Ein schönes Gedicht

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Struwwelpeter
schrieb am 14.11.2011, 15:41 Uhr
Erich Mühsam: Erziehung

Der Vater zu dem Sohne spricht:
Zum Herz- und Seelengleichgewicht,
zur inneren Zufriedenheit
und äußeren Behaglichkeit
und zur geregelten Verdauung
bedarf es einer Weltanschauung.

Mein Sohn, du bist nun alt genug.
Das Leben macht den Menschen klug,
die Klugheit macht den Menschen reich,
der Reichtum macht uns Herrschern gleich,
und herrschen juckt uns in den Knöcheln
vom Kindesbein bis zum Verröcheln.

Und sprichst du: Vater, es ist schwer.
Wo nehm ich Geld und Reichtum her?
So merk: Sei deines Nächsten Gast!
Pump von ihm, was du nötig hast.
Sei's selbst sein letzter Kerzenstumpen -
besinn dich nicht, auch den zu pumpen.

Vom Pumpen lebt die ganze Welt.
Glück ist und Ruhm auf Pump gestellt.
Der Reiche pumpt den Armen aus,
vom Armen pumpt auch noch die Laus,
und drängst du dich nicht früh zur Krippe,
das Fell zieht man dir vom Gerippe.

Drum pump, mein Sohn, und pumpe dreist!
Pump anderer Ehr, pump anderer Geist.
Was andere schufen, nenne dein!
Was andere haben, steck dir ein!
Greif zu, greif zu! Gott wird's dir lohnen.
Hoch wirst du ob der Menschheit thronen!
Koi
schrieb am 14.11.2011, 19:54 Uhr (am 14.11.2011, 19:55 Uhr geändert).
.......
Sibyl
schrieb am 27.11.2011, 16:42 Uhr
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Es ist Advent
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Im Tale sind die Blumen nun verblüht
und auf den Bergen liegt der erste Schnee.
Des Sommers Licht und Wärme sind verglüht,
in Eis verwandelt ist der blaue See.

Wie würde mir mein Herz in Einsamkeit
Und in des Winters Kälte angstvoll gehn,
könnt ich in aller tiefen Dunkelheit
nicht doch ein Licht in diesen Tagen sehn.

Es leuchtet fern und sanft aus einem Land,
Das einstens voll von solchen Lichtern war,
Da ging ich fröhlich an der Mutter Hand
Und trug in Zöpfen noch mein braunes Haar.

Verändert hat die Welt sich hundertmal
in Auf und Ab - doch sieh, mein Lichtlein brennt!
Durch aller Jahre Mühen, Freud und Qual
leuchtet es hell und schön: Es ist Advent!
(Hilde Fürstenberg)
Sibyl
schrieb am 05.12.2011, 21:24 Uhr
Heimat

Ein einsam verschneites Haus,
und über ihm die Sterne –
es geht meine Sehnsucht so gerne
noch heute drin ein und aus.
Das Feuer in seinem Herde
war das Licht meiner Kinderzeit,
und die Erde war meine Erde,
von meinen Vätern geweiht.
Nun leb ich in fremden Gauen,
ein heimatloser Vagant,
und werde sie nie wieder schauen:
das Haus, den Herd und das Land.
Durch des Hauses leere Fenster
heult der nordische Wind,
und Schatten und Gespenster
seine Gesellen sind.
Nur meine Gedanken und Träume
im erloschenen Herde glühn,
und schmücken die alten Räume
mit frischem Tannengrün.
Das alles ist ferne, ferne.
Nur meine Sehnsucht geht gerne
noch heute drin ein und aus.
Ein einsam verschneites Haus –
und über ihm die Sterne…

(Manfred Kyber, 1880-1933)

Struwwelpeter
schrieb am 13.12.2011, 15:14 Uhr
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Die Weihnachtsmaus

Die Weihnachtsmaus ist sonderbar
(sogar für die Gelehrten),
Denn einmal nur im ganzen Jahr
entdeckt man ihre Fährten.

