Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Kurt Binder
schrieb am 12.11.2023, 09:44 Uhr
Ein Tierchen fürs Pläsierchen

In der Tiefe meiner umfangreichen Verwandtschaft gab es vor vielen Jahren auch eine Tante Frieda. Sie hatte, wie der Name besagt, eine friedliebende Natur, und es gab kaum etwas, was sie aus der Ruhe bringen konnte. Geschickt wich sie jedem Streit aus, und Aggressionswellen, die gelegentlich aus der bösen, bösen Welt auf sie zurollten, ließ sie mit einem entwaffnenden Lächeln einfach an ihrer Papageiennase zerschellen.
Tante Frieda lebte allein. Um auch etwas Gesellschaft zu haben, beschloss sie eines Tages, sich ein niedliches Haustierchen zu kaufen. Sie ging also in die Kleintierhandlung Meise & Sohn.
„Guten Tag“, sagte Tante Frieda zu dem Jungen im Laden, „ich möchte ein niedliches Haustierchen kaufen.“ Der Meisensohn deutete auf einen kleinen Käfig.
„Wie wärs mit weißen Mäusen? Die sind recht niedlich.“
„O nein“, wehrte Tante Frieda ab. „Mäuse stinken zu sehr.“
„Eine siamesische Katze vielleicht?“
„Eine Katze im Haus?“ Tante Frieda war entsetzt. „Aber die zerkratzt mir ja alle Polstersessel.“
„Oder dieser Zwergpinscher? Treu und absolut stubenrein.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, nein - Hunde kläffen zu viel, man muss mit ihnen Gassi gehen, und Steuer muss man auch noch zahlen. Aber was ist dies da?“
„Das ist ein echter Chihuahua, ein mexikanischer Hund!“, sagte der Junge, und nach einem abschätzenden Blick auf Tante Friedas konservatives Outfit: „Allerdings ist er etwas teuer!“ Sie lachte laut auf.
„Ein Hund soll das sein? Ich dachte schon, es sei eine Ohrenfledermaus auf Stelzen!“ Meisensohn guckte beleidigt drein.
„Sie müssen ja wissen, was Sie wollen“, sagte er ungehalten. „Haben Sie einen Vogel?“
„Was fällt dir ein, diese ehrenhafte Dame zu beleidigen?“, fuhr Herr Meise, der eben eingetreten war, seinen Filius an.
„Aber - ich habe doch nur gefragt, ob sie schon einen ...“
„Schnauze!“ Servil lächelnd wandte er sich an Tante Frieda.
„Sagen Sie nichts, denn ich weiß bereits, was Sie suchen: Ein niedliches Haustierchen, stimmts?“ Tante Frieda nickte strahlend. Endlich jemand, der den Kunden, und auch sein Fach verstand.
„Ja, es sollte ein liebes, kuscheliges, pflegeleichtes und anhängliches Wesen sein, zu dem ich sprechen kann und das mich auch versteht“, erklärte sie Meise leutselig.
„Aaha!“ Herr Meise warf einen kurzen Blick auf ihre Nase. „Da hab ich zufällig genau das Richtige für Sie.“ Er ging zu einem runden, hängenden Käfig von der Größe eines Waschkorbes.
„Das hier“, erklärte er mit feierlicher Stimme, „ist ein echter Rothauben-Kakadu, ein Cacatua moluccensis – erst vor kurzem von den Molukken eingewandert!“
„Ein - Kakadu?“, rief Tante Frieda erstaunt. „Ja, aber, was tut er so? Kann der auch sprechen?“
„Schnauze!“, rief der Kakadu.
„Da sehen Sie’s - er lernt sehr schnell! Und außerdem hat er einen Stammbaum.“, erklärte Meise weiter.
„Ist denn das die Möglichkeit?“ Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. „Ein Kakadu mit Stammbaum?“
„Natürlich!“, bekräftigte Meise. „Hier steht es schwarz auf weiß: Alle seine Vorfahren waren Kakadus. Na, was sagen Sie nun dazu?“ Ein anderer Kunde, der sich schon längere Zeit im Laden umgesehen hatte, trat zu Herrn Meise und fragte diesen:
„Entschuldigen Sie, könnten Sie mir bitte sagen, wo ich ...“
„Mein Herr“, unterbrach ihn der Chef ungehalten, „Sie sehen doch, dass ich gerade damit beschäftigt bin, dieser Dame einen Kakadu anzudrehen. Gedulden Sie sich bitte noch ein Weilchen!“
„Ich dachte bloß, bis diese Frau sich entschließt, könnten Sie mir eventuell sagen, ob ich bei Ihnen einen ...“
„Schnauze!“
„Was erlauben Sie sich?“, rief der Kunde empört.
„Verzeihung, aber das war der Kakadu!“, sagte Herr Meise verlegen. „Geben Sie nicht auf - Sie werden gleich bedient!“
„Es ist ja auch höchste Zeit“, ereiferte sich der Kunde, „denn ich war nämlich vor dieser - dieser Dame hier!“
„Da haben Sie Recht, doch wollten Sie sich ja noch im Laden umsehen, ob Sie ...“
„Schnauze!“, rief der aufgebrachte Kunde.
„Sie ... Sie ... okay, also - was darf es sein?“, fragte Meise mühsam beherrscht, weil er über dem Kopf des gereizten Kunden schemenhaft die goldene Krone schimmern sah.
„Drei Pfund Piranhas, aber bitte frisch!“
„Mich haben Sie wohl vergessen, wie?“, erinnerte ihn Tante Frieda.
„Schnauze!“ Sie lief vor Entrüstung rot an.
„Wie reden Sie mit mir, junger Mann? Von guten Manieren haben Sie wohl noch nie gehört?“
„Aber, ich habe doch gar nichts gesagt!“, verteidigte sich der Kunde. Der Kakadu grinste schadenfroh.
„Könnte ich Ihnen unterdessen vielleicht behilflich sein?“, fragte der Meisensohn Tante Frieda. „Mein Vater hat diesen Kunden gleich bedient.“
„Ja, pack der Dame schon mal den Kakadu ein!“, rief Meise vom Aquarium herüber. „Futter für eine Woche ist kostenlos. Der Käfig wird extra berechnet.“
„Bekomme ich nun meine Piranhas oder nicht?“, regte sich der Kunde erneut auf. „Und was ist das für ein Saftladen, in dem man stundenlang warten muss? Hier ist der Kunde nicht König, sondern ein Arschloch!“
„Das stimmt, mein Herr!“, schrie Papa Meise, dem die Geduld endgültig ausgegangen war. „Und Sie sind der beste Beweis dafür - auuaah!!“
„Schnau - zee!!“, brüllte Tante Frieda, und schlug sich gleich darauf erschrocken die Hand auf den Mund. Alle erstarrten. Sogar der Piranha, der Meise soeben den Zeigefinger abgebissen hatte, rülpste geschockt.
„Ist ja irre“, krächzte der Kakadu bewundernd, „sie lernt wirklich sehr schnell.“
Trotz all dieser denkwürdigen Zwischenfälle wurde Tante Frieda letztendlich doch noch kompetent beraten, und verließ den Saftladen glücklich - mit einem frisch geklonten Tyrannosaurus Rex an der Leine.

In dieser Geschichte habe ich an einer einzigen Stelle nicht die Wahrheit gesagt! Um nicht mit einer Lüge behaftet in die Annalen unsres Forums einzugehen, gestehe ich:
Ich hatte überhaupt nie eine Tante Frieda!

