Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Nimrod
schrieb am 13.01.2023, 12:45 Uhr
Verallgemeinernd darf man das aber nicht immer über das Schreiben sagen. In diesen Tagen sind bzw. kommen zwei Bücher auf den Markt. Prinz Harry und Kurien-Erzbischof Gänswein haben sich ihren "Frust" von der Seele geschrieben. Hier drängt sich aber auch was lateinisches auf und zwar: Si tacuisses, philosophus mansisses. “ – „Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben. Das sollte mancher Schreiber auf seiner "Feder" eingraviert haben !!
Tarimona
schrieb am 13.01.2023, 16:52 Uhr
Danke dir liebe Ute, ja das war wirklich ein erhellendes Erlebnis damals. Hab diese Erinnerung auch einer Freundin mit einer 8-jährigen Tochter geschickt. Sie hat sie ihr tatsächlich vorgelesen und das einzige was die Tochter gefragt hat war: "Mama, bekomme ich auch ein Wunderknäuel?"

Deine Erinnerung mit den Hausschuhen, einfach herrlich! Ja, das kann ich nachfühlen, bin doch tatsächlich einmal mit zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen, einkaufen gegangen. Hab's erst an der Kasse gemerkt. :-)

Und Kurt, sehr erfrischend geschrieben deine Erinnerung ans schwimmen lernen :-) Verrate uns doch nur noch eines, hat Klaus auch schwimmen gelernt? :-)
Kurt Binder
schrieb am 02.02.2023, 08:59 Uhr
Wissenswertes aus der Antike
(älter - es geht nicht)

Es machte die Alkmene
den Zeus an mit ihre Beene.
Sie redeten Tach’les
und zeugten Herakles -
da waren sie nicht mehr allene.

Es fand im Lago Maggiore
ein Taucher ’ne alte Amphore.
Doch’s war die süperbe
antike Scherbe -
der Nachtstopf der Terpsichore.*

Weil Cäsar, dem Tyrannen,
und seinen wacker’n Mannen
der Zaubertrank
in Gallien stank -
da rannten sie von dannen.


*) griech. Muse des Tanzes und des Chorgesanges
Nimrod
schrieb am 11.03.2023, 12:11 Uhr
Jeden Tag ein andres Thema
Ist beim Kurt das klare Schema
Doch hier beim alten Haus, den alten Brücken
Ließ länger er sich nicht mehr blicken
Auch Tarimona und Maikind,
hier länger ausgeblieben sind.
Im alten Haus da ist es leer
Im alten Haus wohnt keiner mehr.
Die Brück ist weg, nur noch ne Furt
Da mußt Du durch mein lieber Kurt
Zum alten Haus, es zu beleben
Mußt Du dafür erst einen heben ?
Laß ihn Dir wohlbekommen,
dann kommen sie geschwommen
die sonst noch waren hier dabei
die Tarimona und das Kind vom Mai
der alte Nimrod würd sich freuen
wenn wir das alte Haus erneuen !
Nimrod
schrieb am 08.04.2023, 12:23 Uhr
Das alte Haus hier hat es schwer
Nicht nur das seine Räume leer,
Der Eifer, der es „einst erdichtet“
Hat sich schon länger stark verflüchtet

Wenig wird nur mehr hier geschrieben,
Wo ist doch die Erinnerung geblieben ?
Ein Kind vom Mai hat es erdacht
Doch auch schon hat sich’s aus dem Staub gemacht !

Es ist mit alten Häusern ein Problem
Das Heizen ist sehr unbequem
Obwohl es hat besondren Charme
Bekommt man’s nicht so einfach warm !

Gerade weil’s nicht „isoliert“
Was uns der Staat jetzt aufdiktiert
Verändert müßte es, ganz unpoetisch
Umgebaut als „energetisch“

Doch weil das alles wird sehr teuer
Wird es ein finanzielles „Ungeheuer“
Darum’s auch keiner kaufen will
Es bleibt deshalb auch weiter still

Oh altes Haus, so ist es eben,
wer schenkt dir wieder etwas Leben ?
Vielleicht ein Mensch, in dem es „nagt“
Ihn Heimweh und Erinnerung plagt !

Dass alles uns dann hier berichtet
In Prosa oder auch gedichtet
Fürs’ alte Haus und uns ihr Leute
Wär’s wieder eine große Freude
Wenn sich hier jemand sehen läßt
Es wär ein schönes Osterfest
Kurt Binder
schrieb am 18.04.2023, 09:35 Uhr
Diese Geschichte ist ebenso verrückt wie quatschig. So passt sie am besten ins Alte Haus, dessen gähnende Hallen sich schon lange nach etwas Abwechslung gesehnt haben.

