Das Gespenst

Meine Großmutter hat mir mal eine Furcht erregende Geschichte erzählt: Am oberen Ende des Dorfes, in Richtung Burchhiafel, wohnten die Hornigs. Er kam von auswärts - frag` mich nicht, von wo, denn ich weiß es nicht - und hat sich in unserer Mitte auch nie richtig wohl gefühlt. Ich könnt` auch sagen, er war ein Einzelgänger. Er hatte die Tschiamber Lis geheiratet, eine alte Jungfer und noch recht mollig dazu, die im Dorf niemand haben wollte. Vielleicht war es ja beim Hornig auch so. Ich denke, die Beiden haben deren Eltern verkuppelt. Wie dem auch sei, sie passten irgendwie zueinander, denn auch die Lis war eine seltsame Krähe. Auch sie mied den Kontakt zur Gemeinschaft und nahm auch an den Veranstaltungen, wie z.B. Fosnicht (Fassnacht) nie teil.
Das Haus, das sie geerbt hatten, besaß ein übergroßes Tor, das ständig verriegelt war. Was sich hinter dieser Fassade abspielte, wusste keiner, aber man munkelte, dass es dort nicht immer mit rechten Dingen zuginge, doch genau wusste das niemand.

Irgendwann brachte die Lis ein Kind zur Welt. Man hörte es oft schreien, aber zu Augen bekam es keiner, da es den Hof nie verließ und der war ja wie eine Festung zugemauert. Erst als das Kind schon fast erwachsen war, erschien es mit den paar Schafen, die die Familie besaß, auf der Weide. Als Hirtin machte sich die Maio - so ihr Name - ganz gut. Sie pflückte immer wieder Blumen und besang sie, aber mit den Menschen wollte sie nicht sprechen. Wurde sie angesprochen, so sah sie beschämt zu Boden und zog sich zurück in ihre eigene Welt.

Nach einiger Zeit verschwand das arme Kind ganz von der Bildfläche, und zwar für immer. Einige Male soll Kindergeschrei vernommen worden sein, aber auch das verstummte nach kurzer Zeit und Jahre später verschwand auch die Lis mit dem Hornig - auch für immer.

Böse Zungen haben berichtet, dass in stürmischen Nächten aus dem Haus, das übrigens danach nie mehr bewohnt war, wiederholt dumpfe Klänge zu vernehmen waren. Die alte Fussemaun, die dort in der Nähe wohnte, soll sogar ein Gespenst gesehen haben, das stundenlang durch Hof und Wohnung sauste. Meine Großmutter - aber auch die Anderen - waren überzeugt, dass die Maio vom Kuhhirten schwanger geworden war und ihre Eltern sie samt Kind ins Jenseits befördert hätten. Nun käme sie von Zeit zu Zeit vorbei, da ihre Seele keine Ruhe finden würde. Mehr weiß ich auch nicht.

Erzählt vom Pitroleschihm, aufgezeichnet von W. G. Kauntz

Erzählt vom Pitroleschihm

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