Kurt Binder
schrieb am 24.11.2023, 08:59 Uhr
Der Turm macht die Musik 1/3

Tante Isolde war die jüngste Schwester meines Vaters. Sie war Witwe und lebte seit vielen Jahren allein in ihrer Zweizimmerwohnung. Sie liebte alle Menschen, die Tiere, die Blumen, vor allem aber die Musik. Dabei war es ihr völlig egal, welche Art von Musik gerade aus dem Lautsprecher ihres alten Telefunken-Radios klang. Wenn mindestens drei Töne hintereinander folgten, vielleicht sogar vier, war sie schon zufrieden. So fiel es ihr auch nicht sonderlich schwer, die modernen, vom Schlagzeug dominierten Hau-Drauf-Schöpfungen sofort in ihr großes Herz zu schließen.
Doch eines schönen Tages, mitten in einem flotten Walzer von Strauß machte das Gerät plötzlich „krr krrrr“, dann „poack poack kschsch“ - und dann machte es gar nichts mehr, denn das Radio war kaputt. Tante Isolde war sehr überrascht, denn das Gerät war erst 35 Jahre alt. So machte sie sich kurz entschlossen auf den Weg zu dem nächsten Musikladen, um ein neues Radio zu kaufen.
„Grüß Gott.“, sagte sie und guckte sich suchend um. Sofort war ein blasser Jüngling zur Stelle. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er Tante Isolde sehr beflissen. Sie lächelte ihn an. „Oh ja, ich denke schon.“
„Und was darf es heute sein?“ Der Junge war ganz Verkäufer.
„Ich möchte gerne ein Radio kaufen!“, erklärte ihm Tante Isolde. Er sah sie verdutzt an.
„Ein - was bitte?“
„Ein Radio!“, wiederholte sie etwas lauter. „Aber nur, wenn Sie zufällig eins hier haben.“
„Sind Sie auch ganz sicher, dass Sie sich nicht im Haus geirrt haben?“, fragte der Junge sichtlich verwirrt. Sie schüttelte den Kopf.
„Wissen Sie“, erläuterte sie, „mein altes Radio ist seit gestern kaputt, und dabei war es erst 35 Jahre alt. Dies ist doch ein Musikgeschäft, oder?“
„Das Haus ‚Musik für alle’ ist der größte und bestausgestattete Fachladen im Umkreis von 50 km!“, erklärte der Jüngling stolz und reckte sich. Das Bewusstsein um die Wichtigkeit seines Hauses ließ ihn spontan um Kopfhöhe wachsen; und er fuhr fort:
„Wir führen nur hochentwickelte elektronische Geräte bester Qualität und in modernem Styling, und ich glaube nicht, dass wir ... “ Ein andrer junger Mann trat ein.
„Nun lass mich mal sehen.“, sagte er leise zu dem Lehrling. „Was will sie denn?“
„Vorsicht!“, flüsterte der warnend zurück. „Sie will ein - Radio kaufen!“ Der andere junge Mann sah verblüfft drein. Dann wandte er sich Tante Isolde zu und fragte höflich:
„Darf ich erfahren, was die gnädige Frau wünschen?“
„Ein Radio, junger Mann, ein hübsches, kleines Radio, das auch schöne Musik machen kann!“
„Da sind die gnädige Frau bei uns goldrichtig!“, versicherte er. „Also, dann wollen wir mal sehen, was wir Passendes für Sie finden.“ Er holte einen kleinen, schwarzen Kasten aus dem Regal hinter sich hervor und stellte ihn auf den Tisch.
„Soo - hier hätten wir also die neueste Ausführung eines Portable-Audio-Reise-Weltempfängers mit vier Lautsprechern im Zweiwegesystem!“ Tante Isolde nickte und schaute sehr informiert drein.

Teil 2 folgt morgen
Kurt Binder
schrieb am 25.11.2023, 06:44 Uhr
Der Turm macht die Musik 2/3

„Mit diesem Gerät im coolen Eloxal-Design können Sie joggen oder einkaufen gehen“, erläuterte der Verkäufer, „und immer schöne Musik hören. Darf ich es ihn einpacken?“ Tante Isolde schüttelte den Kopf.
„Eigentlich will ich ja mit einem Radio nicht spazieren gehen. Hätten Sie eins fürs Haus, so zum Draufstellen auf die Kommode?“
„Aber natürlich haben wir das!“ Der zweite Verkäufer war der Service selbst. „Wir haben nichts, was wir nicht doch hätten! Sehen Sie zum Beispiel hier diesen Home-Super mit Soft-Music-Weck-Funktion und Old Sleep-Timer für die Zeiteinstellung. Soll ich ihn gleich schön einpacken?“
„Ich weiß nicht so recht“, meinte Tante Isolde zögernd, „eine Uhr hab ich schon, und wenn ich schlafe, will ich nicht aufgeweckt werden.“
„Natürlich nicht!“, pflichtete ihr der Verkäufer lachend bei. „Wer will das schon, ha ha ha! Tja, dann suchen wir eben weiter.“ Er hievte ein graues Schränkchen mittlerer Größe auf den Ladentisch.
„Auf in die Mini-Kompakt-Klasse. Was Sie hier sehen, ist ein Spitzenprodukt deutscher Wertarbeit, schick im Outfit, umwerfend im Klang und topp in der Technik!“
„Und hat außerdem den Mega-Surround-Dolby-Sound!“, trällerte der Lehrling. „Wir packen es auch gerne sofort ein!“
„Ja, was kann es denn so?“, fragte Tante Isolde skeptisch.
„Dann passen Sie mal schön auf!“, erklärte der Verkäufer. „Sie sehen hier eine Mini-HiFi-Kompaktanlage mit incredible Power Sound, Double-Casetten-Deck, High Speed-Dubbing ... “
„Und wo sind die ... “
„ ... hinzu kommt selbstverständlich das One-Touch-Recording, CD-Player, Bass Booster, alles in First-Class-Quality, klar?“ Natürlich war Tante Isolde alles bestens klar, wieso auch nicht?
„Ja, ja, aber - macht der Tatschbuster auch Musik? Ich sehe keine Drehknöpfe.“ Trotz seiner Beflissenheit wurde Verkäufer der Zweite ungeduldig. Schon wieder ein Kunde, der nicht für die moderne Technik geeignet war.
„Wieso Drehknöpfe?“, rief er ärgerlich. „Wo leben Sie denn nur? Das ist doch Steinzeitmüll. Sehen Sie hier diese Gleitregler, die Soft-Touch-Tasten und den Power-Dalli-Klick? Wozu, um alles in der Herrgottswelt, brauchen Sie Drehknöpfe?“ Tante Isolde duckte sich eingeschüchtert unter diesen unerwarteten rügenden Tiraden. Sie wollte ja nur ein Radio kaufen. Der ungebührliche, erhobene Ton des Verkäufers hatte jetzt den Geschäftsführer angelockt.
„Was geht hier vor?“, erkundigte er sich gestrengen Tones. Bevor ihn sein Angestellter auf die mangelhafte Qualifikation dieser Kundin sowie auf deren bizarren Wunsch aufmerksam machen konnte, sagte Tante Isolde:
„Ich möchte, wenns recht ist, ein Radio kaufen.“
„Und - wo liegt das Problem?“, fragte der Chef den Verkäufer.
„Sie will ein Radio mit Drehknöpfen!“, informierte ihn der.
„Dann geben Sie der Frau ein Radio mit Drehknöpfen, okay?“
„Aber ... “
„Hören Sie“, zischte der Chef gereizt, „wenn der Kunde ein Radio mit Badewanne und Wellensittich haben will, dann verkaufen Sie ihm ein Radio mit Badewanne und Wellensittich, ist das klar? Sie gehen bis auf Weiteres ins Lager!“ Er wandte sich höflich an Tante Isolde.
„Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau, aber diese jungen Leute von heute ... na, sehen wir mal nach, ob wir eine Badewanne ... Verzeihung - ein Radio für Sie finden.“ Er verschwand zwischen den Regalen.

Teil 3 folgt morgen
Kurt Binder
schrieb am 26.11.2023, 07:05 Uhr
Der Turm macht die Musik 3/3

Die Tante war zufrieden, denn sie fühlte es genau: Hier war sie in den richtigen Händen. Nach einer Weile kam der freundliche Chef zurück. Hinter sich zog er einen Ladentiefladehandsteuerhalbautomatikwagen, auf dem ein schwarzer, beinahe schrankhoher Turm balancierte.
„Ich glaube, dass wir hier nun etwas gefunden haben, was Ihnen gewiss zusagen wird.“ Tante Isolde starrte den Turm an. So ähnlich hatte sie sich den legendären Turm von Babel vorgestellt.
„Dies hier“, erklärte der Chef stolz, „ist eines unserer besten Stücke: ein HiFi-Quadro-Turm im Profi-Design für hohe Ansprüche.“
„Sehr hohe!“, stellte sie fest, und suchte die Spitze in den Wolken.
„Belieben? Ach soo … ha ha ha! Gnädige Frau haben einen erfrischenden Humor. Dann wollen wir ihn doch gleich mal einpacken, oder möchten Sie noch etwas darüber wissen?“
„Schon, schon, wenn es möglich wäre“, nickte Tante Isolde und runzelte interessiert die Brauen.
„Also“, begann der Chef, nachdem er tief Luft geholt hatte, „der Turm ist eine moderne Super-Stereoanlage im Bausteinprinzip, und besteht aus einem taffen Synthesizer-Compact-Disc-Spieler, Double-Casetten Einheit, in softem vakuumverpackten Einweg-Tuner sowie Tritonal Plattenspieler mit Exponential-Tonarm mit Lift.“
„Auch mit Lift? Na ja, bei dieser Höhe.“, nickte Tante Isolde verstehend.
„Natürlich haben alle Etagen implizite Digital- oder Analogfunktionen, wie: intro Scan, Cue and Review, Edit and Quick, mono-duo-terzo-Umschaltung, auf Wunsch sogar bis okto ... Entschuldigung ...“, er trank einen Schluck Wasser, „4 mal 40 Watt Maximal im Pro-Logic-System. Selbstverständlich gibt es die Möglichkeit ... hallo, wo sind Sie?“
Tante Isolde war während seines Vortrags zusammengesackt, eingeschlafen und schnarchte selig unter dem Tisch. Bei dem Anruf schreckte sie hoch und lächelte den dozierenden Chef verlegen an.
„Na, was meinen Sie dazu?“ Sie rappelte sich auf, sah aber nach wie vor unsicher drein.
„Macht der aber auch Musik?“ Die Drehknöpfe hatte sie mittlerweile vergessen.
„Himmelarrr ..., Verrzeihung, aberrr natürrrlich macht derrr auch Musick!“, knirrschte der Chef mit einem Wehrwolfslächeln. „Doch wenn Ihnen auch dieses Styling nicht gefällt - ich hätte da noch etwas ganz Exklusives!“
Nach weiteren zwei Stunden gnadenloser Vorlesung ohne Pause verließ Tante Isolde das Haus „Musik für alle“ und fuhr nach Haus - in der Kabine eines Zehntonnenlasters. Hinten auf der tiefgelegten Ladefläche, gleich schön verpackt und mit armdicken Stahlseilen gut vertäut, lastete eine Zweitausgabe des Frankfurter Messeturms, natürlich im Super Galaxy-Futur-Design, mit geiler Playboy-Non-stop-Safer-Fitness, Atombombe mit sieben Bösen-Buben-Sensoren in einer Feuer-Löscher-Attrappe, taffer Quick-Schleudersitz mit Space-Shuttle-Gleiter, Erotik-Literatur und Fastfood für drei Monate, und ... und das alles zum lächerlichen Schleudersitz ... Verzeihung - zum Schleuderpreis von nur fünfundvierzigtausendfünfhundertsiebenundzwanzig Euro und 99 Cent.
Leider war Tante Isoldes Wohnung etwas zu klein. Und so flog sie zum Schutz ihrer Persönlichkeitssphäre unter dem Decknamen „Onkel Isolde“ inkognito nach Mallorca, kaufte dort ein Grundstück mitten auf Ballermann 6, stellte ihr neues Radio in die Mitte und ließ sich ein Penthouse darauf bauen.