Im Banne des doppelten Nichts


Getreu der Ankündigung überschreiten wir nun gemeinsam die Brücke zum "Alten Haus", diesmal aber in eine nebulöse Vergangenheit. Ja, es begab sich vor langer, langer – na, sagen wir, vor sehr langer Zeit. Die Menschen wähnten sich glücklich von oben bis unten, von vorn bis hinten – Moment mal, stimmt das auch? Um einer Enttäuschung vorzubeugen, gehen wir dieser etwas voreiligen Behauptung erstmal auf den Grund.
Da gab es nämlich ein Land, in dem die totale Ignoranz regierte. Nichtigkeiten wurden verehrt, und laufend mehr und mehr genichtigt, wahre Werte aber waren verpönt und wurden – genau, ignoriert und genichtet.
In diesem Land vegetierte alles, was sich unter solchen existenzfeindlichen Bedingungen gerade noch behaupten konnte, ratlos und suizidgefährdet einher. Die Menschen brachten sich gegenseitig um, kratzten sich den Buckel oder starrten Löcher in die ohnehin papierdünne Ozonschicht. Verständlich, dass sich in dieser psychisch sehr labilen Gesellschaft langsam die Unruhe lang und breit machte. Zwar gab es Ordnungshüter, die aber zur Beschwichtigung der vor spürbar zunehmender Erregung palpitierenden Massen bloß drei Spruche in petto hatten:
„Alles in Ordnung?“
“Es wird alles gut – versprochen!“
“Ich liebe dich!“
Wegen dieser letzten Floskel wurden sie schon mehrfach erschlagen, weil sie meist der falschen Person zugeflüstert wurde, oder der richtigen Person in die falsche Kehle gerutscht war.
Inmitten dieser zombieähnlichen Hominiden wankte eines nichtigen Morgens eine verwaiste Null knieweich, ihrer Nichtigkeit voll bewusst durch die hoffnungslose Landschaft ihrer ignoranten Heimat, und jammerte und klagte:
„Ich bin nur eine Null, ein Nichts auf dieser Welt, wie es nichtser nicht sein kann!“
“Ich auch!“, flüsterte es da ganz in ihrer Nähe hinter einem Strauch.
“Wer ... wer bist du?“, erkundigte sich unsre Null erstaunt. Hinter dem Strauch trat ängstlich – eine andre Null hervor, die ihr wie eine Null der andern glich. Sie starrten sich eine angemessene Zeit lang gegenseitig an, und fragten dann gleichzeitig:
“Beim Teutates – was sollen wir bloß tun?“ Bitte zu beachten, dass in einem Land, in dem die totale Ignoranz herrscht, die Wahl des adäquaten Gottes ebenfalls eine Nichtigkeit darstellt! Und da kam ihnen eine brillante Idee.
“Wollen wir uns zusammenschließen?“, fragten sie gleichzeitig.
“O ja, o ja, o ja ...!“, jubelten sie gleichzeitig, (also synchron), wobei die eine dieser spontan übereinstimmenden, neuen Existenzform in spe eine Terz höher jubelte. Und alsbald schlossen sie auf der Stelle eine Koa(Null)lition, die durch ihren zweistimmigen Jubel harmonisch eingeweiht wurde. Okay, aber – was nun?
Und wie sie sich so ratlos, wie siamesische Zwillinge nach einer lukrativen Nutzung ihrer Nullität im Doppelpack umschauten – da geschah ein Wunder.
Beflügelt von dem Mut, sich der hier gesetzlich verordneten Nichtigkeit zu widersetzen, stieg aus dem Schlamm der allseits herrschenden Ignoranz eine leuchtende Gestalt, sozusagen eine Lichtgestalt empor. Sie war von athletischem Körperbau, trug ein weißes T-Shirt, und eine modische Glatze. Ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung von dem des berühmten Laubfrosches Kermit, wenn er Miss Piggys sexy schinkenwedelndem Gang nachgomerte, und dem Watschenmann aus dem Wiener Prater. Ungeachtet ihres provokanten Äußeren nennen wir die Gestalt in intuitiver Voraussicht einfach nur - Meister Proper. Und was dann geschah, war die lang ersehnte Erfüllung eines körperlich intensiv gefühlten Wunschtraumes!
Meister Proper segnete, selbstbestätigt in seiner Eigenschaft als zweite Lichtgestalt, die Ehe der frisch verknüpften Zwillinge ab. Dank seines sofort einsetzenden missionarischen Wirkens etablierten sich diese bald in der ganzen Welt - als Logo für die allmorgendliche, herrlch besinnliche, und mit Abstand gemütlichste und bekömmlichste Morgenandacht in unsrem Leben.

Quod erat demonstrandum!
Kurt Binder
schrieb am 06.05.2023, 11:21 Uhr
Und Tata ging spazieren

