Der Wunderofen

Es war im Februar 1958. Vielleicht war dieser Monat auch in den zurückliegenden Jahren ähnlich hart, aber daran kann ich mich wegen des frühen Alters nichtmehr erinnern, was ja schließlich auch nicht so wichtig ist. Tatsache ist jedoch, dass es damals klirrend kalt war. Wenn man nach draußen ging, knirschte der Schnee so laut unter den Schuhsohlen, dass man den Eindruck hatte, im tiefen Sibirien zu verweilen. Jeder Atemhauch hinterließ eine lange Spur in der Luft; der Rauch aus den Schornsteinen stieg senkrecht gen Himmel und war bis in schwindelnde Höhen zu verfolgen; die Hunde winselten vor der Haustür und baten um Einlass, während sich die Hühner nicht aus ihrer Behausung heraus trauten. Selbst unser vierbeiniges Schwein hatte sich die ganze Strohunterlage in eine Ecke gescharrt und legte sich drauf in Form eines Knäuels. Auf den Straßen waren kaum Menschen zu sehen. Erschienen sie doch, so waren sie derart vermummt, dass man sie nicht erkennen konnte. Sie bewegten sich eilenden Schrittes in die zu bewältigende Richtung, stets bemüht das Ziel so schnell, wie nur möglich zu erreichen.

Wir Kinder hatten kältefrei, denn der Schulweg war den weiter wohnenden Kindern von der Schule nicht zuzumuten. Außerdem konnte auf diese Weise an Holz gespart werden, denn dieses war aus verschiedenen Gründen recht knapp bemessen. Wir standen spät auf, nachdem wir nach dem Wachwerden noch einige Zeit im Bett herumgetollt hatten. Dann gingen wir zur Waschschüssel und taten so, als würden wir uns das Gesicht waschen; in Wirklichkeit wurden aber nur die Finger nass und vielleicht die Augen, schließlich musste ja am wertvollen Nass gespart werden...
Wenn wir Wasser lassen mussten, begaben wir uns in den Garten hinter den Schweinestall, zogen unsere Nippel hervor und manövrierten sie derart, dass gelb-braune Wörter im schneeweißen festen Niederschlag geschrieben wurden. Das hatte ich von meinem Bruder Walter gelernt, der oft solche ausgefallenen Ideen hatte. War das Wort nach einem Urinieren noch nicht fertig, so wurde der Rest beim nächsten oder übernächsten Entleeren der Harnblase ergänzt. Blöderweise hatten wir unsere Namen verewigt, sodass uns Vater, als er die "neue Schriftart" entdeckte, den Allerwertesten etwas versohlte. Danach gaben wir diese Stelle auf und vollendeten unsere "Kunstwerke" weiter hinten am Kokelufer, wissend, dass das Familienoberhaupt diese Gefilde nicht mal im Sommer betrat.
Eines Tages erhielten wir Besuch. Es handelte sich um einen Müller aus einem abgelegenen Nest, dem Vater den Mühlenmotor reparieren sollte. Da sich diese Angelegenheit als langwierig herausstellte, blieb der gute Mann über mehrere Tage in unserer Mitte.
Lotte, unsere Schwester, kümmerte sich um den Haushalt, da ja die Mutter verstorben war. Beim Kochen wurde sie von der Oma belehrt, denn auf diesem Gebiet hatte das junge Wesen noch keine Erfahrung. Die alte Frau lag schon seit vielen Wochen im Bett. Anscheinend litt sie an einer unheilbaren Krankheit, doch so genau wusste das keiner.

Zu Ehren des Gastes wurde ein Huhn geschlachtet und daraus eine Suppe und Gulasch zubereitet. Der baciu (Bruder) Djordje sah unserer Schwester bei der Essenszubereitung mit besonderem Interesse zu. Dabei leckte er sich wiederholt den Mund und stieß seltsame Geräusche aus, die darauf hindeuteten, dass der bedauernswerte Mann schon seit geraumer Zeit keinen Bissen zu sich genommen hatte.
Als es so weit war, setzten wir uns alle an den Tisch. Vater bat den Müller, sich als erster zu bedienen, doch der versicherte, dass er das schon immer als Letzter täte. Die Ursache sollten wir noch früh genug erfahren.
Jeder füllte seinen Suppenteller mit der Hühnerbrühe und wartete darauf, dass sich der etwas mollige baciu bediente. Als er dran war, zog er einfach die Schüssel zu sich und schlürfte deren Inhalt mit dem Suppenlöffel in sich hinein! Als sich die Menge zur Neige näherte, packte er den Topf einfach an den Henkeln und ließ den verbliebenen Sud einfach in den recht weiten Schlund gleiten.
Wir alle waren sprachlos, doch das schien dem Hungrigen nichts auszumachen, denn beim Gulasch passierte das gleiche sprich, er ließ uns alle eine Portion herausnehmen und der Rest landete in seinem Magen. Danach dankte er Lotte für das leckere Essen und ging nach draußen, um nach seinen Pferden zu sehen.

