Unser alter Burghüter

Wie auch er dazu dienen konnte, das Selbstbewußtsein der Schaaler ein wenig zu heben, wird dem Leser zunächst unverständlich sein. Er ist zugleich Schuhmacher und hat etwas von der Welt gesehen. Er kennt Sibirien, Japan, China, Indien und den Suezkanal. Er kennt leider auch die Wirkungen des Alkohols, denen er sein lahmes Bein zu verdanken hat.
Er führte mich einmal zum Südportal der Kirche und zeigte auf einen Nagel im Fußboden. Er sagte ehrfürchtig und geheimnisvoll; "Den hat mir der Herr Pfarrer N. N. eingeschlagen. Das ist meine Uhr. Wenn der Schatten des rechten Eingangspfeilers auf diesen Nagel fällt, ist es zwölf Uhr. Dann läute ich. Ich habe auch einen Wecker in der Stube. Den richte ich nach diesem Nagel." Ich schwieg. Mein geehrter Amtsvorgänger scheint nicht gewußt zu haben, dass Sonnenuhren zu gewissen Jahreszeiten bis zu einer Viertelstunde vor- oder nachgehen und die genaue Zeit nur mit Hilfe einer Tabelle errechnet werden kann. Dass aber der Pfeiler nicht eben ist und die Sonne, wenn sie tief steht, an Stellen vorbei scheint, an denen der Mörtel abgebröckelt ist, hätte er doch sehen können. War schon diese Theorie der Zeitbestimmung schlimm, so war die Praxis noch schlimmer. Denn nun kam noch hinzu, dass der Burghüter von seinem Schuhmacherbankerl nur aufstand, wenn der Doppler, den er anzuschlagen hatte, fertig war. Auf eine halbe Stunde zu früh oder zu spät kam es ihn nicht an.
Unter dem Druck der anfänglichen Lage in Schaal nahm ich mir vor, auch hiezu zu schweigen, um nicht Konflikte heraufzubeschwören, deren Überwindung ich mich nicht widmen wollte und konnte. Denn man hatte mich gewarnt,ich würde den Burghüter doch nicht ändern können, er würde aber im Rausch in der Gemeinde herumgehen und hemmungslos über mich schimpfen. Jedesmal beim Läuten aber dachte ich an die Armen, die täglich von Arbegen mit der Bahn nach Kopisch in die Fabriksarbeit fahren und ohne genaue Zeitbestimmung von Schaal zu früh aufbrechen müssen.
Doch bald kam auch für die Einführung der Pünktlichkeit die Zeit. Ich erklärte dem Burghüter, weshalb sie nötig sei. Dann verlangte ich von ihm, er solle jeden Vormittag mit seinem Wecker herunterkommen, damit ich ihn nach meiner Uhr richte / die in einem Monat um weniger als eine Minute von der Radiozeit abweicht/. Dann ordnete ich an, das Mittagläuten dürfe von der genauen Zeit nicht mehr als um eine halbe /?/ Minute abweichen.
Am nächsten Tag sass der Burghüter bei seiner Flickarbeit, als er läuten hörte. Er stürzte heraus und fand am Glockenstrang seinen Pfarrer. Am zweitnächsten Tag kam er um eine Minute zu spät. Sein Pfarrer stand mit der Uhr in der Hand bei der Glocke und sagte, heute dürfe nicht mehr geläutet werden, denn wir dürften die Leute nicht vernarren. Am dritten Tag läutete er sieben Minuten vor 12 Uhr, also zu früh. Sieben Minuten nachher läutete der Pfarrer noch einmal, jetzt zur richtigen Zeit.
So ging das hin und her, etwa eine Woche lang. Dann kam der Rausch und das Schimpfen seinerseits /das aber zum Staunen des Burghüters auf allgemeine Ablehnung stiess/ und ein Entweder-Oder und Weiterläuten meinerseits. Das Ende war, dass er sich ergab und nun täglich kurz vor 12 Uhr mittag seinen Wecher nach meiner Uhr richtet und mit diesem Wecker in der Hand beim Glockenstuhl steht, bis der Zeiger - bei senkrechtem /!/ Blick darauf - genau die richtige Zeit anzeigt. Dann läutet er. Wäre ich mit ungefährer Genauigkeit zufrieden gewesen, hätte ich ihn so leicht nicht kurieren können. Mit der übertriebenen Forderung nach äußerster Genauigkeit habe ich ihn kuriert.
Nun die Kur gelungen war, kam das Lob meinerseits, das reichlich floss und nie abriss, aber auch das sofortige Eingreifen, wenn die Pünktlichkeit die Halbe-Minute-Grenze nicht einhält. Nun lobt er sich und seine Genauigkeit auch selber und mich erstrecht dazu. Er ist mein treuester Anhänger geworden. Er sagt: "Viele Gemeinden haben eine Turmuhr, aber keine geht gut. Schaal hat nur einen Burghüter, aber der geht gut." Das hatte ich im Scherz einmal in seiner Anwesenheit gesagt. Er hat es sich gemerkt und sagt es stolz bei jeder Gelegenheit. Und er hat recht: Unser Burghüter "geht gut". Er lässt aber auch mich leben und sagt jedem geheimnisvoll: "Wenn dieser Pfarrer früher gekommen wäre, hätten wir jetzt einen Turm".
Wenn ich am Sonntag mit dem vor meinem Amtszimmer hängenden Glöckchen das Zeichen zum Einsetzen des Kirchgangläutens gebe, setzt das Läuten des Burghüters nicht nach einer Minute, sondern sofort ein, was in Schaal internationales Staunen und Bewundern auslöst. Mein Geheimnis ist, dass sich der Burghüter schon einige Minuten vor der Zeit in das Glockengestühl begibt und dort auf mein Zeichen wartet.
Auf die Schaaler Pünktlichkeit sind alle Schaaler besonders stolz, und ich fürchte - da sie von ihr gar so viel in und ausserhalb Schaals reden - , es wird von aller meiner Tätigkeit in Schaal dies wohl dasjenige sein, das von mir auf Enkel und Urenkel - wer weiss, in welcher Verzerrung - übergeht.

Wilhelm Schunn - Pfarrer / aufgezeichnet von Hanni Ziegler / 29.11.2011

Zum Gedenkbuch der Kirchengemeinde Schaal, 1956

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