Mein Vater war infolge der Gliederung der Deutschen Volksgruppe in Rumänien durch Andreas Schmidt erst Mitglied der Deutschen Mannschaft (DM), und wurde 1943 wie fast alle dienstfähigen jungen Männer zur Waffen-SS eingezogen. Am 23. August 1944, am Tag des Frontwechsels Rumäniens, befand er sich gerade zu einem viertägigen Urlaub zu Hause.
Wir saßen gerade beim Mittagessen, als wir diese Nachricht aus dem Radio erfuhren. Meine Mutter wurde kreidebleich. Tata legte Messer und Gabel auf den Tisch, lehnte sich zurück und starrte zum Plafond. Er atmete schwer, als er mehr für sich murmelte:
„Na dann, Servus, mein Lieber - das wars wohl!“ Und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: „Da hatte Stauffenberg doch den besseren Riecher!“ Das gescheiterte Attentat des Obersts Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler am 20. Juli in der Wolfschanze in Ostpreußen hatte im Bekanntenkreis erhitzte Diskussionen ausgelöst, denn viele wollten nicht wahrhaben, dass sich der Wahnsinn deutlich seinem Ende näherte.
„Und - was sollen wir nun tun?“, fragte meine Mutter angstvoll.
„Ich weiß es nicht - wir müssen vorläufig abwarten! Ich bekomme wahrscheinlich neue Befehle, was ich zu tun habe!“
Am nächsten Tag, dem 24. August erhielt mein Vater einen Anruf, er solle sich sofort in voller Uniform und mit Marschgepäck auf dem Großen Ring bei der Standortkommandantur melden. Er kontrollierte seine Uniform, prüfte, ob alle Knöpfe festsaßen und putzte die schwere Schnalle seines Koppels mit den breiten, blitzförmigen Symbolen drauf auf Hochglanz. Er hatte uns schon am ersten Tag des Urlaubs seine Uniform und alle dazugehörigen Teile gezeigt, und uns auch erklärt, dass diese Zeichen dem „S“ aus der ältesten germanischen Runenreihe entsprachen.
Mama bügelte ihm zwei Hemden und ein paar Taschentücher, und legte noch einen Pullover, drei Paar Socken, ein Paar Handschuhe, den Rasierapparat, seine Zahnbürste und ein Handtuch dazu. Viel ging ja nicht in den Tornister hinein. Dazu kam noch das Feldbesteck, ein großes Speckbrot für den Weg und zwei Tafeln Schokolade. Die mit Kaffee gefüllte Feldflasche hängte sie außen an den Tornister.
Bevor er losging, umarmte er mich, und küsste meine kleine Schwester Inge auf ihre Pausbäckchen. Sie war damals fast vier Jahre alt und trug, wie so oft, rechts in ihrem gelockten, kastanienbraunen Haar eine große, weiße Masche. Sie fragte meinen Vater leise:
„Gehst du spazieren?“ Tata unterdrückte mit Mühe die Tränen.
„Ja, aber ich komme bestimmt bald wieder!“ Er sollte nie wieder kommen. Meine Mutter begleitete ihn auf den Großen Ring wo sich das Amt des Ortsgruppenleiters befand.
Mein letzter Eindruck von meinem Vater war das lange, schwere Gewehr, das über der Schulter neben dem Tornister auf seinem breiten Rücken hing. Es sah sehr lustig aus, wie es beim Gehen herumbaumelte und im Takt seiner Schritte dumpf tönend mit der Feldflasche im grauen Filzüberzug zusammenschlug.
Als Mama zurückkam, erzählte sie uns, dass einige Leute hinter ihnen hergepfiffen und gerufen hätten, sie sollten doch zu ihrem Hitler gehen, und was sie noch hier zu suchen hätten! Sie war dann auf einem großen Umweg unbehelligt nach Hause zurückgekommen.

P.S. Es zirkulierten absurde Gerüchte, dass die S.A. kurz vor ihrer Flucht vor der heranrückenden Sowjetarmee Deserteure – also „Hochverräter und Fahnenflüchtige“ in ihren Wohnungen, vor den Augen ihrer Familien brutal ermordet hätten, wobei auch Frauen und Kinder angeschossen und schwer verletzt wurden.
Obwohl in Hermannstadt mehrere junge Väter bei der SS waren, ist kein einziger derartiger Fall bekannt! Ein Blutbad dieses Ausmaßes dürfte wohl kaum "in aller Stille" und gänzlich unbemerkt angerichtet worden sein!!


(Auszug aus „Unter Roten Wolken“, überarbeitet)

Nimrod
schrieb am 08.05.2023, 16:14 Uhr (am 08.05.2023, 16:15 Uhr geändert).
Siebenbürgische Schicksale : Ein lebenswichtiger Buchstabe

