Ein schönes Gedicht

Um Beiträge zu verfassen, müssen Sie sich kostenlos registrieren bzw. einloggen.

Sibyl
schrieb am 30.04.2012, 22:33 Uhr
Bäume

Könige seid ihr,
denn die Erde liebt euch am meisten,
darum hält sie euch
innig fest.
Nährt aus unversiegbarer Fülle
die heiligen Wurzeln.
Aber auch der Himmel liebt euch
im ewigen Kusse,
und der Wind
spielt mit euren Kronen,
oder beugt den schlanken Leib
in mächtiger Umarmung.
Nach des Regens
gütigem Segen
glänzen die Blätter
in schönerem Grün.

Dankbar ist der Fremdling,
der wegmüd
in des Baumes Schatten sinkt,
sein Haupt
an den braunen Stamm lehnt,
wie an eine große Geliebte.
Besänftigendes
steigt in seine Seele.
Nach des Tages Wanderung
schließen sich schwer
die rosigen Lider,
neigt sich
ein Wunderbares
in seinen Traum.
Über dem einsamen Schläfer
tönt das ewige Rauschen ...
(Francisca Stoecklin, 1894-1931)
Struwwelpeter
schrieb am 01.05.2012, 10:35 Uhr
Mailied

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch,

Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne!
O Glück, o Lust!

O Lieb', o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn!

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb' ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft.

Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud' und Mut

Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!

(J. W. von Goethe)
Sibyl
schrieb am 07.05.2012, 17:19 Uhr
Hab Sonne im Herzen

Hab Sonne im Herzen,
ob's stürmt oder schneit,
ob der Himmel voll Wolken,
die Erde voll Streit!
Hab Sonne im Herzen,
dann komme, was mag!
Das leuchtet voll Licht dir
den dunkelsten Tag!

Hab ein Lied auf den Lippen,
mit fröhlichem Klang
und macht auch des Alltags
Gedränge dich bang!
Hab ein Lied auf den Lippen,
dann komme, was mag!
Das hilft dir verwinden
den einsamsten Tag!

Hab ein Wort auch für andre
in Sorg und in Pein
und sag, was dich selber
so frohgemut lässt sein:
Hab ein Lied auf den Lippen,
verlier nie den Mut,
hab Sonne im Herzen,
und alles wird gut!
(Cäsar Flaischlen)

Struwwelpeter
schrieb am 08.05.2012, 11:38 Uhr
Ein anders

Geh! Gehorche meinen Winken
nutze deine jungen Tage,
lerne zeitig klüger sein.
Auf des Glückes großer Waage
steht die Zunge selten ein;
du musst steigen oder sinken,
du musst herrschen und gewinnen,
oder dienen und verlieren,
leiden oder triumphieren,
Amboss oder Hammer sein.
(J.W. Goethe)
Struwwelpeter
schrieb am 08.05.2012, 11:41 Uhr
Weltlauf

Hat man viel, so wird man bald
noch viel mehr dazubekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
auch das Wenige genommen.

Wenn du aber gar nichts hast,
ach, so lasse dich begraben -
denn ein Recht zum Leben, Lump,
haben nur die etwas haben.
(Heinrich Heine)
Sibyl
schrieb am 09.05.2012, 08:23 Uhr
Erste Lerche

Zwischen
Gräben und grauen Hecken,
den Rockkragen hoch,
beide Hände in den Taschen,
schlendere ich
durch den frühen
Märzmorgen.

Falbes Gras,
blinkende Lachen und schwarzes Brachland,
so weit ich sehen kann.

Dazwischen,
mitten in den weißen Horizont hinein,
wie erstarrt,
eine Weidenreihe.

Ich bleibe stehen.

Nirgends ein Laut. Noch nirgends Leben.
Nur die Luft und die Landschaft.

Und sonnenlos
wie den Himmel
fühle ich
mein Herz.

Plötzlich - ein Klang!

Ein zager, zarter zitternder Jubel,
der,
langsam,
immer höher
steigt!

Ich suche in den Wolken.

Über mir,
wirbelnd, schwindend, flatterdrehig, flügelselig,
kaum entdeckbar,
pünktchenschwarz,
schmetternd,
durch
immer heller strömendes Licht,
die
erste Lerche!

(Arno Holz, 1863-1929)
Wanderer
schrieb am 10.05.2012, 00:07 Uhr

Wandrers Nachtlied


Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Johann Wolfgang von Goethe
Struwwelpeter
schrieb am 12.05.2012, 16:36 Uhr
Fahren Sie mit der Maus über die Box um die Vorschau anzuzeigen.
Von Benutzern verlinktes Bild - Link zum Bild


An meine Mutter

So gern hätt' ich ein schönes Lied gemacht
Von Deiner Liebe, deiner treuen Weise;
Die Gabe, die für andre immer wacht,
Hätt' ich so gern geweckt zu deinem Preise.

Doch wie ich auch gesonnen mehr und mehr,
Und wie ich auch die Reime mochte stellen,
Des Herzens Fluten wallten darüber her,
Zerstörten mir des Liedes zarte Wellen.

