Kanada unsere neue Heimat

„Kanada, unsere neue Heimat“
Eine Siebenbürger Sächsin schildert den ungewöhnlichen Lebensweg ihrer Familie
Einen herzlichen Gruß aus Kanada von Marta Jecklin, geborene Geddert. Meine Eltern waren Johann und Katharina Geddert aus Pruden, Hausnummer 49. Am 12. März 1927 kam ich als sechstes Kind auf die Welt. Meine Schwester Tenni war achtzehn, Hans sechzehn, Rudi vierzehn, Georg sieben und Michael fünf Jahre alt. Meine Schwester wollte gerne für ein paar Jahre nach Kanada reisen. Der Vater sagte: „Du bleibst daheim und heiratest!“ Nach längeren Auseinandersetzungen gelang es unserer Mutter, den Vater zu überzeugen, seine Einwilligung zu geben. So kam Tenni nach Kanada. Hier wurde sie Katie genannt. Das war im Jahr 1928. Als ich zehn Jahre alt war, wurde mir gesagt, ich müsse Lehrerin werden und nach Schäßburg in die Schule gehen. So kam ich früh von zu Hause fort. Die ersten Jahre waren schwer für mich, aber ich lernte mich anzupassen, auch lernte ich neue Freundinnen kennen. Und als ich ins Seminar kam, freute ich mich sogar darauf, Lehrerin zu werden.
Marta Geddert / 1945 ...
Marta Geddert / 1945
Es war im Januar 1945, als mir ein Strich durch meine Pläne gemacht wurde, und ich zusammen mit allen anderen 16- bis 35-jährigen Frauen und den noch im Dorf weilenden 15- und 45-jährigen Männern nach Russland deportiert wurde. Georg, der aus Krankheitsgründen nicht an der Front und deshalb im Dorf war, wurde nach Sibirien deportiert. Es folgte eine Zeit voller Entbehrungen und harter Arbeit. Zweieinhalb Jahre später landete ich mit einem Krankentransport in Ostdeutschland. Ich wog gerade noch 40 Kilo. Nach ärztlicher Behandlung und kurzer Erholung fand ich Arbeit auf einem Bauernhof. Endlich konnte ich einen Brief nach Hause schicken. Ich wusste überhaupt nichts von meiner Familie. Kurz darauf kam die Antwort: Die Eltern waren gesund. Hans war in Kassel als Verwalter des Stadtguts Wilhelmshöhe, Rudi hatte in Österreich geheiratet und Georg lag mit einer Tuberkulose irgendwo in einem Krankenhaus in Sachsen. Der Jüngste, Michael, war an der Front gewesen und schließlich in Russland in Gefangenschaft gestorben. Nach diesen Nachrichten machte ich mich auf den Weg nach Kassel, zu meinem Bruder. Nach zwei Wochen stand auch Georg vor der Tür. Die Eltern meiner Schwägerin hatten einen Muster-Bauernhof in Bernsdorf. Georg und ich wurden nach Bernsdorf abgeschoben, wo für uns genug Arbeit war. So vergingen ein paar Monate, als der Postbote mir einen Brief von meiner Mutter brachte. Darin fragte sie mich, ob ich zu meiner Schwester nach Kanada reisen wolle. Im ersten Moment war ich wie vor den Kopf gestoßen. Der Gedanke war neu! Ich schaute mir den Hof, die großen Ställe und das schöne Haus an. Dies könnte alles mein sein, denn mindestens einmal jede Woche erhielt ich einen Heiratsantrag vom Sohn des Hofes. Ich könnte Großbäuerin werden. Aber ich müsste mit einem Mann leben, den ich nicht liebte, nicht lieben konnte. Und jetzt dieses Angebot: Kanada, das große unbekannte Land, fremde Leute, Sitten und Sprachen. All das hatte eine große Anziehungskraft auf mich. Ich könnte auch endlich meine Schwester kennen lernen, die ja von zu Hause wegzog, als ich noch ein Baby war. Plötzlich wusste ich: „Ja, Kanada, ich komme!" Am 7. Januar 1949 schiffte ich in Bremerhaven ein. Nach zehn Tagen landete der Dampfer Beaver Bay in Halifax. Nach fünf Tagen Fahrt mit der Eisenbahn von Halifax nach Vancouver erreichten wir abends um halb neun unser Ziel. Dort lebte meine Schwester. Jetzt war mir doch ein wenig bange. War meine Schwester hier? Und was würde der Schwager von mir denken?
Geschwister Geddert / Kanada 1977
v.l.Rudolf, ...
Geschwister Geddert / Kanada 1977 v.l.Rudolf, Marta, Katharina, Georg un Johannes