Die hier von Kurt Binder berichteten Ereignisse aus den letzten Kriegsjahren des II. Weltkrieges in Erinnerung an seinen Vater haben auch bei mir Erinnerungen an meinen Vater und ein denkwürdiges Ereignis aus dieser Zeit geweckt. Zu Beginn des II. Weltkrieges war mein Vater rumänischer Soldat. Als aus dem Raum Bistritz stammender Nordsiebenbürger wurde er aber nach dem 2. Wiener Schiedsspruch 1940 ungarischer Soldat. Weil der Waffen-SS in den weiteren Kriegsjahren die Soldaten ausgingen, wurden, wie Kurt Binder auch berichtet, die sog. „Volkdeutschen“ ab 1943 in die Waffen-SS eingezogen. Dadurch mußte mein Vater ein zweites Mal die Uniform wechseln und so wurde er ab dieser Zeit Soldat in der deutschen Truppe. Weil es nun bei der Waffen-SS üblich war, daß ihre Soldaten die Blutgruppe i.d.R. im linken Oberarm eintätowiert bekamen, sollte sich dieses „Zeichen“ auch mein Vater noch nachträglich während eines Truppenaufenthaltes in Wien von einem Arzt verabreichen lassen. Mein Vater suchte befehlsgemäß den vorgegebenen Arzt in seiner Praxis auf. Vermutlich durch die in dieser Zeit schon auch in Wien vorherrschenden Kriegswirren, die Bombardierung Wiens hatte auch schon begonnen, traf er aber den Arzt nicht an und die Feststellung der Blutgruppe und ihre Tätowierung konnte nicht erfolgen. Weil seine Einheit Wien auch wieder schnellstens verlassen mußte, kam es auch in der Folge nicht mehr zu dieser „Kennzeichnung“ als Mitglied der Waffen-SS. Welche gnädige Fügung das für ihn sein sollte ergab sich am Ende des Krieges. In der Nähe von Linz kam er in US-amerikanische Gefangenschaft. Die deutschen Kriegsgefangenen mußten sich dabei einem besonderen Auswahlverfahren unterziehen. Befreite KZ-Häftlinge sortierten unter dem Schutz von US-Soldaten die deutschen Soldaten so aus, in dem sie die an ihnen vorbeidefilierenden Soldaten die Arme hochheben ließen. Erkannten sie dann an einem Oberarm die Blutgruppentätowierung, wurde dieser mit Schlägen und Fußtritten auf die eine Seite geschickt. Soldaten ohne dieses „Mal“ auf die andere Seite. Diese Auswahl hatte einen tragischen, weil in den meisten Fällen tödlichen Ausgang zur Folge. Die als SS-Angehörige identifizierten Soldaten wurden von der US-Armee an die Russen überstellt und kamen in russische Kriegsgefangenschaft. Das kam, wie die Geschichte dann lehrte, einem Todesurteil gleich. Durch die fehlende Tätowierung bei meinem Vater wurde er in die US-amerikanische Kriegsgefangenschaft überführt. „Kleine Ursache – große Wirkung“ – ein fehlender Buchstabe hatte ihm wahrscheinlich sein Leben gerettet, in jedem Fall aber vor einem schweren Schicksal bewahrt. So konnte er 1946 seine in der Zwischenzeit aus Nordsiebenbürgen geflüchteten Eltern und seinen Großvater in Mittelfranken wieder in die Arme schließen. Ein Grund zum Danken – ja, leider kein Grund zur Freude. Neben dem Verlust von Heimat, Haus und Hof mußte er auch noch den Tod seines jüngeren Bruders bewältigen. Ihm war das Schicksal nicht so hold – er war noch im Februar 1945 an der Westfront in Frankreich gefallen.

Kurt Binder
schrieb am 06.08.2023, 11:54 Uhr
Es mag zynisch anmuten, dass dieses dramatische Erlebnis aus meiner Kindheit einen Titel trägt, der uns heute irgendwie bekannt vorkommt.

