Der Bloser Biasch

Als Kind führte mich der Weg oft an die Kokel. Der Fluss war stumm und doch so lebendig! Beim genauen Hinschauen kamen so manche Geheimnisse zutage. So z.B. war es ratsam, nach dem Ankommen ans Ufer etwas Geduld mitzubringen. Ich setzte mich auf eine der eingekerbten Treppen und blieb regungs- und lautlos.
Nach einer bestimmten Zeit, die nur die Natur bestimmen konnte, wurde die zuvor endlose Stille aufgelöst. Plötzlich wurde das Gewässer lebendig. Wie aus dem Nichts fingen Fische an zu springen, Vögel an zu singen und in der Nähe der nicht weit von mir entfernten namenlosen Insel erhaschte eine Vidra (Otter) ein Flossentier. Dann beruhigte sich das Ganze, fing jedoch in "unregelmäßiger Regelmäßigkeit" wieder an sich zu beleben.

Eigentlich wollte ich angeln, vergaß aber immer wieder meine Mission. Viel zu schlau schwammen die Fische an mir vorbei, viel zu beeindruckend hingen die fast Trauerweiden bis in Wasserspiegelnähe und viel zu beeindruckend zeigte sich das Bergpanorama in Richtung Tutner Rech. Es war eine Kombination von Nass, Uferpflanzen, Auen und Berge. Da konnte man doch gut leben, wirtschaften und ...träumen!

Dank meiner "etwas" melancholischen Art wurde ich auch "etwas" mollig". Während Meinesgleichen auf dem Schulhof oder Fußballplatz umhertobte, "verschwendete" ich meine Freizeit damit, Gottes Schöpfung zu bewundern. Natürlich half ich auch meinen Schwestern beim Reinigen von Gemüse, sang mit ihnen Volksweisen und jätete bei Befehl auch die Beete im Garten. Es machte mir tatsächlich Spaß und doch schwanden meine Gedanken stets in die Ferne.
Diese bewegte sich geraume Zeit in einer Entfernung von etwa hundert Metern..., war jedoch so vielfältig, weil ich das Glück genoss, in unmittelbarer Nähe eines Biotops zu wohnen, das an Lebensintensität seinesgleichen suchte. So z.B. brauchte ich nur den Hof zu verlassen und befand mich schon im Reich des Zaunkönigs, des Spechts oder der Nachtigall - von anderen Flattererarten mal ganz abgesehen. Die Einen füllten durch ihr Gezwitscher tagsüber das unvergleichbare Panorama, während die "Nachtsexperten" einfach folgten. Schon meine selige Mutter soll abends oft dem Gesang der "Vogelkönigin" gelauscht haben und daraus neuen Mut Mut geschöpft haben.

Langsam wurde mir auch bewusst, weshalb ich so oft Unkräuter entfernen musste. Es lag einfach am Boden: "Wer eine gute Ernte haben will, der muss auch rechtzeitig ungebetene Gäste fernhalten", war die Losung der Oma und die schien Recht zu behalten. Nur viele Naturkräuter locken Pflanzenfresser an, von denen sich dann Fleischfresser ernähren, usw. Einfach auf einen Nenner gebracht: Die große Vogelvielfalt hatte mittelbar mit der vorzüglichen Bodenfruchtbarkeit zutun. Und, wer war "Schuld" daran? Selbstverständlich die Kokel!

Vater arbeitete zu der Zeit in einem Kombinat. Was darunter zu verstehen war, wusste ich zu der Zeit noch nicht und wollte es auch nicht wissen. Interessant war jedoch, dass er - nachdem er meine Naturverbundenheit entdeckt hatte - mich eines Tages fragte, ob ich nicht vielleicht mehr Vogelarten kennen lernen möchte, als es sie am Kokelufer gäbe. Ich blickte ihn wie vom Mond gefallen an, weil so etwas für mich doch selbstverständlich war. Danach meinte er beiläufig, dass es diese Vielfalt im Bloser Biasch gäbe und ich noch genügend Zeit hätte, sie irgendwann zu bewundern. Selbstverständlich wusste er nicht, was seine Aussage in mir bewirkt hatte...

