Die überneugierige Zirr

Manchmal begebe ich mich auf den Balkon und bewundere das Umfeld. Ich wohne zwar seit etlichen Jahren in einer Großstadt, doch macht es mich immer wieder heilfroh, dass es ein Randgebiet ist. Unweit erstrecken sich Felder, die denen meines Geburtsortes sehr ähnlich sind. Bei ihrem Anblick schweifen die Gedanken zurück in die Jahre meiner Kindheit und Jugend. Da dreht sich das Lebensrad um viele Jahre zurück in eine Zeit, die für mich die schönste und wertvollste war. Langsam steigen Menschen aus dem Nichts hervor, begrüßen mich und wünschen mir alles Gute. Die meisten von ihnen hören schon seit langem das Gras von unten wachsen und doch sind sie in meinen Erinnerungen noch immer lebendig. Sie haben ihr täglich Brot mit Mühe und Schweiß verdient, hatten aber trotzdem noch viel Lebenskraft und -mut in sich.

Sicher gab es auch eine etwas andere Seite des Dorflebens, die der Dorftratscherinnen. Sie wussten meist mehr über den Einen oder die Andere, als die Betreffenden selber, irgendwie erklärlich, denn ihre höchste Mission war das Übertreiben. Es kam nicht selten vor, dass aus einem Blick ein Kuss, aus diesem ein Beischlaf und daraus wiederum eine Schwangerschaft in die abgeschirmte Welt zu Donnersmarkt gesetzt wurde.

Um überhaupt solche Geschichten aus dem Hut zaubern zu können, musste schließlich ein Anhaltspunkt gefunden werden und dieser kam während einer Tanzveranstaltung in irgendeinem Hof wie gerufen.

Im Sommer versammelten wir uns Sonntag Nachmittag in unserem Hof, die Jungen brachten Getränke und die Mädchen Kuchen mit. Dann wurden Bänke und Tische von der Nachbarschaft geholt, das Mitgebrachte drauf gestellt, sodass sich jeder nach Lust und Laune bedienen konnte. Der Spiakemarz hatte einen Plattenspieler von seiner Tante aus dem Staat der Arbeiter und Bauern - sprich DDR - geschenkt gekriegt, und der musste stets für die "schwingende Unterhaltung" herhalten.

Meist sperrten wir die Hoftür ab, um ungebetene Gäste fernzuhalten. Dabei handelte es sich hauptsächlich um ältere Jugendliche, die ein Auge auf so manch fesche junge Dame aus unserer Klique geworfen hatten und die waren ihrerseits für solche Annäherungsversuche keinesfalls abgeneigt, was bei unser einem nicht nur Neid, sondern auch Eifersüchteleien hervorrief. Wir wollten einfach nicht wahrhaben, dass unsere Mädchen in ihrer Entwicklung fortgeschrittener waren. Die lachten sich bestimmt ins Fäustchen, denn nach Einbruch der Dunkelheit wurde den alten Ruckes (Täuberichs) - wie wir diese "Dorfstiere" nannten - wie durch Zauberhand geöffnet und danach verschwand so manch` hübsche Maid für eine bestimmte Zeit, um danach mit etwas zerzausten Haaren und kaum definierbaren Rock und Bluse - von der nicht selten auch der eine oder andere Knopf fehlte - wieder auf der Tanzfläche zu erscheinen. Wo die wohl gewesen waren...?

Seltsam erschien uns auch, dass am Tag danach fast jeder wusste, was sich auf unseren Hofpartys so alles abgespielt hatte, obwohl wir überzeugt waren, dass es niemand aus unserer Mitte war. Wer dann?

Um das herauszufinden, machten sich Einige von uns auf die Socken und klapperten die Nachbarhöfe und -gärten ab. Schließlich wurde der Schiërmerhans fündig: Die alte Zirr, eine der Spitzentratschtanten hatte sich ein Loch in den Zaun geritzt und beobachtete die Szene so angespannt, dass sie unseren Freund sogar nicht mal dann bemerkte, als dieser sich ihr auf einen Meter näherte, um herauszufinden, um wen es sich handle.

Was sollte nun unternommen werden, um die wortgewaltige Zirr für wenigstens einen Monat aus dem Verkehr zu ziehen. Wir versammelten uns und berieten das weitere Vorgehen. Plötzlich hatte Reini eine hervorragende Idee, die schleunigst umgesetzt wurde: Ich holte einen älteren Mülleimer, ging in den Hinterhof, öffnete die Jauchegrube und füllte den Kübel mit dem "duftenden Element". Dann schlich ich mich zu der von Hans beschriebenen Stelle, erklomm einen zufällig dort angehäuften Steinhügel und schüttete die Brühe auf das überneugierige Schiampes (verlotterte Person).

Genau in diesem Moment - Sami führte hervorragend Regie - wurde die Musik ausgeschaltet, um die Reaktion der "alten Dame" zu vernehmen. Die blieb für einen Moment geschockt lautlos, um danach loszulegen: " Ihr niederträchtige Vagabunden habt mir das teure Sonntagsgewand verschandelt: Dass euch der Gutta (Unbarmherzige) treffen sollte, dass euch der Blitz erschlagen sollte, dass euch Wunden an Füßen und Zunge wachsen sollten, dass euch die Schwänze abfallen sollten, ihr miserables Pack!"

Ihre Schimpftirade ging trotz der gewaltigen Aussprache im Jubel aller Anwesenden unter. "So Zirr, jetzt hast du für die folgenden zehn Wochen genug Gesprächsstoff", rief ihr Titz zu, während Misch hinzufügte: " Endlich hast du ein richtiges Bad nehmen können, du aufgetackelte Henne, deren Schnabel nie aufhört zu gackern. Jetzt komm` mal in unsere Mitte und tanze deinen Frust ab!"

Der Zirr war es aus den nun bekannten Gründen alles andere, als danach. Wie eine Furie stampfte sie in den Boden und verließ das Spionagenest unter wüsten Beschimpfungen. Ihr Repertoire auf diesem Gebiet suchte ohne Zweifel nicht nur in Donnersmarkt, sondern auch in der sogar mittelbaren Umgebung ihresgleichen. Ich bin fest überzeugt, dass sie sich in dieser Branche bei jedem Wettbewerb unter den ersten Drei befunden hätte.

In den folgenden Tagen und Wochen ward die Zirr nichtmehr gesehen. Gleichzeitig verschwanden auch die üblichen Geschichten von den Tanzveranstaltungen. Der Jauche sei Dank...

Walter Georg Kauntz

Weitere Anekdoten, Geschichten, Erzählungen »