„Die Russen kommen!“

Es war Anfang September 1944. Die Sowjetarmee rückte von Osten her immer näher. Das war weitaus beängstigender als der Vormarsch der Alliierten aus dem Westen, weil den Russen manche Schauergeschichten vorauseilten, die auch unter der rumänischen Bevölkerung nicht gerade Euphorie über die neuen Freunde und Befreier auslösten. Diesen Eindruck hatte ich zumindest, als Mama sich in diesen Tagen öfters mit unsren Nachbarinnen im Hof - Frau Cîmpeanu, Frau Pop oder Frau Stancu über die bevorstehende Begegnung mit den Russen angeregt und ratsuchend unterhielt. Was hatte sie schon als Frau eines Mannes zu erwarten, der in diesem Augenblick in der Waffen-SS gegen die Ehemänner der Frauen kämpfte - mit denen sie sich gerade unterhielt?
Am 7. September marschierten die ersten russischen Soldaten in einen Vorort von Hermannstadt ein, und bald schon kursierten unter unseren sächsischen Bekannten die wildesten Gerüchte darüber. Wir hatten furchtbare Angst. Zu Mittag kam unser Ernstonkel zu uns. Er war gerade von einer Gebirgswanderung zurückgekommen und hatte noch die mit Maisköpfen und scharfen Randnägeln benagelten Wanderschuhe, die Goiserer an. Er beruhigte uns, zeigte uns seine schweren Gebirgsschuhe und versicherte uns, dass er mit ihnen die Russen in den Hintern treten und in die Flucht schlagen würde. Da waren wir sehr erleichtert.
Am 8. September - meine Mutter war für alle Fälle zu Hause geblieben, wurde das Hoftor aufgestoßen. Ein uns unbekannter Mann in einer schwarzen Lederjacke trat herein, und hinter ihm zwei wild aussehende, mit Gewehren bewaffnete Soldaten. Es waren die ersten russischen Soldaten, die wir zu Gesicht bekamen. Und es sollten leider nicht die letzten sein!
Sie sahen sich im Hof um, gingen zu Frau Pop, die uns gegenüber wohnte, und klopften an ihre Tür. Sie öffnete einen Spalt, und wir sahen, wie sie nach kurzer Diskussion zu uns herüber deutete. Die drei kamen zügig herbei und der Mann in Zivil schlug mit der Faust an die Tür. Verwirrt öffnete meine Mutter und wollte etwas fragen. Doch er blaffte sie sofort an:
„Sind Sie Deutsche?“ Mama bejahte zögernd.
„Ist Ihr Mann zu Hause?“
„Nein, er ist an der Front.“ Zum Glück hatte er sie nicht gefragt, in welcher Armee mein Vater diente, aber wahrscheinlich wusste er es bereits.
„Diese beiden tapferen Männer, die ihr Leben riskieren, um unser Land von eurem Faschismus zu befreien, werden ein paar Tage bei Ihnen wohnen. Zeigen Sie ihnen ihr Zimmer!“ Er hatte gar nicht gefragt, ob wir ein freies Zimmer hätten. Die beiden Soldaten waren sehr jung, unrasiert, und wirkten müde und abgewrackt. Hinter den von uns bewohnten Zimmern befand sich noch ein kleineres, in dem früher meine Großmutter gewohnt hatte. Der Zivilist sah sich kurz um, dann winkte er die beiden Soldaten herein. Sie warfen ihr Gepäck auf den Boden und stellten ihre Gewehre an die Wand. Der Mann erklärte meiner Mutter, dass sie die beiden für die Zeit, in der sie hier wohnen würden, auch verpflegen müsse. Das war ein Schock, denn wir hatten kaum für uns genug zu essen. Dann ging er.
Die Soldaten rochen sehr streng - genau gesagt stanken sie nach Schweiß, Schnaps und Tabakrauch. Meine Mutter stand unschlüssig im Türrahmen, als einer von ihnen eine Handbewegung machte, sie solle doch hinausgehen. Bevor sie die Türe schloss, sahen wir noch, wie sie sich in voller Uniform auf das Bett warfen, und wahrscheinlich sofort einschliefen, denn gleich darauf hörten wir sie mordsmäßig schnarchen.
Wir hatten neun Mal Russen im Quartier, bis wir von der Neustift in eine Wohnung in der Salzgasse umzogen, deren Eingang gut getarnt hinter einem Schopfen lag. Hier haben wir die gefährlichsten Jahre glimpflich überstanden. Später sind wir in die Elisabethgasse umgezogen, in zwei Räume, in denen früher das Büro der kleinen Fabrik für Papierartikel meines Vaters war. Sie ging im März 1946 im Zuge der Enteignung in den „rechtmäßigen Besitz des Volkes“ über, durch dessen „Ausbeutung“ mein Vater sie ja überhaupt gründen konnte!


Auszug aus „Unter Roten Wolken“ – gekürzt und überarbeitet. Titel original wie im Buch.
Kurt Binder
schrieb am 12.08.2023, 09:25 Uhr
Lange ist's her ...

Kreisgespräch
Originaktext (1965)

„Emmi, hast du vielleicht meine Halbschuhe gesehen?“
“Deine – Halbschuhe?“
“Ja, meine Halbschuhe!“
“Welche Halbschuhe meinst du denn, Egon?“
“Die braunen, Enni!“
“Die braunen, welche ich vorige Woche zum Schuster in die Coperativă getragen habe?“
“Du hast meine braunen Halbschuhe vorige Woche zum Schuster getragen?“
“Ja, Egon!“
“Waren sie denn kaputt?“
“Ja, total kaputt!“
“Und nun sind sie fertig repariert?“
“Ja, Egon, ganz fertig repariert!“
“Hast du sie auch schon abgeholt?“
„Nein, Egon, ich hab sie nicht abgeholt!“
„Schön – dann geh ich sie jetzt abholen!“
„Auch du kannst sie nicht abholen gehen, Egon!“
“Warum kann ich sie nicht abholen gehen, Emmi?“
“Weil sie schon abgeholt sind!“
“Aber – du sagtest doch, dass du sie nicht abgeholt hast!“
“Ich hab sie auch nicht abgeholt!“
“Wer hat sie dann abgeholt, Emmi?“
“Die Maio!“
“Welche Maio?“
“Dem Klempner Getz seiner Schwiegermutter ihre Nichte!“
“Die Schwiegermutter vom Klempner Getz hat eine Nichte?“
“Ja, die was ein Kind mit dem alten Lienerth seinem Enkel hat!“
“Der alte Lienerth hat einen Enkel?“
“Ja, aber er hat sich dann aufgehenkt!“
„Wer - der Enkel?“
“Nein – der alte Lienerth, denn er konnte es von seiner dritten Frau nicht ertragen, dass sie ihn ... “
“Waas? Der alte Lienerth war dreimal verheiratet?“
“Ja, Emmi, denn seine zweite Frau hatte ein Geschwür an der Niere, und man hat sie operiert und in Spiritus getan!“
“Seine zweite Frau?“
“Nein – das Geschwür, weil die Assistenzärztin Interesse an komischen Gewächsen hatte!“
“Welche Assitenzärztin?“
“Na, der ihr Verlobter vor zwei Wochen einen FIAT beim Pronosport gewonnen hat!“
“Die Assistenzärztin ist also verlobt? Mit wem denn?“
“Mit dem Willi - kannst du dich nicht an ihn erinnern?“
“Aber ja doch, Emmi – der Willi, der konnte am weitesten spucken, und so laut wie ein Nilpferd rülpsen!“
“Richtig, Egon!“
“Wie hieß der doch gleich – Willi ...?“
„Willi Schuster, Egon!“
„Ach ja, genau! Apropos Schuster - hast du meine braunen Halbschuhe also nicht gesehen, Emmi?“
“Nein, Egon, ich hab sie nicht gesehen!“
Kurt Binder
schrieb am 03.09.2023, 11:13 Uhr
Costică

