg, dessen Vorlesungen ich ein Semester lang in Berlin hören konnte. Mir geht es an dieser Stelle nicht um Einzelheiten dieser Vorlesung, sondern um das, was den Menschen als Menschen ausmacht, nämlich die Fähigkeit, bei einem andern als einem andern zu verweilen und als solches zu erkennen. Ein Tier folgt seinen Trieben und dem Instinkt, beim Menschen aber, wenn er denn als Mensch handelt, gilt das so nicht, weil er sich in den andern hineinversetzen kann. Das bedeutet nicht notwendig, daß ich die Position meines Gegenübers bejahe, aber ich kann sie verstehen, ich kann mich einfühlen, die Gründe erfassen, die zu diesem oder jenem Verhalten und dieser oder jener Position geführt haben. Dietrich Bonhoeffer hat an diesen Sachverhalt angeknüpft und das Konzept einer ‚Kirche für andere’ entwickelt. Wichtig ist es jedoch festzuhalten, und das betont auch Wolfhart Pannenberg in seinen diesbezüglichen Ausführungen immer wieder, daß der umfassendste Horizont des menschlichen Denkens und der Empathie das Reich Gottes ist. Deshalb müssen wir an dieser Stelle vom Konzept der Gottebenbildlichkeit und der unverlierbaren Würde des Menschen sprechen. Augustinus von Hippo legte uns den Gedanken ans Herz, den andern [Menschen] auf Gott zuzulieben, ihm die Liebe zu Gott schmackhaft zu machen. Das Geheimnis dieses Vorgangs ist die Selbsthingabe, wie sie uns Jesus Christus, der Sohn Gottes, bis hin zum Tod am Kreuz vorgemacht hat und wie wir sie bei der Feier des heiligen Abendmahls immer wieder erfahren können. Dabei muss klar sein, daß die Basis unsrer Teilhabe an diesem Geschehen und damit am Leib Christi gerade nicht eine wie immer geartete Akzeptanz aller unsrer Fehler und Sünden ist, Rechtfertigung aus Glauben ist etwas ganz anderes als Selbstrechtfertigung. Denn am Anfang des Evangeliums steht der unmissverständliche Satz: „Kehrt um, tut Buße. Denn das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen.“ Und es dürfte klar sein, dass dieser Satz konkret gemeint ist und deshalb kaum von der allgemeinen Beichte, wie sie in unserer Kirche praktiziert wird, abgedeckt ist. Zu Recht zitiert Christoph Klein in seinem Aufsatz „Unsere Predigt zu Beichte, Absolution und Versöhnung“(1) eine Passage aus den Ethikfragmenten Bonhoeffers, wo dieser sagt: „Der evangelischen Kirche ging die konkrete Ethik verloren, als sich der Pfarrer nicht mehr dauernd vor die Fragen und Verantwortlichkeiten des Beichtstuhls gestellt sah. Unter fälschlicher Berufung auf die christliche Freiheit entzog er sich der konkreten Verkündigung des göttlichen Gebotes. So wird erst mit der Wiederentdeckung des göttlichen Amtes der Beichte die evangelische Kirche zu einer konkreten Ethik zurückfinden, die sie in der Reformationszeit besaß.“ Es ist bemerkenswert, dass gemäß der alten Überlieferung jeder Pfarrer einen eigenen Beichtvater haben sollte. Beichte und Absolution waren gemäß Mtth. 16 und 18 den Aposteln und ihren Nachfolgern vom HERRN selbst übertragen worden. Sie sind ein Kern- und Wesenselement des Evangeliums. Ihr sakramentales Zeichen sind die Tränen der Reue.

