Das unverschämte Huhn

Machmal, wenn ich mich allein fühle, denke ich an die wenigen Jahre zurück, die ich in Donnersmarkt verbracht habe. Dann schließe ich die Augen und lass` mich von Gedanken tragen. Anfangs ganz verschwommen, aber danach immer deutlicher, erscheint irgendwo im fernen Südosten Eurpoas eine winzige Welt. Sie begrenzt sich auf einen minimalen Flecken zwischen zwei Bergen, zwischen denen sich die Kokel schlängelt. Die kommt von weit her aus den vulkanischen Gebirgen der Ostkarpaten, ist jedoch schon - bis auf einige Ausnahmen - ganz gezähmt. Meist führt sie ganz wenig Wasser. Da hab` ich sie mit einer Kuh verglichen, die vernachlässigt wurde. Mit meinem Lieblingsgewässer war es - dachte ich - auch so. Zu der Zeit - ich besuchte noch die Grundschule - verfluchte ich immer wieder die Menschen, die oberhalb unseres kleinen Nestes wohnten, weil ich den Eindruck hatte, dass "mein Fluss" nur deshalb so wenig Wasser führen würde, weil sie daraus viel zu viel entnahmen! Die Habgierigen...

Die Mutter war in der Zwischenzeit schon längst tot. Mein jüngerer Bruder Helmut und ich spielten trotzdem in der zu der Zeit zahlreichen Kinderschar so mit, als sei nichts passiert. Zwar vernahm ich des Öftern Mitleidsgefühle seitens der Erwachsenen, doch damals konnte ich sie nicht einordnen. Dass mir trotz diesem enormen Verlust eine glückliche Kindheit beschert wurde, verdanke ich der ganzen damals existierenden Gesellschaft. Dafür möchte ich mich ein Leben lang bedanken!!! Vielleicht auch aus diesem Grund habe ich in späteren Jahren so viele Menschen meiner Geburtsstätte zu Wort kommen lassen, ihre Erzählungen aufgeschrieben und sie nach so vielen Jahren veröffentlicht. Es ist als später Dank dafür zu verstehen, wie mich die Menschen in diesem abgelegenen Dorf behandelt haben. Ich werde ihnen immer dankbar sein!!!

Vater war selten daheim. Durch seinen Beruf musste er hauptsächlich in vielen Dörfern anwesend sein. Zu Hause nahmen die älteren Schwestern Mutterpflichten wahr, die sie zwar versuchten zu meistern, aber es ihnen logischer Weise nur zum Teil gelang, denn wir wussten schon damals genau - Helmut und ich -, dass sie eben auch nur Geschwister waren. Aus diesem Grund nahmen wir uns auch viele Freiheiten, die anderen Kindern unseres Alters nicht zuteil wurden. Leider verstanden wir - die Beiden - unter Extratouren schon in frühen Jahren ganz Verschiedenes: Helmut war mehr der Draufgänger, während ich - vielleicht auch bedingt durch meine etwas pummelige Art - mehr ruhiger eingestellt war. Sicher spielten wir auch oft miteinander, aber nicht selten wollte ich allein sein. Dann nahm ich Lidi - unseren Hund - und entfernte mich aus der Dorfgemeinschaft.
Durch diesen Vierbeiner wurde mir zum ersten Mal im damals noch ganz jungen Leben der Horizont eröffnet, der sich im Folgenden ständig ausbreiten sollte. Mit ihm überschritt ich bis dahin kaum geahnte Grenzen, die z.B. da waren, die Siedlung nicht zu verlassen. Wir beide taten es!
Das Duo schlich sich den Biërk (einem Wäldchen in den Flussauen)entlang, vorbei an den "niedlichen" Wohnungen der "Grenzler" - so nannte man die Zigeuner, weil sie am Rande der Ortschaft wohnten - und machte auf der Brücke einen ersten Halt. Während Lidi hin und her sprang, bewunderte ich die Pracht der Natur. Links erschien ein riesiger Berg, rechts versteckte sich die Siedlung. Hinter ihr befanden sich unendliche Wälder, die vielleicht bis zu den Füßen der Karpaten reichten. So stellte ich es mir jedenfalls vor, denn mein damaliger Horizont war mehr als eingeengt.

Wohin könnte dieser Fluss wandern? Vielleicht in ein Meer, vielleicht in einen See, vielleicht in einen noch größeren Namensvetter. Aber, was spielte das schon für eine Rolle? Er war da, trat manchmal über die Ufer und blieb ansonsten still und unaufdringlich. Ich jedenfalls hatte großen Respekt vor ihm und bewunderte ihn. So kam es nicht von ungefähr, dass ich ihn des Öftern besuchte. Dann setzte ich mich auf die ins Ufer eingehauenen Treppen und schaute ihm zu. In den Bäumen zwitscherten munter Vögel und manchmal schnappte sich ein Otter einen Fisch und störte damit die sonst tiefe Stille. Was waren das noch Zeiten...

Neben den Sorgen des Alltags gab es auch viele Erlebnisse, die man eher in die Kategorie des Humoristischen eingliedern kann. Dazu gehört auch die nun folgende:

Vater hatte uns von einer seiner Reisen einen Ball mitgebracht. Mit dem spielten wir die ganzen Tage. Mal auf dem Fußballplatz, mal auf der Wiese und mal im Hof an der Wand. Dabei donnerten wir - Helmut und ich - das Runde mit dem Kopf so oft, wie nur möglich gegen die Hauswand. Wer es länger schaffte, wurde als Sieger erklärt.

Als Zählerin galt Liso, eine Nachbarstochter, die in meinen Bruder richtig verknallt war. Trotzdem versuchte sie immer korrekt zu bleiben, obwohl ich manchmal schon den Eindruck hatte, dass sie zugunsten meines durch die Natur aufgezwungenen Spielkameraden schummelte. Beweisen konnte ich es jedenfalls nicht.