Er war der Inbegriff des qualifizierten Schlaumeiers schlechthin – und er war im Jahre 1969 mein Kommilitone an der „Sorbonne“ in Klausenburg, wie das dreijährige pädagogische Institut für Lehrer in Anlehnung an die Pariser Universität scherzhaft genannt wurde.
Costică, jederzeit zu jeder Schandtat bereit, konnte einem frech ins Gesicht lachen, oder aber mit Mitleid erregender Miene seine Unschuld glaubwürdig beteuern. Dies hatte ihm den Spitznamen „Costică, șmecherașul“ eingebracht.
Nun gab es unter andern*innen auch einen Dozenten namens Popescu, der als einziger Besucher der Sorbonne – ein Auto besaß! Sein Renault 10, der im Hof vor dem Gebäude stand, war damals ein wahrer Blickfang für die vielen Neider, die keins besaßen. Der Genosse Professor Popescu vergötterte sein Gefährt in einer Weise, die uns immer wieder amüsierte. In jeder Pause kam er in den Hof, umkreiste den verschüchterten Kleinwagen vorsichtig, und streichelte ihn verstohlen. Recht widersprüchlich zu seinem abgöttischen Verehrungs-Kult, der durch die Streicheleinheiten eine erotische Dimension annahm, erschien uns, dass das Autochen total verdreckt war - von fingerdickem Staub bedeckt. Popescu, der uns immer wieder zu gebührendem Abstand zu seinem Schmuckstück mahnte, erklärte uns, dass er den Staub nicht abwischen könne, weil das dem Lack bekratzen würde.
Eines Tages, in der großen Pause stürzte Costică in die Klasse und rief aufgeregt:
“Hallo, Mädels – kommt mal schnell in den Hof – Popică hat sein Auto blitzblank gewaschen!“ Schon eine Minute später sollte sich klären, warum er nur unsre Mädchen angesprochen hatte. Das Auto war nach wie vor verstaubt, doch hatte jemand mit dem Finger etwas unerhörliches hineingeschrieben!
In großen, kalligraphisch sorgfältig aufrecht ausgerichteten Buchstaben prangte gut lesbar auf der linken Tür der in Rumänien allgemeingültige, überall verständliche Ausdruck, mittels dessen heute noch traditionsbewusst und ehrfürchtig – der heimliche Stolz aller Männer apostrophiert wird!
Die Reaktionen des Publikums fielen sehr unterschiedlich aus. Während die Jungs vor Begeisterung sich halb totlachten, glühte der Hof von der Schamröte unsrer Mädels. Popescu aber stand schreckensbleich an einen Baum gelehnt, und brabbelte weißen Antlitzes nur vor sich hin. Es war nicht erhörbar, ob es ihm um das gewisse Wort ging, oder um den Lack.

Ich habe erst Jahrzehnte später im Fernsehen erfahren, dass in diesem obzönen Fall noch lange ermittelt – und dieser erst vorgestern abgeschlossen wurde. Dem Inkulpaten konnte die Tat nicht nachgewiesen werden, da Fingerabdrücke auf staubigem Lack nicht sichtbar gemacht werden konnten. Zwei Generationen später wurde dann Inspektor Barnaby damit beauftragt, den die Komplexität der Sache aber derart überforderte, dass er von Komplexen erschlagen seinen Job kündigte. Und da sowohl der mutmaßliche Hauptschuldige, als auch die meisten der in Frage kommenden Missetäter verstorben waren, entschieden sich die Richter für die Unschuldsvermutung „In dubio pro Costică“, der post mortem sofort rehabilitiert wurde.
Wie ich schon erwähnt habe, wurde der Fall also abgeschlossen, wonach Rudi Cerne die Akte pflichtbewusst lächelnd in dem Ordner „XY – ungelöst“ abheftete.
Kurt Binder
schrieb am 06.10.2023, 11:22 Uhr (am 06.10.2023, 11:24 Uhr geändert).
Bevor das Alte Haus zusammenkracht, und alle Brücken in unsrer Vergangenheit einstürzen – hier die Antwort auf eine stumme Frage: Was ist -