2. Sprachliche Herausforderungen für unsere Kirche – Elemente der Sprachphilosophie
Ein Thema, das mich zunehmend beschäftigt, ist die Sprache, mit der wir als Leute der Kirche den Menschen begegnen. Ich verhehle nicht, dass ich eine tiefe Abneigung gegen alle Verhunzungen der deutschen Sprache empfinde. Dabei geht es hauptsächlich um den Verlust des Authentischen, die ursprüngliche Klarheit der Sprache, die von der Klarheit des ausgedrückten Denkens zeugt. Wahrscheinlich bin ich da sehr stark durch meine Großmutter geprägt, die mich immer wieder und wieder auf die Notwendigkeit hinwies: „Wolfgang, sprich deutsch.“ Wortschöpfungen wie „workcamp“ stießen bei ihr auf schärfste Kritik. Die Wörter, die ich verwendete, sollten präzise das ausdrücken, was ich meinte. Umgekehrt möchte ich auch mein Gegenüber oder die Texte und Wörter, mit denen ich umgehe, eben in dem Sinn verstehen, wie sie gemeint sind. Verklausulierungen, Ideologien und Demagogie sind mir zutiefst zuwider. Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen, mit einer bestimmten Würde, als sprachliche, als hörende, antwortende und sprechende Wesen. Wir sprechen aus gutem Grund von der Muttersprache und drücken damit auch unsere hohe Wertschätzung gegenüber der Mutter aus. Von Johann Amos Comenius habe ich gelernt, welche große Bedeutung die ersten sieben Jahre eines Menschen haben, der große Gelehrte und Pädagoge Comenius spricht darüber im "Informatorium Mutterschul". All das hat nicht zuletzt mit dem Mysterium der Hingabe zu tun – natürlich steht mir hier vor allem die Mutter vor Augen, die zuallererst an die Kinder, den Mann, die Schule und den Unterricht denkt, und nur ganz zuletzt an sich selbst, und wir wissen es: in der Regel ist dafür dann keine Zeit mehr. Und ich wiederhole es, dieses Geheimnis der Hingabe ist mir in vielen Menschen begegnet, Lehrern, Eltern, Großmüttern, Freunden, lebendigen Säulen und Pfeilern der Gemeinschaft. Ein mir nahe stehender Diakon sagte einmal: „Mein Lohn ist, dass ich dienen darf.“ Stadtpfarrer Wolfgang Rehner sprach vor vielen Jahren in seiner Antwort auf eine Fragebogenaktion im Zusammenhang des kirchlichen Dienstes von einer brennenden Kerze, die sich selbst verzehrt, und ich bin fest überzeugt, dass dies der tiefere Grund ist für das nach lutherischer Zählung vierte Gebot, dass „Du Vater und Mutter ehren sollst, auf dass Du lange lebest auf der guten Erde, die der HERR, dein Gott, Dir gibt.“ Verstehen und verstanden werden, nicht nur im heute und jetzt, sondern als Herausforderung für den Generationenzusammenhang: Werden wir als solche gelten, die den Glauben, die Liebe und die Hoffnung bewahrt haben, mit den Entscheidungen und Weichenstellungen, die wir getroffen haben? Haben wir tatsächlich im Kreuz Christi das Heil gesucht oder gehören wir zu denen, die heimlich oder offen eben doch nach links oder rechts abweichen und dem HERRN untreu geworden sind?
Welche Sprache sprechen wir also? Machen wir Verbeugungen vor den Ideologien der Zeit oder nennen wir die Dinge beim Namen? Ist es die Sprache der lebendigen Kirche, die wir verwenden, oder sprechen wir die Sprache der Funktionäre, welche die Wirklichkeit nach ihren Vorstellungen umzuformen bestrebt sind? Was bezeugen wir mit unserm Auftreten? Sprechen wir dieselbe Sprache wie die heiligen Evangelisten und Apostel? Ist es die Sprache der sich selbst hingebenden Liebe, die ihren Ursprung in Gott hat, oder ist es etwas anderes? Wem dienen wir mit unserer Existenz? Wohin führt unser Weg, wenn wir die Linien ausziehen? Welches sind die Konsequenzen unsres Handelns? Werden wir Verständnis finden bei denen, die uns vorangegangen sind und die uns noch folgen werden? Ich nenne diese Fragen, weil ich der Überzeugung bin, dass wir uns ihnen stellen müssen. Damit komme ich nun zum abschließenden Thema meiner Überlegungen, der Lehre von der Kirche.