Eines Tages kam das Mädchen mit voll bepackter Nahrung an: In der einen Hand hielt sie ein Stück Brot, in der anderen ein Stück Fleisch. Wie sie behauptete, war es ihr Mittagsessen, das ihr die auf dem Feld tätigen Eltern hinterlassen hatten.

Zu den Zuschauern unserer Auseinandersetzungen im Kopfball zählte auch Sidli. Es handelte sich um ein Huhn, das wir aus der Kooperative - sprich, Dorfladen - gekauft hatten und mit uns aufwuchs. Neben dem Hauptbau gab es eine aus Urzeiten stammende Küche, die Maritze`maunstuww, eine primitive Lehmhütte, die jedoch den Vorteil hatte im Sommer zu kühlen und im Winter zu wärmen, weil die Wände fast einen Meter dick waren. Da wurden die elternlosen Küken untergebracht. In der Zwischenzeit waren sie vom Aussehen her ausgewachsen und befanden sich auch alle im Hühnerhof. Alle? Aber, nein. Nicht Sidli. Dieser kleine Frechdachs fühlte sich mehr den Menschen verbunden, als der eigenen Gattung. Solche Ausnahmen soll es doch immer wieder geben...

Während unseres Herumballerns geschah plötzlich eine kleine Katastrophe: Das bis dahin so friedliche Huhn, das unsere Spiele stets verfolgte und dabei immer sang, griff zu: Durch einen gewagten Sprung entriss es Lisi das Stück Brot und wanderte mit ihm in Richtung Sandkasten, drehte es wiederholt um und fing danach an, es zu verzehren.

Wir Drei standen blöd da und wussten uns nicht zu helfen. Das arme Kind fing an zu weinen, da es nur noch die Hälfte des Mittagessens in der Hand hielt. Deshalb drückte es das noch übrig gebliebene Fleisch in die Hand und versuchte zu vergessen.

Wir kickten weiter. Irgendwann vergaß auch unsere Zählerin das ihr vorher widerfahrene Übel und führte ihre Aufgabe weiter. Alles hatte sich beruhigt.

Auf einmal erfolgte ein Aufschrei: Sidli schnappte nochmal zu und machte sich auch den zweiten Teil des Mittagsessens von Lisi zu eigen. Genau, wie kurz davor, beeilte es sich in die schon bekannte Richtung und machte auch diesen Happen für Menschen ungenießbar. Danach kam es zurück und fredonierte die einzige ihr bekannte Weise: Ko, ko, ko und ko ko ko, ko ko ko und ko, ko ko. Der Vogel schien dabei seinen Spaß zu haben.

Anfangs waren wir sprachlos. Natürlich wäre ein leises Grinsen angebracht gewesen, doch wir trauten es uns nicht zu, da uns die "Magenlage" unserer "Sekretärin" bekannt war. Das arme Mädchen war um die ganze Nahrung gebracht worden!

Was nun? Das Spiel wurde beendet. Wir begaben uns in den Schatten und dachten nach. Wie hätte man helfen können?

Nach einiger Zeit erschien unsere Schwester Lotte. Sie merkte, dass da was nicht stimmte, denn eine derartige Schweigsamkeit unsererseits war ihr kaum bekannt... Also fragte sie nach der Ursache und atmete erleichtert auf: "Ist doch kein Problem", meinte sie, "kommt doch in die gute Stube und esst alle was. Die Suppe ist schon fertig."

Die Blicke von Lisi erheiterten sich. Aus ihrer Sicht hatte sie unsere Schwester vor dem Hungertod gerettet! Sie löffelte und löffelte, bis nichts mehr hinein passte. Dann wartete sie ab.

Sidli stolzierte unter unseren Füßen durch und wartete - wie immer - auf herabfallende Brocken, doch diesmal wurden seine Bitten nicht erhört. Als Strafe durfte er seine Weise ohne Beifall herunter singen. Da sah er uns ziemlich traurig an, schmiedete sich an mich und erhoffte ein Streicheln. Schließlich erbarmte ich mich seiner und fuhr ihm - auch, wie immer - über das Gefieder. Da fing er laut an, seine einzige "Platte" aufzulegen und sie herunter zu spielen. Eine gescheite Unterlage hatte er sich ja schon vorher besorgt...

Im Laufe der darauf folgenden Monaten landeten alle "Kooperative-Hühner" von A bis Y im Topf. War da nicht noch ein Buchstabe? Natürlich! Sidli war doch unser Haustier und das war tabu. Es durfte auch weiter bei uns wohnen und uns besingen. Es begleitete uns sogar auf unseren Dorfmärschen und wurde auch auf lokaler Ebene eine kleine Berühmtheit.

Nach einigen Jahren - in der Zwischenzeit hatte ich mein geliebtes Nest verlassen müssen - erfuhr ich vom Ableben des "etwas anderen Haustieres". Beim Betreten des Hauses teilte mir Lotte die traurige Nachricht mit: "Junge, Sidli ist von uns gegangen." Es war eben nun mal so, denn schließlich hat jeder Anfang auch ein Ende. Das Huhn wurde hinter dem Garteneingang verscharrt. Darüber schrieb ich dann Folgendes - mich auf einen österreichischen Schriftsteller (P. Rosegger)beziehend:

"Schau ich in die tiefste Ferne
meiner Kindheit weit hinab.
Steigt mit Vater und mit Mutter
auch ein Huhn aus seinem Grab."

Möge ihm Gott die ewige Ruhe gewähren, denn das Tier war für uns alle ein echtes Geschenk.


Walter-Georg Kauntz

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