D a s A b v e r l a n g e n b e i T o d e s f ä l l e n

D a s A b v e r l a n g e n b e i T o d e s f ä l l e n Bei Leichenbegräbnissen stehe ich als Pfarrer in der Toreinfahrt, bis der Leichnam in den Hof gebracht wird. Was sich in der Stube abspielt, höre ich nicht. Da wurde mir der folgende empörende Vorfall erzählt. Ein alter Mann, der von der Nachbarschaft mit dem zunageln des Sarges beauftragt war und dem das Klagen der Frauen zu lange dauerte, wusste sich in seiner ungeschickten Art nicht anders zu helfen, als dass er sich recht barsch und brummig gebärdete. Er sagte: „Jetzt habt ihr genug geblärt. Glaubt ihr, wir sollen hier ewig stehen? Macht Platz!“ und damit schob er die zwei Nächststehenden auch schon unsanft weg. Einige Tage nachher ging ich zu dem wohl gescheitesten / aber kränklichen / Bauer Schaals / den man stets zu Hause trift/. Ich gab ihm einen Zettel in die Hand, auf dem ich hochdeutsch aufgeschrieben hatte, was ich als Städter meinte, dass beim Abverlangen zu sagen sei. Ich bat ihn: „Sagen Sie das sächsisch." Er las den Zettel durch, wendete sich von mir ab und begann mit lauter Stimme, als ob er in der Leichenstube wäre. Bei zwei Punkten schüttelte er den Kopf und sagte: „Herr Vater, das kann man sächsisch nicht sagen.“ Ich :“ Sagen Sie etwas Ähnliches, das sächsisch besser klingt.“ Wohl zehnmal setzte er an. Was er sagte, wurde meinem Konzept immer unähnlicher. Dann schrieben wir es sogleich auf. Es ist nicht wörtlich verbindlich, doch soll der Nachbarvater, der das Abverlangen vorzunehmen hat, folgende fünf Punkte beachten: 1. Anrede: Ihr lieben... 2. Euer lieber Vater /Mutter, Bruder.../ war immer bei euch als ein Geschenk Gottes an euch. Er hat euch umhegt mit seiner Liebe und Sorge usw. 3. Aber wir bitten zu bedenken, dass er auch uns gehört hat. Er war unser lieber Nachbar, der mit uns... Wir hatten ihm gegenüber Pflichten und Rechte. Und er hatte uns gegenüber Pflichten und Rechte. Und er hat sie stets treu erfüllt... 4. Und so bitten wir euch, uns zu erlauben, ihm unsern Dank abzustatten und ihm die letzte Ehre zu erweisen – nicht wir als einzelne, sondern wir, die Nachbarschaft, in der er gelebt hat. 5. Euch aber bitten wir, mit Gott nicht zu hadern, dass er ihn euch genommen hat, wie groß auch euer Schmerz um ihn ist. Sondern daran zu denken, wie groß das Geschenk Gottes war, als er ihn euch gab. Dies ist jetzt der Schaaler Brauch. Wer uns einen schöneren schenkt, soll herzlich bedankt sein. Wir bitten drum.

W. Schunn - Pfarrer / Aufgezeichnet von F. Ziegler

W. Schunn,Pfarrer - Auszug aus - "Meine Schaaler Arbeit"

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