Der Einsiedler

Um diese Geschichte zu erzählen, soll vielleicht der Rahmen erwähnt werden, in dem sich Alles zugetragen hat. Sonst könnte das nun Folgende etwas unglaubwürdig erscheinen.

Zu dem Zeitpunkt waren wir noch Kinder. Vormittags sprangen wir über den Zaun und befanden uns danach schon in der Lehranstalt. Am Nachmittag - nach dem Erledigen der Hausaufgaben - durchstreiften wir die nahe und manchmal auch etwas fernere Umgebung. Platz war genug da, denn die Ortschaft war relativ klein. Auf diese Art lernten wir auch Verschiedenes kennen, das uns ungeheuer war. Vieles konnten wir uns nicht erklären, trauten uns jedoch kaum, die Älteren nach Lösungen zu fragen. Die meisten von ihnen hatten sich damit auch nie beschäftigt und nahmen alles auch so hin. Es war nun mal so und basta!

Eines Tages - wir lümmelten auf der Straße herum, weil es Somerferien gab - kam ein älterer Mann vorbei. Er war von einem Esel begleitet, auf dessen Rücken sich eine Art Säcke befanden, in denen Undefinierbares steckte. Er ging wortlos in Richtung Dorfladen. Dort band er das Lasttier an ein Hindernis an, betrat die Räumlichkeiten und erschien anschließend vollbekackt wieder. Ohne Eile bewegte er sich in Richtung seines tierischen Mitbringsel, füllte dessen Taschen und trat den Rückweg an.

Wir standen wie versteinert da und fragten uns gegenseitig, wer der Fremde nur sein konnte? Rätselhaft war auch seine total entgegengesetzte Richtung des Auftauchens - und demzufolge auch Abganges. Bis dahin wussten wir, dass alles, was sich der Dorfmitte näherte, aus Richtung Blasendorf kam. Und diesmal...
Nachbar Misch - unser damaliger Chef - hatte da so eine Idee: Wie wäre es, wenn wir dem Fremden folgen würden... Helmut und ich hätten da sicher gerne mitgemacht, kannten jedoch in der Richtung kaum etwas; nichtmal die Grenze des kleinen Ortes, geschweige denn das Umland. Da mussten wir uns schon beraten. Nach langem Hin und Her wurde der Entschluss gefasst, der Idee unseres Nachbarn zu folgen.

Nach dem Passieren der Dorfgrenze verengte sich der Weg zusehens. Zwischen der Kokel und dem Berg gab es nur noch ein mehr als schmales Durchkommen. Links zeigte der Fluss seine Erosionskraft, indem er kräftig ans Ufer schlug, rechts bäumte sich eine Lehmfelswand auf, deren Ende eigentlich vorprogrammiert war, denn in diesem Fall gewinnt immer das Wasser.

Der Alte und sein tierischer Freund hegten solche Überlegungen bestimmt nicht. Sie bewegten sich apathisch durch die Schlucht, ohne auch nur aus den Wimpern zu zucken. Die Beiden hatten andere Überlegungen und Ziele.

Nun entfernten sich plötzlich Fluss und Berg. Dazwischen öffnete sich ein breites Tal mit fruchtbaren Feldern und Wiesen. Der Weg schlängelte nicht mehr. Ab und zu tauchten einzelne Bäume auf, gute Schattenspender - dachten wir in der Annahme, dass sich unsere die Richtung Bestimmenden eine kurze Pause gönnen würden.
Doch dem war nicht so: Sie setzten ihren Weg unbeirrt fort, nichtachtend, dass die Morgensonne immer höher stieg und die Temperaturen jedem Wesen zu schaffen machten. Wir jedenfalls hatten Mühe dem Zweipersonentreck zu folgen, der aber nicht!

Bei der Kreuzung mit einem Seitental kam eine riesige Eiche in Sicht. Dort hielten die "Außerirdischen" endlich an. Das Tier wurde entladen und durfte grasen, während sich sein Herr unter den Baum lehnte, aus einem Fach Essen herausholte und anfing zu schmausen. Ab und zu tat er so, als würde er uns beobachten, doch das gab es ja nicht, weil wir ihm immer in einer angemessenen Entfernung gefolgt waren...

Irgendwann holte der Fremde seinen Esel wieder ein, sattelte ihn und setzte den eingeschlagenen Weg fort. Der wurde nun für uns schleierhaft, denn plötzlich ging es bergauf: Man betrat einen Wald, in dem "höllische Ruhe" herrschte. Außer dem Trampeln des Langohres war eigentlich kein Laut zu vernehmen: Keine Tiere, keine Vögel, kein Nichts! Das jagte uns Angst ein. Nun dachten wir ernsthaft nach, ob wir da nicht vielleicht ins Verderben marschieren würden, da uns doch das Ziel unbekannt war. Trotzdem verfolgten wir die Beiden weiter.