Mit Fallen und mit Rattengift
kann man die Maus nicht fangen.
Sie ist, was diesen Punkt betrifft,
noch nie ins Garn gegangen.

Das ganze Jahr macht diese Maus
den Menschen keine Plage.
Doch plötzlich aus dem Loch heraus
kriecht sie am Weihnachtstage.

Zum Beispiel war vom Festgebäck,
das Mutter gut verborgen,
mit einem mal das Beste weg
am ersten Weihnachtsmorgen.

Da sagte jeder rundheraus:
Ich hab´ es nicht genommen!
Es war bestimmt die Weihnachtsmaus,
die über Nacht gekommen.

Ein andres Mal verschwand sogar
das Marzipan von Peter;
Was seltsam und erstaunlich war.
Denn niemand fand es später.

Der Christian rief rundheraus:
ich hab es nicht genommen!
Es war bestimmt die Weihnachtsmaus,
die über Nacht gekommen!

Ein drittes Mal verschwand vom Baum,
an dem die Kugeln hingen,
ein Weihnachtsmann aus Eierschaum
nebst andren leck`ren Dingen.

Die Nelly sagte rundheraus:
Ich habe nichts genommen!
Es war bestimmt die Weihnachtsmaus,
die über Nacht gekommen!

Und Ernst und Hans und der Papa,
die riefen: welche Plage!
Die böse Maus ist wieder da
und just am Feiertage!

Nur Mutter sprach kein Klagewort.
Sie sagte unumwunden:
Sind erst die Süßigkeiten fort,
ist auch die Maus verschwunden!

Und wirklich wahr: Die Maus blieb weg,
sobald der Baum geleert war,
sobald das letzte Festgebäck
gegessen und verzehrt war.

Sagt jemand nun, bei ihm zu Haus,
- bei Fränzchen oder Lieschen -
da gäb es keine Weihnachtsmaus,
dann zweifle ich ein bißchen!

Doch sag ich nichts, was jemand kränkt!
Das könnte euch so passen!
Was man von Weihnachtsmäusen denkt,
bleibt jedem überlassen.
(James Krüss)


Struwwelpeter
schrieb am 15.12.2011, 15:43 Uhr
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Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag

Zweitausend Jahre sind es fast,
seit du die Welt verlassen hast,
du Opferlamm des Lebens!
Du gabst den Armen ihren Gott.
Du littest durch der Reichen Spott.
Du tatest es vergebens!

Du sahst Gewalt und Polizei.
Du wolltest alle Menschen frei
und Frieden auf der Erde.
Du wusstest, wie das Elend tut,
und wolltest alle Menschen gut,
damit es schöner werde!

Du warst ein Revolutionär
und machtest dir das Leben schwer
mit Schiebern und Gelehrten.
Du hast die Freiheit stets beschützt
und doch den Menschen nichts genützt.
Du kamst an die Verkehrten!

Du kämpftest tapfer gegen sie
und gegen Staat und Industrie
und die gesamte Meute.
Bis man dir, weil nichts verfing,
Justizmord, kurzerhand, beging.
Es war genau wie heute.

Die Menschen wurden nicht gescheit.
Am wenigsten die Christenheit,
trotz allem Händefalten.
Du hattest sie vergeblich lieb.
Du starbst umsonst. Und alles blieb
beim Alten.

(Erich Kästner)
Struwwelpeter
schrieb am 18.12.2011, 10:59 Uhr
Wann fängt Weihnachten an?

