Das vergessene Schwein

Unsere Vorfahren waren schon immer fast zur Gänze Selbstversorger. Da sie - von einigen Ausnahmen in den Städten mal abgesehen - in der Landwirtschaft tätig waren, benötigten sie die Wochenmärkte meist nur, um ihre Erzeugnisse zu verkaufen oder Vieh einzukaufen. Sogar Kleidungsstücke stellten sie selber her an zugegeben recht primitiven Webstühlen, an denen viel Zeit in Anspruch genommen wurde, doch das machte den fleißigen Frauen nichts aus, denn im Winter hatte man ja Zeit genug. Man traf sich oft abends in den "Räkenstuwwen", eine Art Weibertreff, wo Männer eigentlich nichts zu suchen hatten und tratschte über alles Mögliche. Nicht selten wurde auch die eine oder andere Volksweise angestimmt und mehrstimmig gesungen, ein echter Schmaus für die Ohren. Die dort gesponnenen Fäden dienten im Nachhinein als Rohstoff für die Webstühle. Ehrlicher Weise sollte erwähnt werden, dass besonders die Unterwäsche recht grob ausfiel und sich so Mancher bei Ihrem Tragen in den Intimbereichen sogar Schürfwunden zuzog - vom schönen Geschlecht liegen keine Klagen vor... -, doch darüber wurde nicht gesprochen, weil solche "Unfälle" bei unseren Sachsen tabu waren, wie übrigens das ganze Sexualwesen. Man hatte viele Kinder - also wusste man auch, wie es geht..., doch wäre es niemandem eingefallen Jemanden - auch den besten Freund nicht - zu fragen, wie man es hätte besser machen können. Hauptsache, die meisten Nachkommen waren gesund und, wenn nun der Eine oder die Andere frühzeitig verstarb, so hatte man nicht viel Zeit für Trauer oder Klagen und zeugte einfach den Nächsten. Unter`m Strich blieben genug übrig, um auf dem Feld mithelfen zu können.

Wenn der Winter nahte, wurde den borstigen Vierbeinern eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Man fütterte sie mit "saftiger Nahrung", um so viel, wie nur möglich an Gewicht zuzunehmen und - ganz wichtig (!!) - eine recht dicke Fettschicht anzulegen, der Stolz jedes Landwirten. Der Speck wurde im Folgenden eingesalzen, nach einiger Zeit geräuchert und dann auf den Dachboden - später in die Speckkammer - gebracht und aufgehängt.

Das Schweineschlachten war in ganz Siebenbürgen ein Ritual. Konnte man es nicht selber vornehmen, so bestellte man eben einen Spezialisten und von denen gab es in jedem Dorf einige. Die waren keine gelernten Metzger, hatten aber "den Beruf" von ihren Vorgängern übernommen und genossen Ansehen bei den Mitmenschen, verbunden mit einem "Lohn in Naturalien", bestehend aus allen fabrizierten Wurstarten und einem kräftigen Fleischstück. Oft sammelten sie so viel an Vorräten dieser Art an, dass sie selber überhaupt keinen vierbeinigen Grunzer schlachten mussten.

Anlässlich dieser Zeremonie wurden zum "Brädelawend" auch nahe Verwandte und Bekannte eingeladen. Man trank "als Vorspeise" einen oder zwei Stamperl Pali, verzehrte dann die Bauernsuppe und die "Tokană", um sich anschließend bei einem - oder mehreren... - Glas Wein zu unterhalten, bevor weiter gearbeitet wurde.
Zusammenfassend könnte man sagen, dass sich beim Schweineschlachten alle recht wohl fühlten - vom Opfer mal abgesehen... Alles verlief in harmonischen Bahnen, jedenfalls meist. Im nun folgenden Fall sollte sich das Ganze etwas... anders abspielen:

Zu den Kennern der Materie zählten auch der Fichentummes und der Garje`misch. Beide waren vom Ehelos ziemlich stiefmütterlich behandelt worden, denn sie waren "im Genuss" von zwei Frauen, dem Trenj und dem Jinn, bei denen pariert werden musste. Deren Mundwerke waren scharf wie ein Hußarenschwert, wie man im Dorf zu sagen pflegte, sodass jeder ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg ging, kein Wunder also, dass die beiden Giftzungen auch eng miteinander befreundet waren. Selbstverständlich mussten es dann auch die Männer sein, erst zwangsweise, aber dann auch schicksalsweise.... Da Beide in der Schlachtzeit ziemlich viel beschäftigt waren, musste ein Tag bestimmt werden, an dem die Freunde zusammenkommen konnten, um den über 200 Kilogramm schweren Eber vom Tummes zur Strecke zu bringen. Es war auch das einzige Datum, an dem die Frauen nicht anwesend sein durften, denn Schweineschlachten war eben Männersache und dagegen konnten nicht mal die Trenj und die Jinn was tun.