Plötzlich hörte ich eine Männerstimme auf Deutsch sagen: „Dort steht deine Schwester, die sieht genauso aus wie du!“ Was im nächsten Moment geschah, weiß ich nicht mehr. Ich war daheim, war am Ziel, hatte meine Familie gefunden. Nun begann ein neuer Abschnitt meines Lebens. Der Anfang war nicht leicht. Ich fand Arbeit in einem Haushalt mit sechs Kindern. Die Kinder gaben sich große Mühe, mir die Sprache beizubringen. Sie hatten viel Spaß dabei. Nach sieben Monaten kehrte ich zurück zu Katie. Ich wollte mein Studium beenden und Lehrerin werden. Aber es sollte auch diesmal nicht sein. Am 8. November 1949 lernte ich im Deutschen Club diesen strammen Schweizer Mann kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. An Weihnachten feierten wir Verlobung, am 21. April des folgenden Jahres Hochzeit, richtig siebenbürgisch, mit Musik, Tanz, gutem Essen und Trinken. Wir feierten bis drei Uhr morgens. Am nächsten Tag half ich, Frühkartoffeln zu pflanzen. Das war nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte. Aber mein Mann, Andreas Jecklin, war lieb und gut und von allen Nachbarn geschätzt und geachtet. Er hatte einen eigenen Bauernhof. Es war der Beginn einer wunderbaren Zeit. Fünfzig Jahre sollten es werden, die wir zusammenleben durften, bis er im Jahre 1999 an einem Herzschlag starb. Fünf Kinder und elf Enkelkinder waren uns geschenkt worden. Doch jetzt nochmals ein Blick zurück: 1952 wanderten meine Brüder Hans und Rudi mit ihren Familien ein, 1954 folgte Bruder Georg. Alle drei Brüder wurden von unseren Nachbarn als Melker eingestellt. Für die Schwägerinnen war der Anfang am schwersten. Sie hatten Heimat und Familien verlassen und waren ihren Männern nach Kanada gefolgt. Wir wohnten alle in der Nähe und besuchten einander oft. Für die Kinder war es am einfachsten. Sie gingen in die Schule und hatten keine Hemmungen, englisch zu sprechen. Zehn Jahre nach ihrer Einwanderung hatte jeder Bruder einen eigenen Hof, mit Hilfe einer Bank. Jetzt wurde doppelt schwer gearbeitet, oft vierzehn bis sechzehn Stunden am Tag. Die Frauen und auch die Kinder waren dabei eine große Unterstützung. Man hatte wieder etwas Eigenes, aber die Schulden mussten bezahlt werden. Und dieses Ziel erreichten sie auch. Unsere Mutter war zwei Monate nach Beginn meiner Ausreisevorbereitungen noch in Rumänien an einem Herzinfarkt gestorben. Der Vater kam 1957 nach Kanada. Er war jetzt siebzig Jahre alt. Er wohnte bei meiner Familie, spielte Herr im Haus, befahl den Knechten, und lebte sich so rasch gut ein. Er sprach ziemlich gut Englisch und hatte viel Freude mit den Enkelkindern. Inzwischen waren es 21, alles tüchtige Bauern und Handwerker, außerdem sechs Lehrerinnen, eine Juristin und drei, die Forstwirtschaft studierten. Der Vater starb 1962 an Lungenkrebs. Unsere Familien feierten alle Geburtstage, Taufen, Konfirmationen, Begräbnisse zusammen. Wir lachten und weinten miteinander, sprachen untereinander sächsisch und sangen mit Begeisterung die alten Lieder, auch „Ich bin ein Sachs, ich sag's mit Stolz!“. Einmal jährlich treffen wir uns zu einem Familien-Picknick mit Kindern, Enkeln und Urenkeln, eine große Familie mit etwa 120 Personen. Nun bin ich die Letzte von den Geschwistern, die noch lebt. Ich bin eine Sächsin und sage mit Stolz: Ja, wir sind Sachsen geblieben. Auch unsere Nachkommen sind stolz auf diese Herkunft. Das 2009 erschienene Heimatbuch „Pruden mitten in der Welt – Ein Dorf im Schäßburger Stuhl in Siebenbürgen“ von Lukas Geddert hat bei allen eine neue Begeisterung geweckt. Das Buch hat mir eine neue starke Verbindung zur Heimat gegeben. Wenn ich könnte, würde ich zu meinem Vater sagen: „Hans Geddert von Pruden, Hausnummer 49, du kannst stolz auf deine Enkelkinder sein. Wir haben uns trotz Müh und Arbeit eine Heimat in Kanada erarbeitet, ohne unsere Wurzeln zu vergessen.“ Meine Dankbarkeit gilt auch Kanada. Hier war es möglich, diese Heimat neu zu finden. Marta Jecklin

Bearbeitet: Lukas Geddert

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