Wenn der Schwache dem Starken die Schwäche vergibt,
wenn der Starke die Kräfte des Schwachen liebt,
wenn der Habewas mit dem Habenichts teilt,
wenn der Laute mal bei dem Stummen verweilt,
und begreift, was der Stumme ihm sagen will,
wenn der Leise laut und der Laute still,
wenn das Bedeutungsvolle bedeutungslos,
das scheinbar Unwichtige wichtig und groß,
wenn mitten im Dunkel ein winziges Licht
Geborgenheit, helles Leben verspricht,
und du zögerst nicht, sondern du gehst,
so wie du bist, darauf zu,
dann, ja dann
fängt Weihnachten an.
(Rolf Krenzer)
Struwwelpeter
schrieb am 19.12.2011, 15:59 Uhr
Brief an den Weihnachtsmann

Lieber, guter Weihnachtsmann,
weißt du nicht, wie's um uns steht?
Schau dir mal den Globus an.
Da hat einer dran gedreht.

Alle stehn herum und klagen.
Alle blicken traurig drein.
Wer es war, ist schwer zu sagen,
keiner will's gewesen sein.

Uns ist gar nicht wohl zumute.
Kommen sollst du, aber bloß
mit dem Stock und mit der Rute.
(Und nimm beide ziemlich groß.)

Breite deine goldnen Flügel
aus, und komm zu uns herab.
Dann verteile deine Prügel.
Aber bitte nicht zu knapp.

Lege die Industriellen
kurz entschlossen übers Knie.
Und wenn sie sich harmlos stellen,
glaube mir, so lügen sie.

Ziehe denen, die regieren,
bitte schön, die Hosen stramm.
Wenn sie heulen und sich zieren,
zeige ihnen ihr Programm.

Komm, und zeige Dich erbötig,
und verhau sie, dass es raucht!
Denn sie haben's bitter nötig.
Und sie hätten's längs gebraucht.

Komm erlös uns von der Plage,
Komm, weil kein Mensch das gar nicht kann,
Ach das wären Feiertage,
lieber, guter Weihnachtsmann!

(Erich Kästner, Die Weltbühne, 1930,
hat nichts an Aktualität verloren)



Sibyl
schrieb am 27.12.2011, 22:21 Uhr
Ein Jahr ist zu Ende

Ein Jahr ist zu Ende.
Nun gebt euch die Hände
und sagt: Alles Gute, Gesundheit und Glück!
Beschließt in Gedanken,
euch nicht mehr zu zanken,
und denkt an die Sünden vom Vorjahr zurück!
Bleibt nett und verträglich,
und drückt euch nicht täglich
vorm Waschen und Lernen auf listige Art!
Tut's auch nicht verdrießlich!
Es bleibt euch ja schließlich,
ob schneller, ob langsamer, doch nicht erspart!
Ein Jahr will beginnen.
Im Glockenturm drinnen
erschrecken die Tauben vom Bimm und vom Bumm.
Seid nicht wie die Tauben!
Ihr müsst an euch glauben.
Stapft fröhlich ins Neujahr und dreht euch nicht um !
(James Krüss)
Struwwelpeter
schrieb am 05.01.2012, 10:07 Uhr

Die gute alte Zeit

"Das war die gute, alte Zeit!
Sie war so schön und liegt so weit
in blauem Duft begraben.
Und von dem heutigen Geschlecht,
da weiß keiner wohl so recht,
was wir verloren haben.

Die Männer waren besser doch,
und wirtschaftlich die Frauen noch,
nicht wie die heut`gen Puppen.
Die laufen zu Musik und Tanz,
und putzen sich mit Flitterglanz
und kochen schlechte Suppen.

Die Kinder waren nicht so keck
und nicht so altklug wie ein Geck,
und trugen keine Brillen.
Auf ihre Eltern hörten sie
und alte Leute ehrten sie
und hatten keinen Willen.

Und Ordnung herrschte weit und breit
und Biederkeit und Ehrlichkeit.
Man kannte keinen Schwindel.
Doch heut wo Alles fälscht und trügt,
da glaubt man keinem, denn es lügt
das Kind schon in der Windel."

So sprechen sie, die Alten zwei
und nicken mit dem Kopf dabei
und wackeln mit den Hauben.
Die Welt blieb jung, sie wurden alt,
und an die Zeit, die neue halt,
da können sie nicht glauben.