Am frühen Vormittag begab sich also die "gute Hälfte vom Tummes" zu ihrer Freundin und der Misch zum Tummes. Als sich die beiden leidgeprüften Kumpane begegneten, fielen sie sich herzzereißend in die Arme und weinten fast vor Freude, den weiblichen Plagegeistern endlich - wenn auch leider nur für kurze Zeit - losgeworden zu sein. Beide hatten eine Ausstrahlung, als hätten sie den lieben Herrgott persönlich angetroffen und ihm die Füße geküsst!

"Dich hat der Himmel geschickt!", rief Tummes und drückte den Leidgenossen fest in seine Riesenpratzen. "Und auch der hat die Trenj weggeschickt!", frohlockte der Misch. Beide setzten sich auf die Trunn und kippten innerhalb kürzester Zeit einige Stamperl des hochprozentigen Eigenproduktes. Danach lösten sich auch ihre Zungen und diesmal konnten sie ihnen auch freien Lauf gewähren, denn die Hausdrachen waren ja nicht anwesend.

Danach wurde "der Bursche", wie Tummes seinen Grunzer nannte, aus dem Stall geholt und in die ewigen Jagdgründe geschickt. Der wehrte sich vor seinem Abdanken zwar mit allen Kräften, doch die beiden Bauern hatten ja auf diesem Gebiet schon langjährige Erfahrung und dementsprechend dauerte die Agonie des Schweinemannes nicht lange.
Anschließend legte man den Fettsack in eine Mauld, übergoss ihn mit heißem Wasser, kratzte ihm die Borsten ab, hob ihn auf eine Strohunterlage und brannte die noch verbliebenen Haare mit einem Büschel Halmen weg. Nach einer Dusche sah der männliche Vierbeiner so rein aus, wie ein Neugeborener nach dem ersten Bad.

Im folgenden Schritt wurde "der Bursche" aufgeschnitten und ihm die Innereien entfernt. Die mussten nun gereinigt, bzw. sortiert werden, um dann zu verschiedenen Erzeugnissen weiter verarbeitet zu werden. Damit war die erste Phase der Schweinetrilogie beendet.

Das musste gefeiert werden. Die Freunde zogen sich nun in die warme Stube zurück. Tummes verschwand mit einer großen Kanne in den Keller, während Misch sich an die vorbereitete Mahlzeit - Speck, Brot und rote Zwiebeln - heranmachte, denn schließlich musste eine Basis für das folgende Saufgelage geschaffen werden.
Tummes kam aus den Katakomben mit einem herrlich hellbraunen Wein an die Oberfläche und schenkte ein; einmal, zweimal ...n-mal. Die Saufkumpanen becherten was das Zeug hielt und verstrickten sich in immer weiter zurück gehende Erlebnisse, die anscheinend nie enden wollten. Zwischendurch besuchte der Hausherr noch zweimal das Weinfass im Untergrund und entfernte immer mehr dem sich darin befindlichen Inhaltes andersrum, es drang immer mehr Luft hinein...

Irgendwann wurde der Dialog durch einen immer lauter werdenden Gesang ersetzt. Man lallte erst Heimatlieder, danach patriotische Weisen, bis den Artisten die Puste ausging. Erst kippte der Misch auf die Trunn, dann gesellte sich der Tummes hinzu, indem er es gerade noch so schaffte, die zwei Meter zwischen Stuhl und dem Ruhemöbel - wenn auch mehr auf vier, als auf zwei Beinen - zu erreichen. Beide versanken in einen tiefen Schlaf, aus dem sie kein Kanonenkrach hätte wecken können.

Inzwischen hatte es angefangen zu schneien, anfangs nur leise rieselnd, aber dann immer stärker und stärker, sodass sich die Umrisse des Tierkadavers nach einigen Stunden im Schnee verloren. Irgendwann war nur noch eine kleine Erhebung auszumachen.

Nach der Abendglocke kehrte die Trenj zurück. Sie hatte mit ihrer Tratschschwester einen langen Meinungsaustausch gehabt, bei dem sich Beide recht schwer taten, denn daheim kamen ja nur sie zu Wort, während sie nun wertvolle Redezeit abtreten mussten. Es war der einzige Kompromiss, den die sonst so Wortgewaltigen eingehen konnten - und mussten. Demzufolge war das heimkehrende Weib schon etwas gereizt.