Schon am darauf folgenden Morgen machte ich mich auf die Socken. Kurz nach Sonnenaufgang holte ich Lidi aus seiner Hütte und verließ den Hof in Richtung Biasch.
Nach dem Überqueren der alten und ziemlich maroden Brücke bogen wir links ab und begaben uns gleich auf einen Schleichweg, der entlang des Flusses bis zum anvisierten Wald führte.
Der Pfad schlängelte sich einem beinlosen Reptil gleich fast parallel zum Fluss, umkurvte jedoch immer wieder Gebüsche oder kleinere Birken und Weiden. Er war so angelegt, dass der Natur entgegengebracht wurde. Sicher könnten böse Zungen behaupten, man sei den Weg des geringsten Widerstandes gegangen - was auch plausibel ist -, doch ist meine These auch in diesem Fall stimmig.
Des Öfteren huschten buntfarbene Echsen über die "Uferpromenade" und verschwanden wieselschnell im Brombeergestrüpp. Eine davon schien besonders drollig - oder auch frech - zu sein: Sie blieb in des Pfades Mitte stehen, glotzte mich an und zeigte mir ihre überlange Zunge. Als ich die Aktion applaudierte, zahlte sie umgehend Fersengeld; vielleicht hatte sie den Beifall falsch verstanden...

Auf einmal vernahm ich direkt über mir eine wunderbare Vogelweise. Es war der Gesang einer Lerche, die am Himmelfirmament wie angebunden daherzwitscherte. Es war eine recht ermunternde und gleichzeitig melancholisch-traurige Melodie. Gleichzeitig zeugte der Vogel von endloser Freiheit, ohne Barrieren, Befehle und Unterdrückung. Wie herrlich musste sich dieses majestätische Geschöpf fühlen!

Nach einiger Zeit wichen die Auenhölzer fast unbemerkt Pflanzen größeren Ausmaßes. Es war wie eine Serenade, in der die einleitenden Klänge auf einer Wolke schwebend in eine innige Liebeserklärung übergehen. Ich war am Ziel angelangt.

Nach dem Passieren des ersten Waldstückes machte ich am Flussufer eine erste Rast. Über dem Wasser, das geduldig dem Gefälle folgte, lösten sich die letzten Nebelschwaden auf. Vielleicht verschwanden mit ihnen auch die Geschöpfe der Nacht, die Menschenaugen scheuen und in einer mystischen Welt beheimatet sind. Nur zu gerne hätte ich sie, wenn auch nur für einen Moment zu Gesicht bekommen, doch gab ich mich mit dem Rat der Puschkegries zufrieden, die uns lehrte, nicht allzu neugierig zu werden, weil das einen früheren Tod mit sich bringen könnte, und zu der Zeit verschwendete meine "Kleinigkeit" noch keinen Gedanken damit, vor dem normalen Ablaufen meiner Lebensuhr die Radieschen von unten wachsen zu sehen...
Am Steilufer fiel auf, dassviele Bäume ihre Wurzeln bis ins Flussbett ausbreiteten, sodass derEindruck eines Mangrovenwaldes aufkam, natürlich ein Trugbild, doch darunter konnten sich bestimmt viele kleinere Fische verstecken, also eine Art Kinderstube für die heranwachsenden Flossentiere.

Nachdem Lidi und ich wieder zu Kräften gekommen waren, machten wir uns auf, den Baumbestand näher zu inspizieren. Er bestand eigentlich aus drei Stockwerken: Unten blühten bunte Blumen, gefolgt von kleineren Hölzern und schließlich waren es die Riesen, die bestimmt über zwanzig Meter in die Luft ragten. Da der Wald nicht sehr dicht war,konnte genügend Licht bisaufseinen Boden gelangen,wodurch die Pflanzendichte zu erklären war.
Im Unterholz stieß ich auf zahlreiche Nester. In ihnen brüteten besorgte Eltern, die sich erst dann vom Nistplatz entfernten, als ich mich schon auf einige Zentimeter genähert hatte. In den meisten Fällen stieß ich auf unterschiedlich gefärbte Eier - von Hellgrün über braun bis Hellblau, aber alle waren mit unterschiedlich vielen Punkten versehen. Liebend gerne hätte ich das Eine oder Andere davon als Andenken mitgenommen,doch war mir bewusst, dass es sich hier nicht um irgendwelche Spielzeuge handelte, sondern um eventuelles Leben. Trotzdem bemächtigte ich mich einiger der Perlen, und zwar dort, wo es schon Küken gab und die schon fast flügge waren, denn hier gab es keine Chancen mehr, dass aus den noch nicht ausgegangenen Eiern sich noch Nachwuchs melden würde.