3. Herausforderungen für unsere Kirche aus der Perspektive der Ekklesiologie
Die Kirche ist mehr und vor allem etwas ganz anderes als eine in einem gegebenen Moment vom Himmel gefallene oder irgendwie entstandene Gemeinschaft mit religiöser Thematik, die sich verschiedenen innerweltlichen Problemen zuwendet und dazu Stellungnahmen abgibt, um selber öffentlich wirksam in Erscheinung zu treten. Solche Theorien haben mit der Wirklichkeit der Kirche nichts zu tun. Die Kirche lebt vielmehr aus dem Geheimnis der Hingabe, das seinen Ursprung im Leben des dreieinigen Gottes hat. Die Confessio Augustana (CA), das Bekenntnis von Augsburg, welches unsere Kirche im Namen trägt, nennt die Kirche in ihrer deutschen Fassung „die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente laut des Evangelii gereicht werden.“ (CA, Art. VII). Die lateinische Fassung spricht hier von der „congregatio sanctorum“, was wohl am ehesten mit „Versammlung der Heiligen“ übersetzt werden sollte. Auf der Universität wurden wir zu Recht darauf hingewiesen, dass diese „Versammlung der Gläubigen bzw. Heiligen“ alle Zeiten und Räume umfasst. Denn das Glaubensbekenntnis der Kirche spricht von der einen, heiligen, apostolischen und katholischen, d.h. allumfassenden Kirche. Nicht zufällig ist in CA, Art. VII, im Hinblick auf die notwendigen Kriterien für die Einheit der Kirche dann weiter von der Übereinstimmung hinsichtlich der Lehre des Evangeliums und hinsichtlich der Sakramentsverwaltung die Rede. Die reine Predigt des Evangeliums zeigt sich also in der Übereinstimmung in der Lehre, die nicht durch sog. „menschliche Traditionen, Riten oder Zeremonien“ getrübt sein darf, d.h. Traditionen, Riten oder Zeremonien, die auf menschliche Einsetzung zurückgehen. Wichtig ist also, dass das Evangelium von seinem göttlichen Ursprung her rein gewahrt bleibt. Zugleich muss unsere Predigt in Übereinstimmung mit der Lehre der Apostel erfolgen, und in diesem Sinn apostolisch sein. Denn wir haben nicht unsere privaten Ideen und Einfälle, sondern eben das eine, heilige und unveränderliche Evangelium zu bezeugen, so wie das die Apostel und Lehrer der Alten Kirche auch schon getan haben. Das bringt es mit sich, dass wir unsere Predigt immer wieder am Zeugnis der Apostel und Propheten zu überprüfen und auszurichten haben, nicht aber umgekehrt, dass wir unsere Lehre über dieses Zeugnis stellen dürften. Deshalb ist es notwendig, dass wir sehr sorgfältig nach dem authentischen Sinn z.B. der biblischen Überlieferung fragen und wirklich mit dem reformatorischen Grundsatz ernst machen, zu den Quellen, oder sagen wir noch genauer: zu der einen Quelle des Heils zurückkehren. D.h., wir dürfen uns nicht in innerweltlichen Scheinproblemen verlieren, sondern müssen aufrichtig und konsequent nach Gott, Seinem Willen und Seinen Ordnungen fragen, um sie uns anzueignen und befolgen zu können. Um andere lehren zu können, müssen wir zuerst Hörende werden und selber lernen, so wie das vor uns Ambrosius von Mailand, Augustinus von Hippo, Gregor der Große, Martin von Tours und viele andere getan haben. Entscheidend ist, was wir selber wollen, ob wir Christus dienen oder dem Mammon.

(1) Christoph Klein, Unsere Predigt zu Beichte, Absolution und Versöhnung, in: Lutherische Kirche in der Welt, Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes, 43, 1996, S. 137-150, das Zitat S. 147; vgl. Bonhoeffer, Ethik, München, 7. Auflage, 1966, S. 309f.

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