Man munkelt, dass sich der Turm mit ohne Drehknöpfen bald zum ersten Lokalsender der Freuden-Insel mit Hip-Hop-Rap-Musik etabliert gehabt zu haben sollte, wobei Onkel Isolde zum Leader*in sämtlicher versoffenen Formen des Amusements auf Lebzeiten idolisiert wurde.
Kurt Binder
schrieb am 06.12.2023, 06:21 Uhr
Der Nikolaus kommt

Der Kamin war gesäubert, und vom Bauern hatte ich einen Ballen Heu für die müden Pferdchen besorgt. Ich wusste zwar nicht, ob der Nikolaus diesmal mit dem Schlitten kommen, oder sich mühsam durch den Kamin zwängen würde. Durch meine Vorkehrungen war jedenfalls für beide Fälle gesorgt. Dann stellte ich noch eine Flasche Glühwein auf den Tisch - und wartete.
Da hörte ich ein komisches Geräusch auf der Straße. Vor meinem Haus parkte ein grauer Käfer. Und dann traute ich meinen Augen nicht, und je länger ich sie rieb, umso weniger traute ich ihnen. Aus dem uralten VW, Baujahr 1945 wuchtete sich nämlich mühsam und keuchend – der Nikolaus heraus. Es bestand kein Zweifel – er war es wirklich, wie sein weltweit belanntes rot-weißes Habit eindeutig zweifarbig dreiteilig verriet. Es fuhr mir spontan durch den Kopf, wie leichtsinnig und fahrlässig er doch seine Identität farbenschillernd preisgab, ohne datenschutzrechtliche Bedenken, und somit ohne die sonst streng und allgemein eifersüchtig gehütete Persönlichkeitsphäre zu tarnen. Der schwarze Gürtel, um seinen roten Mantel geschnallt, war sicher nur ein blasser Täuschungs-Versuch, denn der schlurfende Gang des uralten Nikolaus’ strafte die Symbolik dieses Gürtels im karatischen Verständnis bloß mit einem ziemlich herablassenden „Ach, geh hör doch auf, alter Angeber!“ Sein Bart war eine gelungene Mischung aus den Barttrachten von Karl Marx; Alm-Öhi und George Clooney. Das einzige Inkognito fähige Merkmal war nur der morbide Käfer, der sogar im Kühlschrank bei +4 Grad Celsius das MHD längst überschritten haben müsste.
Der eindeutige Nikolaus stampfte also bedächtig auf das Haus zu. Einen großen Sack mit Geschenken sah ich nicht, doch trug er in der Hand einen kleinen Plastikbeutel, auf dem in Großbuchstaben ALDI draufstand. Kurz darauf hämmerte es an der Tür.
Ich setzte ein gewinnendes Lächeln auf, öffnete - und rief überrascht:
“Aah - der Nikolaus! Na, dann komm herein und mach es dir bequem!“ Er sah mich strafend an, und fragte ungehalten:
„Was soll das? Seit wann sind wir denn per Du?“ Mein Unwissen zog mir schier die Patschen aus, und ließ mich anschließend in den Parketten versinken. Ich entschuldigte mich für mein Fettnäpfchen, und meinte verlegen:
“Na ja - es ist bloß so, dass wir als Kinder immer Nikolaus zu dir, äh – zu Ihnen gesagt haben!“
“Den Nikolaus kannst du vergessen – das ist Schnee von gestern; heute nennt man mich Santa Clause!“ Ich nickte eifrig.
“Ja, Herr Santa Clause! Und wie ist das mit dem Weihnachtsmann?“
„Ach was - Santa Clause, Weihnachtsmann, Nikolaus, Knecht Ruprecht - eine in Zeit und Raum verquirrlte Sippschaft; ich kenn mich da selbst nicht mehr aus! Kommen wir nun zur Sache!“ Ich nickte verstehend, riskierte aber doch noch eine Frage.
“Früher – da war doch immer der Krampus dabei, hat bös geguckt, mit einer Kette gerasselt, und uns mit einer schwarzen Rute den Hintern versohlt!“
“Vergiss den Krampus – der ist Schnee von vorgestern. Der streikt gerade, und demonstriert mit andern Krampüssen für Lohnerhöhung! Und statt Rute hab ich etwas viel bekömmlicheres!“
“Ach ja - was denn?“, fragte ich, Böses ahnend.
“Das wirst du noch früh genug zu spüren bekommen!“, beruhigte mich Santa Clause. Dabei zog er ein kleines, rotes Gerät aus der Tasche.
“Oh nein – bitte keinen Elektro-Schock!“, bat ich ängstlich. Er schmunzelte, und versprach:
“Viel schlimmer, aber – das hängt ganz von dir ab. Doch sag jetzt erst mal dein Gedicht auf!“
“Wie – in meinem Alter soll ich noch ein Gedicht sagen?“ Er hob drohend das rote Gerät hoch.
“Schon gut, schon gut!“ Ich schielte skeptisch auf den kleinen Plastikbeutel, und dachte mir mein Teil dabei. Doch dann legte ich los:
“Zicke zacke,
Hühnerkacke!“
“Das gilt nicht!“, unterbrach er mich barsch. „Das hast du von Loriot plagiert!“ Er drückte einen Knopf auf dem Gerät – und was dann folgte, konnte mein Ohr nicht fassen, und Worte zur Beschreibung dieser akustischen Kalamnität müssen noch geprägt werden. Meine Fußnägel krümmten sich aus Protest nach oben, und die Hühneraugen begannen zu schielen, und schlossen sich, einstimmig entrüstet über diese Zumutung. Ich hielt mir die Ohren zu, stopfte Kartoffeln hinein – vergebens, denn ES torpedierte mein Trommelfell durch dick - und noch dicker.
Als ES vorbei war, fragte ich stammelnd:
“Was ... was zum Butzemann war das?“
„Das war SchleSchlaz – interpretiert von Dulcinea Ravioli di Bologna. In den Pop-Katakomben ist sie die erste Diva auf dem Olymp der schlechtesten Schlager aller Zeiten. Und jetzt erwarte ich von dir ein schönes Gedicht!“
Ich dachte: „Lieber von Arnold Schwarzenegger 20 Rutenstreiche auf meinen Blanken, als noch einmal diese Ravioli in Liebessülze schlucken zu müssen!“ Und startete einen zweiten Versuch:
“Santa Clause,
kommen Sie ins Hause,
packen Sie Ihre Geschenke aus!“
“Ist zwar dilettantisch gereimt, doch zur Belohnung darfst du mich heute duzen! Doch kommen wir jetzt endlich zur Sache!“ Mittlerweile war ich auf diese Sache so neugierig, dass ich das Schnackerl kriegte.
“Geaundheit!“, wünschte mir der Nikolaus. Dann öffnete er mit enervanter Langsamkeit den kleinen Plastkbeutel, der sich, über seine Kleinigkeit geniert, verschämt hinter der in Großbuchstaben protzenden Aufschrift ALDI verbarg. Dann warf er mir noch einen auf Spannung bestehenden Blick zu, was ich gerade noch hinter seinem Hybridbart erkennen konnte, und holte mit derselben Langsamkeit – ein Hörgerät heraus, welches er auf den Tisch legte. Dem folgte ein Secund-Hand-Gebiss, eine dickglasige Brille, zwei Wärmeflaschen, mehrere Packungen Premium Pampers for men von TENA, eine Beinprothese, und zuletzt ein Rollstuhl, elektrisch fahrbar. Dann faltete er den leeren Beutel und steckte ihn in die Tasche. Mir purzelten schier die Glubscher aus den Höhlen, als ich stotterte:
“Na wie – keine Schokolade, oder Lutschbonbons, oder Lakritz?“
“Nee – denk an deine Diabetes!“
“Und keine Wurscht?“
“Hast du deinen Cholesterinspiegel vergessen?“
“Keinen Kaffee-Likör?“
„Reicht dir eine Entziehungskur denn nicht?“
“Nicht mal ein kleines bißchen ...?“
„Herrgott nochmal - bist du der Weihnachtsmann, oder ich?“
„Ja, aber – ich brauche alldiese Sachen doch gar nicht!“, protestierte ich mutig. Der Santa lächelte prophetisch:.
“Noch nicht!“ Ich dachte gerade noch:
“Verdammt, der Kerl scheint alles über mich zu wissen!“ Dann bahnte sich eine gnädige Ohnmacht an, doch noch während ich ohnmachtete, flüsterte eine Stimme telepathisch in meinem Gehirn:
“Fluch nicht, und nenn mich nicht Kerl!“ Ich wusste gar nicht, dass ich Telepathisch konnte. Nach einiger Zeit erwachte ich von einem lauten Glucksen mit zwischendurchem Rülpsen. Der Santa stellte die leere Glühweinflasche auf den Tisch, rüttelte mich und fragte:
“Wo ist die Toilette?“ Nanu? Ich schaute ihn sehr erstaunt und fragend an. Worauf er mir sehr vielsagend und verlegen erklärte:
“No Santa is perfect!“ Als er erleichtert zurückkam, teilte er mir mit, dass er nun weiterfahren wolle, und da er sein Auto nichi starten könne - müsse ich ihn anschieben!
Ich machs kurz: Ich schob und schob, drückte und stemmte auf Kraft. Nach einem Kilometer bat ich Santa, die Handbremse zu lösen. Nach weiteren drei Kilometern war ich derart groggy, dass ich mich hechelnd und nach Luft schnappend in den Schnee legte, und an mein Testament dachte. Doch schon schob sich aus dem Autofenster langsam, und mich schadenfroh angrinsend ein rotes Gerät heraus.
Leute, so schnell bin ich noch nie von den Halbtoten auferstanden. Das Schieben machte mir sogar einen Heidenspaß, und fünf Sekunden später schnurrte das süße, schnuckelige Käferchen wie ein Perser Schmusekätzchen – und flog davon.
„Guten Flug, Santa Clause!“, telepathierte ich ihm nach.
“Danke“, flüsterte es entschwindend in meinem Kopf. „Und – bis Glühwein!“
Kurt Binder
schrieb am 20.12.2023, 06:54 Uhr
Mathilda