Während ich noch das eineoder andere Gelege bewunderte, näherte sich mir Lidi ängstlich und fing an leise zu winseln. Wir zogen uns hinter eine dicke Eiche zurück und warteten ab. Tatsächlich vernahm ich kurz darauf ein immer lauter werdendes Rascheln im Gehölz, gefolgt von einer aus meiner Sicht riesigen Bache, der etwa ein halbes Dutzend Frischlinge folgten. Die Rüsseltiere gruben den Boden um - vielleicht,um Eicheln oder Buchecker zu suchen. Zum Glück bewegten sie sich in eine andere Richtung und verschwanden nach einergewissen Zeit,die uns Beiden allerdings wie eine kleine Ewigkeit vorkam.Erst als die unerwünschten Gäste ganz verschwunden waren,trauten wir uns wieder auf die kleine Expedition.

Langsam wurde es heller, denn wir näherten uns einer Lichtung. Zu meinem Erstaunen grasten darin etwa sieben bis acht Rehe friedlich und ungestört. Anscheinend hatten sie uns nicht bemerkt, was vielleicht zu erklären ist, dass Windstille herrschte. Seltsamerweise verhielt sich auch mein tierischer Freund und Begleiter sehr zurüchhaltend. Zwar warf er wiederholt seine Blicke in meine Richtung, um eventuell Befehle zu erhalten, doch als er mein abwartendes Verhalten vernahm, versuchte er das Gleiche an den Tag zu legen.
Ich legte mich hinter einen Baum, um das Ganze richtig zu genießen. Noch nie hatte ich so sanfte Tiere vor Augen gehabt. Die zwei Kitze beschnupperten ab und zu die gleichen Erwachsenen und die tataen Gleiches, also musste davon ausgegangen werden, dass es sich um Mütter und Kinder handeln. Dann verschwanden sie gemeinsam und leichten Schrittes im Waldschatten. Ich stand auf und trat den Heimweg an.
Nach dem Verlassen dieses einmaligen Lebensraumes drehte ich mich nochmal um, schloss die Augen, und ließ alles noch einmal revue passieren. So selig hatte ich schon lange nichtmehr gefühlt!
Ein leiser Wind kam auf. Die Bäume bewegten sich fast sychronisch hin und her so, als wollten sie mir zum Abschied zuwinken, also tat ich es auch. Inzwischen stand die Sonne schon ganz hoch; es hätte Nachmittag sein können. Seltsamerweise spürte ich keinen Hunger. Wahrscheinlich hatte mich der Bloser Biasch, dieser recht kleine, aber sehr abwechslungsreiche Forst mit seiner Schönheit gesättigt!

Nach vielen Jahren fuhr ich mit einer Gruppe Touristen an dieser einst so faszinierenden Stelle vorbei. Schon bereitete ich mich vor, ihnen dieses wunderbare Erlebnis zu schildern, als mir der Atem stockte: Vor uns lag ein flaches Feld, aus dem ab und zu ein undefinierbares Gebüsch hervorragte, ansonsten nur Sand un Unkraut!
Leise fingen meine Augen an feucht zu werden. Winzige Wasserperlen flossen die Wangen herab. Eine größere Enttäuschung hätte mir zu dem Zeitpunkt kaum widerfahren können. Aus dem noch Sekunden zuvor fröhlichen Studenten wurde urplötzlich ein introvertierter Pessimist.
Meine Begleiter merkten, dass sich da ein brutaler Sinneswandel vollzogen hatte und fragten nach dem Grund, den sie dann auch erfuhren. Nun brach plötzlich kaum noch zu bändigende Wut hervor. Ich fing an zu schimpfen und zu verfluchen. Noch nie hatte ich die Kommunisten so laut in die ihnen eigene Hölle geschickt, aber diesmal konnte ich nicht anders. Zum Glück wurde mir tiefes Verständnis entgegengebracht. Die Gäste hatten nun auch die empfindliche Seite des ihnen zugeteilten Reiseleiters kennen gelernt und verhielten sich von dem Zeitpunkt an viel freundlicher. Zum Abschied wurde mir ein Trinkgeld zuteil, wie ich es bis dahin noch nie erhalten hatte. Ohne meinen niedergemetzelten Freund hätte ich es wohl nie in der Höhe erhalten. Vielleicht ein nachträgliches Geschenk vom Bloser Biasch...

Walter Georg Kauntz

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