Die heut im Jugendglanze stehn
im Rosenschmuck zu Tanze gehn,
auch sie einst werden sagen:
"Sie war so schön, sie liegt so weit,
die liebe, gute alte Zeit,
aus unsern Jugendtagen.“

(Heinrich Seidel, 1842-1906)
Sibyl
schrieb am 11.01.2012, 17:17 Uhr
Carpe diem! Pflücke den Tag!

Carpe diem! Pflücke den Tag!
Rät der Römer Horaz.
Pflück den Tag wie die Rose im Hag,
Nütze den köstlichen Schatz!
Schäumen die Becher beim Festgelag,
Schäumt die Begeisterung --
Carpe diem! Pflücke den Tag!
Sei mit den andern jung!

Klopft das Glück an das Pförtlein,
Sag eilig zum Gaste: "Herein!"
Carpe diem! Pflücke den Tag!
Hüte das Glück, wenn es dein!
Aber pochen mit dröhnendem Schlag
Sorge und Unheil an --
Carpe diem! Pflücke den Tag!
Lerne ihn mannhaft bestahn!
(Ottokar Kernstock, 1848-1928)

Sibyl
schrieb am 23.01.2012, 13:02 Uhr
Alter Glückszettel

Zwischen Hetzen und Hasten,
In Lärmen und Lasten,
Von Zeit zu Zeit
Mag gerne ich rasten
In Nachdenklichkeit.

Fliege, fliege, mein Denken, zurück,
Suche, suche: in heimlichen Ecken
Dämmerbrauner Vergangenheit
Mag wohl von verklungenem Glück
Blinkend ein Blättchen stecken.

Und ich suche in meinem Andenkenkasten.
Zwischen Bändern und Briefen,
Die lange schliefen,
Aus trockenen Blumen und blassen Schleifen
Will ich mir was Liebes greifen.

Da fand einen Zettel ich, bleistiftbeschrieben,
Der hat mir die Wärme ins Herz getrieben.
Was stand denn da?
Von meiner Hand:
I mag Di gern leid'n; Du: Magst Du mi aa?,
In schmächtigen Zügen darunter stand:
Ja.

In Lärm und Last,
In zager Zeit
War mir ein Gast
Aus Glückseligkeit
Dies kleine Ja der Vergangenheit.
(Otto Julius Bierbaum)

Sibyl
schrieb am 23.01.2012, 14:01 Uhr
Schmetterlinge

Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein, ungestört
von Furcht, die Nacht entdecken.

Der wird zur Pflanze, wenn er will,
zum Tier, zum Narr, zum Weisen.
Der kann in einer Stunde nur,
durchs ganze Weltall reisen.

Der weiß, dass er nichts weiß,
wie alle andern auch nichts wissen.
Doch weiß er, was die anderen
und er selbst noch lernen müssen.

Wer in sich fremde Ufer spürt
und Mut hat, sich zu recken,
der wird im Mondschein, ungestört
von Furcht, sich selbst entdecken.

Abwärts zu den Gipfeln
seiner selbst bricht er hinauf.
Den Kampf mit seiner Unterwelt
nimmt er gelassen auf.

Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein, ungestört
von Furcht die Nacht entdecken.

Wer mit sich selbst in Frieden lebt,
der wird genauso sterben
und ist dann selbst lebendiger
als alle seine Erben.
(Novalis)
Sibyl
schrieb am 06.02.2012, 20:18 Uhr
Abendlied

Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein,
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finst're Truh.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.

Doch noch wand'l ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!
(Gottfried Keller)
Sibyl
schrieb am 13.02.2012, 13:11 Uhr
Vereinsamt

Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein -
Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!

Nun stehst du starr,
schaust rückwärts. Ach, wie lange schon!
Was bist du Narr
vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt - ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr
dein Lied im Wüstenvogel-Ton!
Versteck, du Narr,
dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schein -
Weh dem, der keine Heimat hat!
(Friedrich Nietzsche, 1844-1900)

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