Die etwas andere Weihnachtsgeschichte

Es war einmal ein kleines Quietscheentchen namens Mathilda, das lebte quietschvergnügt und unbekümmert in einem Badezimmer, das mit weißen und gelben Fliesen bekleidet war. Sie war noch nie aus diesem Badezimmer herausgekommen, und so war dies ihre kleine Welt, in der sie sich wohl fühlte, weil sie nichts anderes kannte.
Wenn sie nicht gerade im Einsatz war, dümpelte Mathilda im Wasser, in einem blauen Plastikschüsselchen umher, das auf dem Wickeltisch neben dem Fenster stand. Wenn das Fenster geöffnet war, wurde sie vom Luftzug erfasst, und drehte sich lustig im Kreis herum. Und das wurde ihr nie langweilig, denn auf den Fliesen waren unzählige kleine Entchen aufgeklebt, die ihre Schwimmkünste mit großen, schwarzen Augen aufmerksam verfolgten und untereinander kommentierten. Auch erfuhr Mathilda täglich interessante Neuigkeiten aus der großen Welt, und fühlte sich entenwohl in dieser ihrer großen Familie.
Mathilda hatte bloß zwei Aufgaben: Sie musste mit Baby Süßes Hosenscheißerle in der Badewanne schwimmen, und wenn dasselbige sie in seine kleinen Patschhändchen nahm und drückte, so laut wie nur möglich quietschen. Schwimmen konnte sie ziemlich gut, allerdings nur Brustschwimmen, denn dafür hatte sie eine perfekte hydrodynamische Entenbrust. Zum Kraulschwimmen waren ihre Flüsgel zu kurz.
Mathilda schwamm hier jetzt schon für die dritte Generation. Babys Süßes Hosenscheißerles Oma Josefine hatte es dessen Mama vererbt, doch als diese mit 20 Jahren nicht mehr so gerne mit Quietscheentchen, sondern lieben mit Buben spielte, war es längere Zeit arbeitslos.
Aus ihrem blauen Schwimmbecken heraus konnte Mathilda bis in den Nachbargarten, und sogar durch das Küchenfenster des Hauses hineinsehen. Im Garten stolzierte Tag für Tag eine dicke, fette Gans namens Adelheid, die immer nur im Gras nach Futter schnabelte, gelegentlich schnatterte, und ihre schneeweißen Federn putzte.
Mathilda beneidete Adelheid, denn sie war das schönste, was sie bisher gesehen hatte. Auch watschelte sie so selbstbewusst und elegant einher, was sie selbst ja leider nicht konnte, weil sie keine Beine hatte. Alldies stimmte sie sehr traurig, und sie flüsterte wieder und wieder unhörbar:
“Ich möchte auch eine Gans sein ... ich möchte dick und fett sein, und watscheln können!“
Eines Morgens war draußen alles mit einem weißen Tuch zugedeckt, und sie konnte Adelheid nirgendwo entdecken. Am Abend jedoch, als sie wieder durch das Küchenfenster schaute, entdeckte sie diese, doch war sie kaum noch zu erkennen. Sie lag auf dem Rücken in einem großen Bräter aus Gusseisen, und streckte ihre gekürzten fleischigen Schenkel in die Höhe. Auch war sie nicht mehr schneeweiß, sondern hatte keine Federn mehr an, war mit Speck gespickt und knusprig braun.
Über sie gebeugt stand die Mama Emma mit einem großen Messer in der Hand. Ihr Gatte Rüdiger sagte ungeduldig „Na, mach schon!“, und zwei coole Kinder leckten mit den Fingern Adelheids saftig glänzende, braune Haut ab, was den Papa zu je einem erzieherischen Klaps hinter die Ohern ermutigte. Vom Kirchturm her hörte man die Glocken läuten, und wohl deshalb schickte er die kleinen Misseschlecker heute mal nicht wie üblich auf ihre Zimmer.
Als Mathilda dann sah, wie Adelheid von der Mama in Stücke geschnitten, und dann von allen sogar aufgegessen wurde, war sie zum ersten Mal heilfroh, nur ein kleines Quieteschentchen aus gelben, nichtessbaren Gummi zu sein - und immer nur schwimmen und quietschen zu müssen.
Und sie begann glückich, und wie durch ein Wunder ganz von selbst im Kreis zu schwimmen und, ohne von Baby Süßes Hosenscheißerle gequetscht zu werden, begeistert zu quietschen:
“Alle meine Entchen schwimmen in dem See ...“ – und das, obwohl von ihrer ganzen auf den Fliesen verklebten Familie ja nur sie allein schwimmen konnte!