Nach einer bestimmten Zeit lichtete sich der Wald und auch der Berg war erklommen. Die Sonne kam wieder zum Vorschein und aus der Ferne machte sich ein Hundegebell hörbar. Es kam immer näher, bis ein riesiger Vierbeiner auftauchte und sich mit großer Geschwindigkeit auf den Fremden zu bewegte.
Bei uns entstand der Eindruck, als würde der "Wolf" den Eselbesitzer in Stücke reißen wollen. Der sprang ihn tatsächlich an, doch der Fremde nahm ihn in seine Arme und streichelte ihn väterlich. Es schien so, als hätten sich Vater und Sohn schon jahrelang nicht mehr gesehen. Da gab es eine innere Bindung, die für einen "Normalen" nicht nachvollziehbar ist: Herrchen begrüßte "Wolf" und Tier leckte Herrchen als Anerkennung ab. Sowas hatte Unsereiner noch nie erlebt! Bei uns im Dorf hatten Hunde zu gehorchen und wurden im Gegenfall mit Fußtritten traktiert. Hier wurde ein "Wolf" mit solch einer Liebe belohnt, die nichtmal wir von unseren Eltern erfahren hatten...

Nun wurden wir dem Gespött des Fremden unterstellt: Mit offiziell ernster Mine, aber mit verstecktem Grinsen kam er auf und zu und sagte auf Rumänisch: "Jungs, ihr seit zu Dritt und verfolgt mich seit dem Verlassen der Ortschaft. Ihr ward tapfer, denn das hat sich noch niemand zugetraut. Aus diesem Grund seit ihr für einige Stunden meine Gäste. Mein Hund Sascha wird euer treuer Begleiter sein. Weil ihr meine Gäste seit, dürft ihr ihn auch streicheln. Außer mir darf es sonst keiner."
Tatsächlich kam der "zum Hund verwandelte Wolf" auf uns zu und sprang uns freudestrahlend an. Was wäre jedoch gewesen, wenn der kein Kommando vom Chef erhalten hätte. Zerreißen hätte er uns können!

Wir waren auf einmal Gäste und wurden zum Domizil des "Außerirdischen" eingeladen. Er hatte eine recht schicke Holzhütte, die viel größer war, als sie von außen her schien. Da gab es ein Untergeschoss mit mehreren Ausgängen, eine Vorratskammer und sogar einen Wasserhahn, das Ende einer Quelle. Wir konnten auch zwei Aussichtstürme sowie einige Fallen des Meisters der Wildnis besichtigen.

Nach dem Spaziergang wurden wir mit einem Wildgrill belohnt. Ein so schmackhaftes Essen wurde uns bis dahin nie zuteil! Der Mann konnte wirklich alles.
Nachdem wir uns die Mägen vollgeschlagen hatten, durften wir auch einen Einblick in seine Vergangenheit genießen: Er stammte aus irgendeinem Dorf aus irgendeiner Gegend und hatte irgendwann ein enormes Zerwürfnis mit den dortigen Lokalbehörden. Daraus drohten ihm böse Konsequenzen, denen er sich mit der Flucht in die Einsamkeit entzog. Im Laufe der Jahre wurde seine Unschuld bewiesen, er aber hatte den Glauben an Gerechtigkeit verloren. Anscheinend hatten es Einige versucht, ihn in die sogenannte Zivilisation zurückzuführen, doch er wollte es nicht mehr. Zu tief saß der Riss zu den "Irdischen".

Im Laufe der Jahre habe ich mich oft allein gefühlt. Wenn dies in Donnersmarkt passierte, ging ich ans Ufer meiner heißgeliebten Kokel, setzte mich ans Ufer, ließ das Wasser vorbeifließen und versuchte, mich wieder zu finden. Nicht selten hatte ich die feste Überzeugung, von der Gesellschaft nicht verstanden zu werden. Dann fiel mir dieser Eremit ein. Ich kannte nichtmal seinen Namen und bewunderte ihn trotzdem: Welch Willenskraft, welch Naturverbundenheit, welch Takt denen gegenüber, die die Falschheit der Menschen noch nicht verstehen! Er hatte von der Gesellschaft die Schnauze voll, nicht aber von den Menschen - damit waren Kinder gemeint, aber die sind ja auch Menschen... Zu uns war er mehr, als nur anständig!

Nach vielen Jahren habe ich während meiner kurzen Aufenthalten in Donnersmarkt verschiedene Personen nach diesem Unbekannten gefragt. Niemand konnte - oder wollte - mir eine Antwort darauf geben. Vielleicht hat sich dieser Mensch auch nie den Erwachsenen meines Geburtsortes geöffnet. Vielleicht waren wir die Einzigen, mit denen er überhaupt richtig geredet hat. Ich weiß es bis heute nicht und vielleicht ist es auch gut so. Was wäre denn, wenn das Leben keine Geheimnisse mehr hätte? Wir wären Alle um Einiges ärmer. Möge mein Unbekannter in der Waldesruhe seinen ewigen Frieden finden. Ich wünsche es ihm aus ganzem Herzen!

Walter Georg Kauntz

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