So nimm die einfach schlichte Gabe hin,
Von einfach ungeschmücktem Wort getragen,
Und meine ganze Seele nimm darin:
Wo man am meisten fühlt,
weiß man nicht viel zu sagen.
(Annette von Droste-Hülshoff)


Struwwelpeter
schrieb am 20.05.2012, 16:33 Uhr (am 20.05.2012, 16:51 Uhr geändert).
Struwwelpeter
schrieb am 20.05.2012, 16:36 Uhr
Aus der Ferne

Wie schön, wenn aus vergang'nen Zeiten
ein Jugendhauch den Geist bewegt,
und leis' an längst verklung'ne Saiten
des viel bewegten Herzens schlägt!

Ist es ein Traum aus frühen Tagen?
Ist es der Kindheit Sonnenblick?
Ich fühl' es tief und kann's nicht sagen,
ich fühle erster Tage Glück.

Was mir dazwischen hingeflossen,
vergessen ist es wie das Heut;
was mich umgibt, wird übergossen
vom Zauber der Vergangenheit.

Wolfgang Maximilian v. Goethe
(Enkel Johann Wolfgang v. Goethes)

Sibyl
schrieb am 21.05.2012, 19:31 Uhr
Vorsicht, Satire!

Wir ändern morgen, ändern heut,
wir ändern wütend und erfreut.
Wir ändern, ohne zu verzagen
an allen sieben Wochentagen.
Wir ändern teils aus purer Lust,
mit Vorsatz teils, teils unbewusst.
Wir ändern gut und auch bedingt,
weil ändern immer Arbeit bringt.
Wir ändern resigniert und still,
wie jeder es so haben will.
Die Alten ändern und die Jungen,
wir ändern selbst die Änderungen.
Wir ändern, was man ändern kann
und stehen dabei unsern Mann.
Und ist der Plan auch gut gelungen,
bestimmt verträgt er Änderungen.
Wir ändern deshalb früh und spät
alles was zu ändern geht.
Wir ändern heut und jederzeit,
zum Denken bleibt uns wenig Zeit.
(Autor unbekannt)
Sibyl
schrieb am 31.05.2012, 08:06 Uhr

Die Hoffnung

Es reden und träumen die Menschen viel
Von besseren künftigen Tagen,
Nach einem glücklichen gold'nen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen,
Die Welt wird alt und wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.

Die Hoffnung führt ihn in's Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling bezaubert ihr Geisterschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben;
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf.

Es ist kein leerer schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Toren,
Im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besserem sind wir geboren!
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.
(Friedrich Schiller)

Struwwelpeter
schrieb am 03.06.2012, 10:04 Uhr
Der Juni

Die Zeit geht mit der Zeit: Sie fliegt.
Kaum schrieb man sechs Gedichte,
ist schon ein halbes Jahr herum
und fühlt sich als Geschichte.

Die Kirschen werden reif und rot,
die süßen wie die sauern.
Auf zartes Laub fällt Staub, fällt Staub,
so sehr wir es bedauern.

Aus Gras wird Heu. Aus Obst Kompott.
Aus Herrlichkeit wird Nahrung.
Aus manchem, was das Herz erfuhr,
wird, bestenfalls, Erfahrung.

Es wird und war. Es war und wird.
Aus Kälbern werden Rinder
und, weil's zur Jahreszeit gehört,
aus Küssen kleine Kinder.

Die Vögel füttern ihre Brut
und singen nur noch selten.
So ist's bestellt in unsrer Welt,
der besten aller Welten.

Spät tritt der Abend in den Park,
mit Sternen auf der Weste.
Glühwürmchen ziehn mit Lampions
zu einem Gartenfeste.

Dort wird getrunken und gelacht.
In vorgerückter Stunde
tanzt dann der Abend mit der Nacht
die kurze Ehrenrunde.

Am letzten Tische streiten sich
ein Heide und ein Frommer,
ob's Wunder oder keine gibt.
Und nächstens wird es Sommer.
(Erich Kästner)
Sibyl
schrieb am 07.06.2012, 15:10 Uhr
Wenn im Sommer

Wenn im Sommer der rote Mohn
wieder glüht im gelben Korn,
wenn des Finken süsser Ton
wieder lockt im Hagedorn,
wenn es wieder weit und breit
feierklar und fruchtstill ist,
dann erfüllt sich uns die Zeit,
die mit vollen Massen misst.

Dann verebbt, was uns bedroht,
dann verweht, was uns bedrückt,
über dem Schlangenkopf der Not
ist das Sonnenschwert gezückt.
Glaube nur, es wird geschehn!
Wende nicht den Blick zurück!
Wenn die Sommerwinde wehn,
werden wir in Rosen gehn,
und die Sonne lacht uns Glück!
(Otto Bierbaum)
Sibyl
schrieb am 11.06.2012, 09:02 Uhr
Die Schwalben

Hold Erinnern schwebt mir vor,
Wie um Fensterbogen
An dem alten Kirchenchor
Tausend Schwalben flogen.

Schwalben rings ohn Unterlass
In den Lüften wiegend,
Wo ich schöne Märchen las.
Zwischen Gräbern liegend.

Jene grüne Einsamkeit
Ist schon lang versunken,
Wo ich in der Kinderzeit
Poesie getrunken.

Doch wenn heut die Schwalben schrein,
Die im Licht sich schwenken,
Meiner Kindheit Morgenschein
Muss ich still gedenken.

Denn die Sehnsucht dauert fort
Nach der Jugend Räumen,
Und noch immer wandl' ich dort
Nachts in meinen Träumen.
(Heinrich Seidel,1842-1906)

Um Beiträge zu verfassen, müssen Sie sich kostenlos registrieren bzw. einloggen.