Kurt Binder
schrieb am 05.01.2024, 08:54 Uhr
Eine Werbung mit Hindernissen 1 / 2

Seit fast einem Jahr war ich nun schon mit Erika befreundet. Wir wanderten in die Berge, gingen Skifahren, besuchten regelmäßig sinfonische Konzerte, und ließen keine Gelegenheit aus, über die vielfältigen Probleme des Lebens zu plaudern. Ich hatte damals auf der Leiter der physischen Reife das dritte Jahrzehnt bereits überschritten, und ein Paragraph aus dem Handbuch meiner gut bürgerlichen Erziehung flüsterte mir, dass es unter solchen Umständen höchste Zeit wäre, unsere freundschaftliche Beziehung in einen abgesegneten Ehebund umzuwandeln.
Zwar hatten wir noch nie vom Heiraten gesprochen, uns aber rein hypothetisch darüber unterhalten, wie wir wohl als Eheleute zusammenpassen würden. Im Laufe der folgenden Wochen hatten sich diese Gespräche mehr und mehr verdichtet, blieben aber immer noch schüchtern und mit viel „würde“ in der Möglichkeitsform. So besaßen wir bereits ein hypothetisches Haus und mögliche Kinder, wobei die Quantitätsfrage der Letzteren das einzige noch heiß umstrittene Problem war.
Eines Tages fiel nach zahllosen Anläufen dann doch die folgenschwere Frage, warum wir ... ja, warum wir denn ..., zum Kuckuck hinein - warum wir eigentlich nicht heiraten? Da unsere Zukunft auf dem hypothetischen Reißbrett schon fix und fertig geplant war, müssten wir sie nur noch in die Praxis umsetzen. Es gab da allerdings noch ein kleines Problemchen: Die Eltern meiner Angebeteten kannten mich noch nicht. Aus dem Fernsehen wusste ich, dass daraus erhebliche Schwierigkeiten erwachsen könnten. Doch ich setzte auf meine Unwiderstehlichkeit. Wenn es mir gelungen war, die Tochter zu erobern, würden die braven Eltern auch kein Hindernis auf dem Siegeszug zu meinem Glück sein. Und so beschloss ich, nach gediegener alter Sitte um Erikas Hand anzuhalten. Eines Tages war es dann soweit.
Aus dem Spiegel betrachtete mich mit kritischem Blick ein elegant gekleideter junger Mann. Der Smoking floss wie schwarzer Lack um seine schlanken Hüften, die schneeweiße Hemdbrust blendete das Auge, ein bordeauxroter Schlips und weiße Handschuhe ergänzten farbharmonisch das feierliche Habit. Die Rechte schwang einen großen Strauß roter Nelken, und sein glattrasiertes Gesicht lächelte mich gewinnend an.
„Sehr geehrter Herr Schneider“, sagte der junge Mann nach einer Verbeugung zu mir, „in Anbetracht des Tatbestandes, dass die innigen Empfindungen, die ich zu Ihrer reizenden Tochter hege, mir nicht mehr gestatten, die Beziehung zu ihr nur auf der Ebene eines freundschaftlichen Verhältnisses zu pflegen, sondern in mir den sehnlichen Wunsch reifen gelassen haben, Erika mein Leben lang in reiner Liebe zur Seite zu stehen, nehme ich mir die Ehre, hiermit um die Hand Ihrer Tochter zu bitten!“
Nach diesem rhetorischen Meisterstück verbeugte sich der junge Mann und reichte mir den Nelkenstrauß. Ich nickte zufrieden. Erikas Eltern würden vor Bewunderung und Rührung zerfließen wie Butter in der Bratpfanne. Dann marschierte ich entschlossen los. Auf dem Weg wiederholte ich in Gedanken einige Male meine Werbung - dann stand ich vor der Tür.
„Rudolf Schneider, Diplom-Sportlehrer“ las ich auf einem verzierten Messingschild über dem Klingelknopf. Als ich läutete, raste mein Freierherz im Hochfrequenzbereich. Von drinnen näherten sich schlurfende Schritte - dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet.
„Was wollen S’?“, fragte ein rotes Gesicht. „Wir kaufen nix!“
„Geehrte Frau Schneider!“, begann ich nach einer tiefen Verbeugung. „In Anbetracht des Tatbestandes, dass die innigen Empfindungen, die ich zu ihrer reizenden ... “
„Ich bin nicht die Frau Schneider“, sagte das rote Gesicht mürrisch, „ich bin die Putzfrau.“ Sprachs, schlug die Tür vor meiner Nase zu und schlurfte zurück in die Küche.
„Da is einer!“, hörte ich sie durch das offene Küchenfenster sagen.
„Was für einer?“
„Weiß ich nicht. So ‘n ausgeflippter Pinguin, vom Zirkus oder so.“ Frau Schneider öffnete die Tür, und sah mich erstaunt von oben bis unten an.
„Sie wünschen?“, fragte sie leise. Der Pinguin verneigte sich.
„Sehr geehrte Frau Schneider!“, begann er mit Pathos. „In Anbetracht des Tatbestandes, dass die innigen Empfindungen ...“ Und trug seine Werbung schwungvoll und entschlossen vor. Sie sah mich verunsichert an.
„Warten Sie bitte einen Augenblick“, sagte sie dann und ging hinein.
„Du, Rud“, hörte ich sie drinnen rufen, „komm doch bitte mal her. Da draußen steht einer, der schwätzt so ein komisches Zeug einher, das ich gar nichts verstehe.“
„So?“, antwortete eine tiefe Stimme. „Dann lass ihn doch mal reinkommen.“ Frau Schneider trat ängstlich zur Seite, als ich an ihr vorbei ging. Mitten im Zimmer stand ein untersetzter, kräftiger Mann, und schwang zwei Hanteln durch die Luft, als wären es Sofakissen. Er musterte mich schweigend. Aus einer Ecke erhob sich träge ein zottiger Hund, kam heran, beschnüffelte mich - und trottete kopfschüttelnd wieder zurück.

Teil 2 folgt morgen

Kurt Binder
schrieb am 06.01.2024, 07:00 Uhr
Eine Werbung mit Hindernissen 2 / 2

„Nun, was gibt’s denn, Freundchen?“, fragte Herr Schneider, sichtlich ungehalten wegen der Störung. Ich musste erst tief Luft holen, denn im Zimmer roch es streng nach Schweiß.
„Sehr geehrter Herr Schneider“, versuchte ich es ein drittes Mal, „im Tatbestand des Anbetrachtes, dass die ... die Empfindungen der Reize ... der Reize, die ich innig mit Ihrer Tochter pflege ...“, Erika war eingetreten und zwinkerte mir ermutigend zu.
„Was pflegen Sie da mit meiner Tochter?“, knurrte der Vater misstrauisch.
„ ... die Beziehung ...“, warb ich eisern weiter, „ ... die Wünsche ... in der Ebene ... “
„Wooo??“
„ ... mit sehnlicher Liebe ... das innige Verhältnis ...“ Herr Schneider reckte sich drohend.
„Was sagen Sie da? Ein - Verhältnis?“
„Vati, das ist so“, hub Erika an zu erklären. „Ich und Kurt, das heißt, Kurt und ich ... also wir zwei ...“
„Ruhee! Mein Herr, wer Sie auch sein mögen ...“
„ ... erschließen den Wunsch in mir, Sie um die ... um die Ehre Ihrer reifen Tochter zu bitten!“, schloss ich atemlos ab. Mein Schatz biss sich verlegen auf die Lippen, und die Mutter guckte verständnislos zum Hund.
„Aha!“, rief der Vater. „Jetzt versteh ich. Heiraten will der, unsre Erika. Ja, was sagt man denn dazu? Und wie war das mit eurem - Verhältnis, was, wie?“
„Ich ... ich muss gestehen, dass ...“, stotterte ich eingeschüchtert, „dass wir beide ... Erika und ich ...“
„Hörst du, er gesteht!“, sagte er zu seiner Frau. Er trat einen Schritt näher, die Zehnkilohantel in der Rechten.
„Und nun raus mit der Sprache, Sie ... Sie ..., was läuft da eigentlich zwischen Ihnen und meiner Tochter?“
„Aber, Vati ...“, versuchte Erika einzulenken. Ich aber suchte krampfhaft nach Worten.
„Ich ... ich dachte ...“, doch Vati schnitt mir einfach das Wort ab.
„Er kann also auch denken, unser Herr in Schwarz. Ist ja erstaunlich! Ist ja wirklich erstaunlich! Und - haben Sie auch an uns gedacht, ich meine so rein zufällig?“ Er regte sich immer mehr auf.
„Wir werden also einfach vor die Tatsache gestellt, wie? Und warum erfahren wir erst jetzt von eurem Techtelmechtel? Glauben Sie wirklich, dass wir unsere Tochter dem erstbesten Kravattenheini, der an unsere Tür klopft, an den Hals werfen? Wer sind Sie überhaupt?“
„Vati, ich bin großjährig!“, warf Erika ein.
„Das ist mir völlig egal! Schon aus Respekt vor uns hättet ihr uns über eure - Freundschaft wenigstens unterrichten können. Aber was weiß die heutige Jugend von Respekt? Und deshalb sage ich Ihnen, junger Mann, je eher Sie von hier verschwinden, desto besser ist es - für Sie!“ Da gab ich mir einen riesig großen Ruck.
„Herr Schneider“, sagte ich festen Tones und versuchte, erhaben auszusehen, „andere Umstände, in die wir nun leider hineingeraten sind, zwingen mich ...“ Er erstarrte und lief dunkelrot an.
„Was - was sagen Sie da?“, fragte er schwer atmend. Auch Erika sah mich erstaunt und sehr fragend an.
„Andere - Umstände? Also so ist das!“ Er legte die Hantel auf den Boden und kam langsam auf mich zu. Eine Weile betrachtete er mich prüfend, so als überlege er, auf welche Weise er mich zerquetschen solle.
„Rud, bitte - tu’s nicht!“, mahnte seine Frau. Ich suchte mit den Augen die Tür und kramte in Gedanken alle Kenntnisse aus der Schulzeit über Selbstverteidigung zusammen - dann stand er vor mir. Erika trat tapfer an meine Seite. Er hob langsam die Hand - und legte sie auf meine Schulter.
„Konntest du das nicht gleich sagen, mein Junge?“, meinte er begütigend. „Das ist natürlich etwas anderes.“ Und während uns die beiden Damen sprachlos nachsahen, gingen wir ins Wohnzimmer, wo Vati mir zur Begrüßung einen Zwetschgen-Pali eingoss.