Jakalebesch

Es war in der unmittelbaren Nachkriegszeit, und die Lebensmittel in Rumänien waren oft mehr als knapp. Trotzdem gelang es unsrer Mutter gelegentlich, ein Stück Schweinefleisch aufzutreiben, und das wurde meistens als Wiener Schnitzel zubereitet. Nun besteht ja ein echtes Wiener Schnitzel aus Kalbfleisch, aber in jenen Jahren war uns das Fleisch Wurscht, denn die Hauptsache war die Panier. Meine Mutter verwendete nämlich nicht die übliche Panade aus Ei gemischt mit Semmelbröseln, sondern sie unterteilte den Bekleidungsvorgang des splitternackten Schnitzels in drei Phasen: bemehlen, beeien und bebröseln.
Diese Prozedur hatte aber in der Endphase ihre Tücken. Wenn das letzte Schnitzel paniert war, blieb jedes Mal ein Rest von Ei, Bröseln oder Mehl im jeweiligen Teller übrig. Darob war unsre Mutter aber nicht verlegen. Sie mischte zu diesen Übrigbleibseln etwas Milch, würzte den unansehlichen Brei mit Salz und Pfeffer, fügte etwas Backpulver hinzu und backte daraus niedliche, runde, knusperbraune Plätzchen.
Der Erfolg war durchschlagend. Nachdem wir nach den Schnitzeln (mit Püree und Preiselbeeren) diese leckeren Dinger aufgegessen hatten, erkundigten wir uns gleich - meine Geschwister und ich, was das war. Ja, wie heißt denn wohl so ein aus Resten gepantschtes Dingsda?
„Ja, also, die heißen ... die heißen einfach ... Jakalebesch, ja, so heißen sie: Jakalebesch - eine türkische Nachtischspezialität!“ Somit war das Ergebnis liebevoller Resteverwertung getauft, hatte seine Identität weg und nahm ab sofort einen Ehrenplatz in unsrem Speiseplan ein. Woher meine Mutter diesen Namen hatte, wurde nie geklärt.
30 Jahre später. Ich war inzwischen mit Erika verheiratet, und wir hatten im Zuge des heute etwas spießig erscheinenden Bestrebens, den Bestand zu sichern, die Nachwelt mit vier Töchtern veredelt. Auch waren wir inzwischen in die Bundesrepublik ausgereist. Da man im allgemeinen gewisse Gewohnheiten aus der Vergangenheit unbedarft in die Ehe mitbringt, und ich als Hobbykoch in der Küche keine schlechte Figur abgab, panierte ich eines Sonntags, in memoriam an das damalige Feiertagsessen in Hermannstadt, Wiener Schnitzel.
Natürlich blieb traditionsgemäß auch mir in mindestens zwei Tellern etwas übrig. Also goss ich ein Tässchen Milch hinzu, salzte und pfefferte, und unter dem Zwang eines offensichtlich tief in mir schlummernden gastronomischen Genies streute ich frisches Petersilienlaub darüber, rieb ein Stückchen Hartkäse hinein, verrührte alles gut und bakte daraus niedliche, runde, knusperbraune Plätzchen.
Der Erfolg war auch diesmal durchschlagend. Ich stellte den Kindern mein kulinarisches Erstlingswerk gleich vor:
„Diese leckeren Plätzchen heißen Jakalebesch, und sind eine türkische Nachtischspezialität.“ So hatte ich, ohne es zu beabsichtigen, den gebackenen Beweis dafür geliefert, dass ein Generationssprung nicht immer mit Werteverlusten einhergeht. Kein Wunder, denn die Karriere dieser Plätzchen war ihnen seit ihrer Geburt auf den Teig geschrieben.
Als die Töchter nach einer Woche wieder nach panierten Schnitzeln riefen, dachte ich an nichts Böses und panierte, um Erika in der Hausarbeit zu entlasten, wieder selbst nach altem, hauseigenem Rezept gleich mehrere. In die in den Tellern verbliebenen Reste schlug ich diesmal noch ein Ei hinein, rieb Parmesankäse drüber, schnipselte eine Scheibe Schinken dazu und würzte mit Kümmel und Liebstöckel.
Der Gong rief zum Essen, vier Paar Beine rannten aus ihren Zimmern die Holztreppen herunter, die dazugehörigen Töchter setzten sich an den Tisch und griffen gleich zu - den Plätzchen.
Den Gesichtsausdruck des Kochs möchte ich lieber nicht beschreiben. Zwar knabberten sie anschließend auch an den Schnitzeln herum, aber zum ersten Mal blieb eins davon übrig. Wir analysierten mit Erika nachher dieses merkwürdige Phänomen, kamen aber nicht hinter sein Geheimnis.
Das sollte sich aber sehr bald lüften!