Kaum war er weg, richtete sich die Großmutter im Bett auf und wandte sich mit vor Aufregung zitternder Stimme an Vater: "Am Guettes Wiallen, Jirku, wen hoost te nuer broocht? Diër friasst es oorem!"(Um Gottes Willen, Georg, wen hast du nur gebracht? Der frisst uns arm!). Eine Antwort erhielt sie nicht, denn der Angesprochene verließ den Raum nachdenklich in Richtung Werkstatt. Bestimmt wollte er die Arbeit so schnell, wie nur möglich zu Ende führen, um den Vielfraß loszuwerden.

Nach einiger Zeit erschien der baciu Djordje frohgesinnt in der alten Küche. Er holte sich einen Stuhl, schob ihn mit der Lehne an den Ofen, der mit Sägespänen gefüllt war, zog seinen Schafsmantel aus, hing ihn sich über die Schultern und ragte das Gesicht über den heißen Deckel. Anscheinend war der Müller nicht nur ein Nimmersatt, sondern auch ein ständig Gefrorener.
Der Ofen hatte unten eine Öffnung, die mit einer Schiebevorrichtung versehen war, mit Hilfe derer man die Temperatur regeln konnte. Die wurde nun vom Mann aus der Kälte so eingerichtet, dass der obere Deckel anfing rot zu werden. Innerhalb kürzester Zeit stieg die Zimmertemperatur um bestimmt zehn Grad an, doch auch dies verführte den Urheber der Sommerwärme nicht dazu, wenigstens den dicken Umhang abzulegen. Er stand auch weiter mit dem Antlitz über dem glühenden Metall, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken. Vielleicht wollte er es anbeten... Wir waren von neuem sprachlos, trauten uns jedoch nicht etwas zu sagen.

Plötzlich knallte es gewaltig! Der übererhitzte Deckel flog in die Höhe und landete stracks auf der Nase und der Stirn des Polarmannes. Der sprang instinktiv nach hinten und landete mitten in der Küche. Als er sich umdrehte, zeigte der Knall erste Spuren: Das Riechorgan hatte die Farbe einer Karotte angenommen und die Front näherte sich ihr langsam auch. Wie von der Tarantel gestochen, sprang der nun Gezeichnete auf und rannte in die Kälte, wo die Wunden mit Schnee bedeckt wurden.

Vater schien die Explosion mitbekommen zu haben. Er eilte herbei, holte einen Lappen, durchnässte ihn und brachte so den Deckel an seinen angestammten Platz. Dann öffnete er die Tür, um dem dicken Qualm den Garaus zu machen. Die Oma murmelte irgend etwas Unverständliches daher; wir legten unsere Winterkleidung an und verließen den Raum eiligst.

Draußen angelangt, sahen wir, wie der Hauptakteur einen neuen Tanz erfunden hatte: Er humpelte von einem Bein aufs andere, um sich dann in fast regelmäßigen Zeitabständen zu bücken und Teile der weißen Pracht auf die Wunden zu streuen. Dabei verließen für mein Empfinden recht traurige Töne seinen Kehlkopf, doch mein älterer Bruder beruhigte mich, indem er versicherte, es wäre eine sehr beliebte rumänische Volksweise. Er musste es ja wissen, denn er war sehr belesen. Erst Jahre später erfuhr ich die Wahrheit...

Die Zeit danach verhielt sich unser Gast ungewohnt: Er aß ganz normal, war sehr höflich und mied sogar den Sägespäneofen. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass dieser ihm sogar Angst einflößte, eigentlich unbegreiflich, denn der rumänische "Bruder" war sehr kräftig gebaut. Oder lag es an der Unberechenbarkeit des Wärmespenders? Geäußert hat er sich dazu nicht. Ich staune auch heute noch: Was so ein harmloser Ofen nur alles bewirken kann...

Aus "Zwischen drei Welten" von Walter Georg Kauntz

Helmut Kauntz

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