Doch nun muss ich ein Geständnis machen, denn – ich habe a pissel geflunkert. Meine Werbung an diesem schicksalhaften Abend war nämlich äußerst erfolgreich für beide Seiten, und ist, wie ich gehofft hatte, nach einem herzlichen Empfang in einer thematisch angemessenen, freundlichen Athmosphäre verlaufen.
Wenn du also, lieber Leser, zwischen dem Klingeln unter dem verzierten Messingschild von Familie Schneider, und Vatis Begrüßungspali alles herausstreichst, dann liegst du goldrichtig!
Es hat mir jedenfalls einen Wahnsinnsspaß gemacht, auch diesen durchaus möglichen Aspekt einer Brautwerbung durchzuchecken.

Kurt Binder
schrieb am 16.01.2024, 07:27 Uhr
Suppen-Dämmerung
Das Aus eines kulinarischen Superstars

Als Feinschmecker war ich von jeher ein glühender Verehrer, ja sogar ein Verfechter der Betramsuppe! In der Familie war sie an der Tagesordnung, und unsre Freunde, kurz die Gaşcă genannt, die wir zu gelegentlichen Gelegenheiten einluden, waren über die überragende Qualität unsrer hauseigenen Zubereitung dieses siebenbürgischen Prestige-Gerichtes derart begeistert, dass sie unsren Einladungen künftig nur dann folgten, wenn ich Bertramsuppe auftischte! Die Lobhudelein – mehr oder weniger geschmackvoll rissen nicht ab, und als Höhepunkt derselbigen rief der Misch begeistert aus:
“Wahrlich, ich sage euch - dieser Rosinante, oder wir der mit die vielen Sterne heißt, hat die Bertramsuppe nur darum nicht in sein Programm eingekocht, weil der sie nie so gut wie (hier folgt mein Vorname, den ich aus Bescheidenheit nicht nenne) hinkriegt!“
Nun, wie dem auch sei – langsam, das heißt ziemlich bald waren wir jedoch von dieser Suppe übersättigt, und sie quoll uns schon aus allen Poren, Ohren und sonstigen Öffnungen heraus. Die Gaşcă nahm die Einladungen von ins nur dann an, wenn wir ihnen schriftlich, und vom Notar beglaubigt versicherten, dass wir keine Bertramsuppe mehr auch nur in die Nähe der Tafel bringen würden – geschweige denn diese während des Schmauses eines (hoffentlich!) knusprigen Schmorbratens erwähnen würden!
Auch der Hund näherte sich seinem Napf immer zögerlicher, und sein Schwanz schulte von Wedeln auf Hängen um, und versteckte sich bald darauf zwischen den Hinterbeinen. Dabei verzog er – der Hund! – im Dauerschmerz sein schönes Gesicht, fühlte sich hundsmiserabel und hundeelend, und sein ehemals treuer Hundeblick wandelte sich in ein vorwurfsvolles, gefoltertes Köterglotzen, das mir ein stummes „WARUM??“ entgegenjaulte. Und das war ausschlaggebend!
In unsrer letzten Zusammenkunft, in der wir alle einen Heiligen Anti-Bertramsuppe-Eid schworen, und diese gemeinsam in die Toilette schwutzten, sangen wir vierstimmig das gemeinsam komponierte Lied: „Wir hatten mal eine Suppe, doch die ist uns heute schnuppe ...!“ Sodann erhoben wir „Bertramsuppe“ zum Gaşcă-Reizwort des Jahres.
Um diese bedeutsame, die Grundfesten unsrer Freundschaft erschütternden Revolution medienwirksam zu machem, schickte ich ein schriftliches Manifest an die Frankfurter Allgemeine. Leider wurde von einer Veröffentlichumg abgesehen, mit der mir völlig unverständlichen Begründung, dass unser Beschluss– man lese und staune - einer gewissen Belanglosigkeit nicht bar sei! Auch stünde es mir besser, anstelle des unaussprechlichen Fremdwortes ‚Gaşcă’, doch ruhig das analoge deutsche Wort ‚Clique’ zu verwenden!

P.S. An einer Folgewirkung unsres Suppenstreiks knobelt die Suppen-Gewerkschaft noch!
Kurt Binder
schrieb am 18.01.2024, 07:32 Uhr
Ein Novum in Gelb 1/2

Nach dem Heldentod unsres kulinarischen Superstars standen wir erstmal wie paralysiert da, und knabberten an den Fingernägeln. Doch als die alle waren, wurde es Zeit zum Handeln, denn es bahnten sich Folgewirkungen an, mit deren Ausmaßen wir Revoluzzer nicht gerechnet hatten.
Zunächst ging ein empörter Aufschrei durch die Reihen der Bertram-Plantagen-Besitzer, deren Existenz durch unsre geschmackliche Gaumenrebellion ernsthaft gefährdet war! Wir schlugen ihnen vor, ihte Ernten in Apfelessig in große Gläser einzulegen, die man auch auf den Mars exportieren könne. Doch dagegen gingen die Glasbläser auf die Straße, weil kene Kasse ihre, vom Blasen derart riesiger Gläser kaputetten Lungen bezahlen würden. Sie vereinigten sich mit den grünen Traktoren der Bertram-Bauern, und fuhren umweltverachtend und verkehrsbehindernd durch die Hauptstadt.
Wir sahen uns in der Bredouille – und wie so oft in ausweglosen Situationen blizte mir eine leckere Idee, und die lautete: „Da muss ein Ersatz her!“
Beflügelten Fußes eilte ich also in meine Küche, die mir bereits sehnsüchtig entgegenduftete – nach Bertramsuppe! Da ich keine nostalgischen, eines Mannes unwürdigen Gefühle aufkommen lassen wollte, entduftete ich sie ein paar Stunden lang – und verfügte mich erstmal ins Nachdenken.
Der Donner von dem Blitz der ersten Idee war noch nicht verdonnert – da blitzte es zum zweiten Mal –und das war die Lösung!
Wenn ich bisher zur Mittagzeit appetitlich wurde, aber kenen Bock auf Kochen hatte, bereitete ich mir eine Eiersuppe zu. Da muss man nur in siedendes Wasser einen Maggi- oder Knorr-Rindsuppenwürfel hineinwerfen, zwei Eier (ohne Schale) hineinschlagen, und löffeln – so einfach ging das. Und genau da knüpfte ich an, denn dieses lächerliche Gebräu kann man doch erweiternd veredeln und salonfähig machen. Also wusch ich mir die Füße, putzte mir die Zähne – und stürzte mich porentief rein auf diese anspruchsvolle Speise in spe.
Was Johannes Mario Simmel in einem seiner Romane konnte - das kann ich auch! Bloß hieße es bei mir: „Es muss nicht immer Bertramsuppe sein!“, auch beschränke ich mich nur auf ein einziges Rezept – wie folgt:

Zutaten - für eine Person (mittelgefräßig)

Man nehme:
1 größere Zwiefel
etwas Speisöl
1/2 Liter siedendes Wasser in einem Kochtopf
1 Maggi- oder Knorr-Rindsuppenwürfel
2 Eier
1 Krenwürschtel
1-2 mittelgroße Salz- oder süßsaure eingelegte Gurken
2 Esslöffel saure Sahne
1 Tube Thomy-Delikatesssenf, mittelscharf (blaue Tube mit etwas weiß, gelb, orange, grün und schwarz drauf)
1 gehäuften Esslöffel gehacktes Dillkraut

Und das geht so:

Teil 2 folgt morgen
Kurt Binder
schrieb am 19.01.2024, 07:01 Uhr
Ein Novum in Gelb 2/2

Die Zwiefel wird in feine Scheiben geschnitten, im heißen Öl angeröstet, und bei geschwächter Hitze nur kurz, sozusagen ‚a dente’ gedünstet.
Das siedende Wasser darübergießen, und den Suppenwürfel hineingleiten lassen.
Von der Herdplatte wegziehen, und die Eier (ohne Schale!) hineinschlagen. Von Hand mit einem Quirl oder Gabel gründlich verquireln, bis es eine einheitlich gelbe Sache wird, die weder auf den Namen „Brühe“. „Bouillon“ oder „Fond“ hört. Aus der Senftube wird nun mit der rechten Hand (bei Linkshändern mit der linken) ein sehr kräftiger Schuss Senf in das noch namenlose, gelbe Etwas hineingedrückt, und nochmals gut verquirlt.
Das Krenwürschtel schneidet man in feine Scheiben, desgleichen die Gurken in 3-4 mm dicke Scheiben, und verfrachtet sie ebenfalls in das noch heiße No-name hinein. Nicht aufkochen – ggfls. unter Rühren wieder erhitzen!
Ganz zuletzt – das grüne Dillkraut.
Umrühren – fertig ist die hiermit getaufte:
Eier-Senf-Würschtel-Gurken-Zwiefel-Dill-Suppe – oder als Akronym:
Eisewüguzwiedill – klingt doch überzeugend appetitanregend, oder?
Die jeweilige Menge der Zutaten kann natürlich dem eigenen Gusto entsprechend angepasst werden!