Als Trenj den Hof betrat - das "Arbeitszimmer" befand sich im Hinterhof - begegnete ihr eine Todesstille, was auf etwas Außergewöhnliches hindeutete, waren doch Tummes und Misch bei einem Glas recht redselig - wenn es ihnen denn erlaubt war... So erstürmte sie die Bastion der "Witwer" wie ein Wirbelwind, indem sie die Tür aufschlug und schon anfangen wollte die berühmt berüchtigte eigene Meinung zur Geltung zu bringen. Was sie da allerdings zu Augen kriegte, ließ sogar ihr die Sprache verstummen: Die "Metzger" schnarchten um die Wette; vom "Burschen" keine Spur!

Hier stimmte so Manches nicht. Der weibliche Teufel rappelte sich auf, ging zur Unterkunft des Rüsseltieres, suchte es in der Scheune, im Kuhstall und auch im Garten. Nichts und wieder nichts. Was war da nur geschehen? Als er zurückkam, erfolgte kurz vor dem Kücheneingang ein Ausrutscher im dicken Schnee und der Haustyrann flog auf die Schnauze, weil er über etwas gestolpert war, das sich als Schweinefuß herausstellen sollte. Der ragte nun mit der Spitze heraus...

Die Trenj musste nicht viel scharren. Eine große Klappe zu haben hieß noch lange nicht, dass das mit Dummheit zu tun haben könnte. Nein, nein, an Verstand und Vorstellungskraft mangelte es der Bäuerin keinesfalls. Schnell erkannte sie die Lage und zog die Konsequenzen: Im Nu wurde ein Eimer mit Schnee gefüllt - an dem musste ja nicht gespart werden - , in die "Metzgerei" transportiert und den Schlafenden auf den Brummschädel gestülpt, gefolgt von einem kräftigen Einreiben - an Kraft fehlte es ihr bestimmt nicht. Noch bevor die Schluckspechte richtig aufgewacht waren, wurden ihnen Teile der übrig gebliebenen "weißen Pracht" unter die aufgeknöpften Hemden an die Brust und in den Nacken verpasst, eine wirklich "herrliche Bescherung..."

Wie vom Blitz getroffen, sprangen die noch in hohem Grad Alkoholisierten auf, ohne zu wissen, was mit ihnen geschah. Sie strichen sich wiederholt über die Augen, schüttelten die Köpfe, um irgendwie zur Realität zurückzukehren, was nicht ohne Weiteres gelang. In ihrem Rausch wussten sie auch nicht so recht, wie "das gefrorene Wasser" auf schnellstem Weg herauszuholen war, sodass dieses seinen ursprünglichen Zustand wieder erlangte und die Körper hinunter rann.

Die feindlichen Parteien standen sich in den folgenden Momenten sprachlos gegenüber; die Trenj, weil sie noch immer fassungslos ob der sich gebotenen Lage war, die "Schweinekiller" ob ihrer Schuld.

Etwas musste geschehen - und geschah auch: Mit zur Weißglut angelaufenem Gesicht donnerte die wahre Herrin des Hauses eine minutenlange Tirade auf die Schluckspechte herab, die auch versierten Spezialisten auf diesem Gebiet eine Lehre hätte sein können. Da sich sächsische Wörter dafür kaum eigneten, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, besann sich der Nachbarschreck der rumänischen Sprache. Die beherrschte sie nur in gewissen Grenzen, aber deren "Perlen" schon und die waren um Einiges "saftiger" als die des Sächsischen...

Nach dem gewaltigen Donnerwetter, dem die sowohl von Außen als auch von Innen Durchnässten reuig zuhörten, wurde seitens der Trenj eine Art Frieden vereinbart. Der sah vor, dass bis spätestens zehn Uhr morgens die vernachlässigte Arbeit ein Ende nehmen müsse, ansonsten drohte der Hausgeneral dem Tummes mit Hausarrest sprich, er durfte in dem Winter an keinem anderen Schlachten beteiligt sein, für den Armen eine wahre Katastrophe, denn nur bei solchen Gelegenheiten konnte er ein Stückchen Freiheit genießen. So wunderte es nicht, dass der "Vorschlag" ohne Murren angenommen wurde. Auf eine Feier, wie eingangs beschrieben, wurde diesmal verzichtet...

Variante aus der gleichnamigen Erzählung aus "Zwischen drei Welten" von W.G.Kauntz




Erzählt 1976 von Mathilde Simonis; aufgezeichnet von W.G.Kauntz















Walter Georg Kauntz

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