Ich schickte mein Rezept ebenfalls an die Frankfurter Allgemeine, direkt an die Rezept-Abteilung. Die Antwort beinhaltete diesmal ob meines erneuten Ansinnens keine „gewissen Belanglosigkeiten“, dafür aber die schüchterne Anfrage, ob dies „Rezept für Götter“ schon patentiert sei!
Unter der überwältigenden Wucht dieses kulinarischen Novums stöhnend, wurden auch die grünen Traktoren überzeugt. Und so machten sie alle auf der Stelle eine 180-Grad-Kehrtwendung, konvertierten kommentarlos von Bertramplantagen hin zu Dillplantagen und Eier-Legebatterien, und die Hybrid-Forscher kiewerten in verschiedenen biologischen Genen und Chromosomen, um daraus - einen Krenwürschtelbaum wachsen zu lassen.

Aber nun, liebe Forumfreunde – die volle Wahrheit:
Das Rezept für diese Suppe ist ausnahmsweise kein weiterer Gag – großes Pfadfinder-Ehrenwort!
Ich habe sie mir schon des Öfteren zubereitet. Auch Gemüsesuppen aller Art schmecken besser, wenn man sie mit Senf erschießt!

Meinungen? Freu ;-)) !
Kurt Binder
schrieb am 12.02.2024, 06:51 Uhr
Hochkarätiges
Eine zu 99% wahre Begebenheit

Im Jahre 1948 war ich ein ‚klassenbewusster’ Quartaner am Knabengymnasium in Hermannstadt. Neben andern Fächern – oder Gegenstände, wie wir diese damals genannt hatten, und die uns mehr oder weniger beglückt oder belastet hatten, gab es auch die erholsamen Turnstunden. In diesen herrlichen Lebensabschnitten fühlten wir uns alle gleichberechtigt, unabhängig von der Körperkraft, des Jausenbrotes und des sozialen Standes. Und zu diesem Gefühl einer indiskutablen Zusammengehörigkeit hat uns unser Turnlehrer, oft auch mit etwas Nachdruck verholfen!
Wir nannten ihn Bully! Er war von vierschrötiger Gestalt, gemütlich wie ein Bär vor dem Winterschlaf, ebenso stark, und die Güte selbst. Die Turnstunden verliefen längere Zeit nach dem gleichen Schema. Zur Erwärmung und Lockerung liefen wir erst ein paar Runden durch den Turnsaal. Danach folgten Hinaufklettern auf den senkrechten Holzleitern, den herabhängenden Seilen, Bock- oder Kastenspringen, Handstand-Überschlag auf den Matratzen, und zur Abwechslung manchmal Korbball oder Volleyball.
Doch eines Tages überraschte uns Bully mit einer Neuigkeit - er wollte uns den Karate-Kampf beibringen! Im ersten Schritt musste er allerdings die aufleuchtenden Augen der drei Raufbolde unsrer Klasse mit der ernüchternden Bemerkung trüben, dass Karate - ein reiner Abwehrkampf sei!
Schon in der nächsten Turnstunde begann Bully, uns in großen Zügen mit den Besonderheiten dieser japanischen Kampfkunst vertraut zu machen. Groß war die allgemeine Begeisterung, dass man hierbei auch mit den Füßen schlagen darf – ja, sogar muss! Während unsrer bisherigen gegenseitigen Freundschaftsbekundungen sind wir über einen handelsüblichen „Fusinarsch“ nicht hinausgekommen - den Bully schmunzelnd als bloß eine Streicheleinheit an unsrem edelsten Körperteil bezeichnete. Und er erklärte uns, dass so ein hochqualifizierter, und legalisierter Fußtritt ebenfalls umweltfreundlich, jedoch viel nachhaltiger sei. Ob er uns das eventuell an einem von uns demonstrieren dürfe? Leider wollte sich keiner für diese Vorführung als didaktisches Lernmaterial zur Verfügung stellen – obwohl alle diesem einzigartigen Schauspiel gerne beigewohnt hätten!
Und dann begann Bully, uns in die Geheimnisse dieser defensiven Rauferei einzuweihen. Wir lernten von den Grundstellungen, den verschiedenen Fußtritten, und von den Griffen und Handschlägen. Hierbei sei es erforderlich, eine möglichst harte Handkante zu haben, die sich jeder durch entsprechendes Training heranbilden kann. Um zu zeigen, wie das machbar wäre, trommelte Bully mit den Händen, Kanten nach unten auf die Tischkante. Nun, damit hatte er etwas ausgelöst, das auch die mickrigsten und schwächsten Schüler aufhorchen ließ.
Ab dieser Stunde ging kein Quartaner mehr in der Pause in den Schulhof, um Fanges zu spielen, oder einem Kleineren das Wurstbrot wegzunehmen, um einmal hineinzubeißen. Dafür hörte man im Hof ein gleichmäßig rollendes Donnern aus den Fenstern unsrer Klasse herausquellen, das den diensthabenden Professor jedesmal vor ein Rätsel stellte. Die Begeisterung war so groß, dass uns die Pausen zu kurz waren, und wir auch während der Stunden die Kerben in den Sitzlatten unsrer Bänke schonungslos vertieften. Doch es gab auch Rückschläge.
Der kleine Konad griff unvorsichtigerweise im Vertrauen auf seine gestärkte Handkante wagemutig seinen bisherigen Peiniger, den Klassenstärksten, den Horst Schuster an. Leider hatte er außer Acht gelassen, dass die Kerben in dessen Bank doppelt so tief gehämmert waren als seine. Jedenfalls konnte er den Unterricht nach zwei Wochen wieder besuchen.
Nach einiger Zeit erkundigte Bully sich, wie wir mit dem Härten unsrer Handkanten vorangekommen wären. Wir grinsten ihn nur vielsagend an.
“Also gut“, meinte er. „Wer will einen Versuch wagen – mit mir!“ Zunächst – betretenes Schweigen. Doch dann stand Horst Schuster lässig auf.
“Na, dann komm doch mal her – vor mich!“ Horst schlenderte heran, und stellte sich dicht vor Bully. Der nahm die Grundstellung ein: Der Körper seitlich gedreht, die linke erhobene Hand – Kante außen nach vorne, Beine auseinander.
“Gut – und jetzt schlag zu, so fest du kannst!“, befahl er. Horst stutzte, und sah sich unschlüssig um. Wie sollte er seinen Professor schlagen? Das ging doch nicht! Doch Bully rief ungeduldig:
“Na, komm schon, Schuster, schlag zu - oder hast du etwa Angst?“ Da kniff der die Augen zusammen, holte aus – und ließ die Handkante blitzschnell mit voller Wucht auf Bullys rechte Backe klatschen. Der taumelte, knickte ein, sackte auf den Hintern - und sah maßlos erstaunt zu Schuster auf, der verlegen auf ihn herabgrinste. Sowas war ihm noch nie passiert! Doch was war geschehen?
Bully hatte den Hieb – von seiner linken Seite erwartet, wie es von Seiten der Rechtshänder in der Regel der Fall war. Horst Schuster aber war leider - Linkshänder!

Kurt Binder
schrieb am 01.03.2024, 07:08 Uhr
Reini in den Mund gelegt

Als Reinhold Messner 1978 zum ersten Mal auf dem Mount Everest stand, hatte er sich erstaunt umgesehen, und vermutlich eine oder mehrere der unten aufgezählten Nummern ausgerufen:

1: “Ich finde, das ist Spitze!“
2: „Also, das ist wirklich die Höhe!“
3: „Ojeh, bin ich jetzt ein Hochhinaus?“
4: „So! Jetzt muss die ganze Welt zu mir aufschauen!“
5: „Einmal im Leben der Nabel der Welt sein!“
6: „Dies ist der absolute Höhepunkt!“
7: „Für ‚Oben ohne’ ist es leider etwas zu kühl!“
8: „Wenn ich ein Vöglein wär ...“
9: „Ein Königreich für einen Hubschrauber!“

Doch da er weder ein Vöglein war, und kein Königreich für einen Hubschrau besaß, musste er eben zu Fuß wieder hinunterklettern. Und er erklärte allen, die ihm erstaunt begegneten:
“Vom Himal(laja) hoch, da komm ich her ... !“


Es ist mir bekannt, dass Messner nicht allein auf dem Everest war!
Kurt Binder
schrieb am 04.04.2024, 09:02 Uhr
Episoden aus „Die lange Nacht der Erzählungen“ (Personennamen geändert)

Die unverständliche Welt des Pimpfen Konrad (1)

Meine Erinnerungen gehen etwas weiter zurück, genau genommen - sehr weit! Es sind nun schon viele Jahrzehnte vergangen, seit ich durch eine der denkwürdigsten Phasen meines Lebens streifte.
Es war in Hermannstadt, im Oktober 1940, wenige Wochen nachdem General Antonescu König Carol II. zur Abdankung gezwungen und dessen 19-jährigen Sohn Michael zum neuen König Rumäniens ernannt hatte.
Die deutsche Bevölkerung von Hermannstadt befand sich in einer ungewöhnlichen Hochstimmung, denn sie erwartete den Einmarsch der deutschen Soldaten. Für unsre Familie hatte dieser Tag allerdings eine freudigere Bedeutung: Meine Schwester Sigrid wurde geboren!
Soldaten hatte ich schon öfters gesehen, und es war mir gar nicht bewusst, dass es rumänische waren; diese Frage hatte ich mir mit 7 Jahren freilich nicht gestellt. Und schon gar nicht, wozu Soldaten eigentlich nötig waren, und warum sie Gewehre trugen. Wenn sich meine Eltern manchmal mit meinen Tanten und Onkels am Fischteich beim Bondi zu einem Bier treffen wollten, sind wir mit der „Elektrisch“ an der Kadettenschule vorbeigefahren. Und da hat mir mein Vater erklärt, dass hier junge Männer für eine militärische Laufbahn geschult werden, die sich später dann als Offiziere ausbilden lassen können.
So war meine Vorstellung vom Militär mit seinen Soldaten und Offizieren äußerst vage. Doch als ich von „deutschen Soldaten“ hörte, war meine Neugier geweckt, zumal in unserer Familie schon seit längerer Zeit von ihnen gesprochen wurde. Dabei wurden sie mit irgendeinem gewissen Hiller oder Hüttler, und mit Krieg in Zusammenhang gebracht. Und so lief ich an jenem Vormittag neugierig auf den Großen Ring, auf welchem sich bereits eine große Menschenmenge angesammelt, und durch die ganze Heltauergasse hindurch ein Spalier gebildet hatte, in dem erregt gemurmelt und diskutiert wurde. Viele der ungeduldig Wartenden hielten Blumen in den Händen, manche sogar ganze Sträuße.
Mehrere Männer mit einer weißen Binde um dem rechten Oberarm bemühten sich, die Menschen von der Straße auf die Gehsteige zurückzudrängen, wenn sie sich, von Neugierde getrieben, andauernd zur Straßenmitte begaben und gespannt zur Bahngasse spähten, woher die deutschen Soldaten kommen sollten. Ich musste nicht lange warten. Vom Bahnhof her hörte ich erst leise, dann immer lauter hallende Jubelrufe, begleitet von knatternden Motorengeräuschen, die sich rasch dem Großen Ring näherten. Die Ordnungsmänner konnten die erregten Massen kaum noch bändigen, die sich immer stürmischer auf die Straße drängten, um die einfahrenden Deutschen möglichst deutlich zu sehen. Und dann tauchten die ersten Fahrzeuge auf, und der aufbrandende Jubel der begeisterten Menge war beinahe ebenso groß wie der ohrenbetäubende Lärm der Fahrzeuge, die nun in einigem Abstand voneinander langsam an uns vorüberrollten.
Die folgenden Benennungen der Fahrzeuge habe ich damals natürlich nicht gekannt. Erst viele Jahre später habe ich aus Interesse im Lexikon, später im Internet geblättert, und ich war erstaunt, welche Vielfalt von hoch technisierten motorisierten Waffenarten es in jener Zeit gab - die aber leider nur fürs Erobern und Töten bestimmt waren.
Voran fuhren einige leichte Kübelwagen, also Geländewagen, die dem heutigen Jeep ähnlich sahen. Es folgten selbstfahrende Flakwagen sowie leichte Schützenpanzerwagen. Dies waren Halbkettenfahrzeuge, die vorne zwei lenkbare Gummireifen-Räder hatten. Am lautesten dröhnten die Panzerkampfwagen, als sie über die Pflastersteine ratterten. Zuletzt folgte eine Menge Lastkraftwagen, die hinten vier Räder hatten.

Teil 2 folgt morgen
Kurt Binder
schrieb am 05.04.2024, 06:27 Uhr
Die unverständliche Welt des Pimpfen Konrad (2)
Faszination und Ekstase

So etwas hatte ich noch nie gesehen. Auf den Ladeflächen saßen die deutschen Soldaten in ihren feldgrauen Uniformen, und jeder hielt ein Gewehr in der Faust, das mit dem Lauf nach oben zeigte. Trotz der noch herrschenden Hitze trugen alle einen Stahlhelm, und sie lächelten wohlwollend auf die begeistert winkenden Massen herab. Zwar sahen einige auch gleichgültig und mit stumpfen Blick in die Gegend, andere ließen müde den Kopf hängen. Aber ein Soldat hatte mir direkt in die Augen gesehen und mich dabei angelächelt - das habe ich nie vergessen. Über die Bedeutsamkeit dieses vorübergehenden Kontaktes habe ich mir keine weiteren Gedanken gemacht; ich war einfach unheimlich stolz darauf.
Alle Fahrzeuge trugen vorne kleine Fähnchen. Diese waren rot und hatten in der Mitte einen weißen Kreis, in dem ein schwarzes Hakenkreuz drin war. Davon noch mehr begeistert begrüßten nun immer mehr Menschen die einrückenden Soldaten, indem sie die rechte Hand schräg nach oben hoben. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, und ich ahnte auch nicht, dass diese rätselhafte Geste in drei Jahren auch für mich zur Pflichtübung werden sollte.
Trotz der Bemühungen der Ordner, die Menschen in Schach zu halten, liefen viele neben den Fahrzeugen einher und versuchten, den teils verlegen dreinschauenden Soldaten die Hand zu reichen. Sie jubelten, lachten fröhlich und warfen Blumen zu ihnen hoch, welche diese auffingen und in ihre Brusttasche steckten. Ich wollte unbedingt auch eine Blume werfen, aber da ich keine dabei hatte, ließ ich mich zu einem Manöver hinreißen, das um ein Haar fatal ausgegangen wäre.
Ich drängte mich in die erste Reihe durch, und als ich eine kleine Lücke zwischen zwei Panzern bemerkte, lief ich vor das nächste heranrollende Ungetüm und hob eine Rose auf. Den gellen Schrei des Entsetzens, der aus der erstarrten Menge aufstieg, hörte ich gar nicht, weil ich im selben Augenblick mit einem schmerzhaften Ruck von einem der Ordner zurückgerissen wurde und auf die harten Basaltsteine stürzte. Erst als ich mich mühevoll mit einem aufgeschlagenem Knie aufrichtete, bemerkte ich die entsetzten Blicke der Menschen um mich herum. Eine weißhaarige Frau band ein Taschentuch um das blutende Knie und fragte besorgt:
„Tut es arg weh?“ Ich schüttelte den Kopf, denn ich spürte tatsächlich keinen Schmerz, weil das Knie von dem harten Schlag betäubt war. Meine Rose habe ich aber dann doch auf einen Laster geworfen. Leider wurde sie von keinem der Soldaten bemerkt, weil sie nur knapp über das klappbare Seitenteil des Wagens zwischen ihre staubigen Stiefel fiel.
Fast alle Menschen grüßten nun die vorbeirollende Kolonne mit gestreckter erhobener Hand. Ich erinnere mich nicht mehr, ob dabei auch „Heil Hitler!“ gerufen wurde. Jedenfalls wurde auch ich, trotz meines geschundenen Knies, von dem Freudentaumel der Menge gepackt - und hob nun ebenfalls die rechte Hand hoch. So stand ich in der ersten Reihe unbeweglich da, in einer Pose, die ich zwar nicht verstand, die mir aber das Gefühl gab, nun einer guten Sache zugehörig zu sein. Und sie konnte nur gut sein, wenn so viele Menschen im Überschwang ihre ehrliche, helle Freude dazu bekundeten!
Als dann der letzte Laster vorbeigefahren war, verlief sich die Menge nach und nach. Doch ich stand noch, von der Hochstimmung durchdrungen, eine ganze Weile unbeweglich da, die Rechte mit todernstem Gesicht hochgehoben, wobei ich vorsichtig nach links und nach rechts schielte, ob man mich auch bemerke. Die heimwärts eilenden Passanten bedachten mich mit teils wohlwollenden, teils belustigten Blicken, und ein dunkelhaariger junger Mann sagte verärgert zu mir:
„Dute acasă, măi băiete, nemţii tăi au plecat deja!“ (Geh nach Hause, Junge, deine Deutschen sind schon weggefahren!). Da wurde mir in meiner Solo-Darbietung unbehaglich, und ich verließ hinkend den Platz.

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