Teil 2 folgt morgen
Kurt Binder
schrieb am 07.10.2023, 07:08 Uhr
Jakalebesch 2

Zum nächsten Mal panierte ich ein Schnitzel weniger und gab das unpanierte, rohe unsrer Hündin Raika, die es mit dankbarem horizontalen Schweifwedeln verschlang. Die Restemischung verfeinerte ich zur Abwechslung mit etwas Hackfleisch, Basilikum und Rotwein. Ich verrate es gleich: Diesmal blieben zwei Schnitzel übrig. Dafür reichten die knusperbraunen Plätzchen nicht aus.
„Kannst du nicht noch mehr Jakalebesch backen?“, wurde ich ziemlich unmutig gefragt.
„Doch!“, wurde ziemlich mutig geantwortet. Und als am Wochenende wieder nach Wiener Schnitzeln gejammert wurde, bekam Raika gleich am Anfang sein rohes Schnitzel. In die verbliebene Backmischung wurden zwei Eier hineingeschlagen, ein Esslöffel Sahne, Weißwein, ein gemahlenes Seelachsfilet, sowie etwas Dill und Curry dazugetan, mit Haferflocken aufgerührt und daraus niedliche, runde, knusperbraune Plätzchen gebacken. Die resch panierten Schnitzel wurden nicht einmal angesehen.
Nun machten wir eine Pause von vier Tagen. Aber das wars auch schon, denn bald dröhnte wieder der Ruf nach Jakalebesch durch die Hallen.
Erika kaufte also beim Metzger sechs Schweineschnitzel. Zwei bekam Raika sofort, zwei wurden eingefroren und zwei panierte ich. Sie waren für Erika und mich vorgesehen. Dann wandte ich mich dem Hauptgang zu.
Heute ergänzte ich mit etwas gehackter Kalbsleber, geriebenen Möhren und Sellerie, Speckscheiben, in Butter gerösteten Weißbrotwürfeln, einem Päckchen Backpulver und einem halben Gläschen Jamaika-Rum. Weil daraus etwas viel Masse geworden war, fertigte ich nicht mehr einzelne, kleine Plätzchen, sondern fettete eine Backform ein, streute Semmelbrösel an die Wände (der Backform!), füllte den Teig hinein und backte ihn im vorgeheizten Rohr des Umluftherdes bei 180 Grad auf mittlerer Stufe eine Stunde lang.
Die Erfolge wurden immer durchschlagender. Sogar Raika freute sich jedes Mal, wenn sie von Jakalebesch hörte. Zwar bekam sie selbst nie einen Bissen davon, weil nie ein Bissen übrig blieb. Aber wenn eines der Kinder „Jakalebesch“ rief, was sie zum Spaß immer öfters taten, assoziierte sie sofort dieses komische Wort mit mindestens drei Schweineschnitzeln, der bedingte pawlowsche Reflex setzte sofort ein - und Raika sprang die Wände hoch.
Eines Tages luden wir Freunde zum Abendbrot ein. Nach langen Erwägungen, womit wir die verwöhnten Gaumen unserer Gäste erfreuen könnten, rieten die Kinder zu Jakalebsch. Die Hündin, die mittlerweile dick und fett geworden war, sprang nur noch bis zur Türklinke.
Dann verlief alles wie gehabt, nur dass Erika diesmal zwölf Schnitzel kaufte und Raika das panierte nach den zehn rohen nicht mehr intus kriegte. Unsre Gäste aber hauten schamlos hinein.
„Warum isst Kurt nicht auch von diesem köstlichen Auflauf?“, erkundigte sich Gerlinde. Die Familie hörte auf zu mampfen und sah die Fragerin verständnislos an. Dann erklärten die Kinder der ungebildeten Tante, dass das nicht möglich sei, weil Paps doch das panierte Schnitzel essen müsse.
„Und warum müsst ihr Schnitzel panieren, wenn ihr Jakalebesch backt?“, stellte Ernst, ihr Ehemann, die zweite doofe Frage. Großmütig wurde auch er aufgeklärt: Damit Panierreste bleiben! Woraus sonst sollte man Jakalebesch machen?
„Jaa - könnt ihr denn nicht direkt mit Mehl, Eiern und Bröseln beginnen, ohne so viele Schnitzel zu verschleißen?“
Zugegeben - daran hatten wir eigentlich noch nie gedacht. Im Zuge der Tradition und im Banne des schöpferischen Erneuerungsgeistes hatten wir die Widersinnigkeit des Ursprungs einfach außer Acht gelassen. Jedenfalls wurde durch diese letzte Masterfrage das Ende meiner Kreationen eingeläutet. Raika konnte zwar nach einigen Wochen wieder springen, hatte jedoch seit jenem Abend keinen Anlass mehr dazu.

Ach ja – und was war nun das Geheimnis, warum die Kinder nur Jakalebesch, und keine Schnitzel mehr essen wollten?
Weil ihnen Jakalebesch eben besser geschmeckt hat ;-))) !


Kurt Binder
schrieb am 31.10.2023, 10:52 Uhr
Die Alexander-Saga Teil 1/2
Wie ein Knoten zur Metapher wurde

Alexander der Große, der bekannte König von Makedonien ritt einmal, als er noch sehr jung und nicht so Groß war nach einem lucullischen Frühstück pumpelsatt über die Fluren und durch die Auen, und sang frech-fröhlich in die aufgehende Morgensonne hinein:
“Es geht eine Zipfelmütz’ in unsrem Kreis herum...!“ Gerade wollte er mit „Alle Vögel sind schon da ...“ fortfahren, bzw. fortreiten, als er urplötzlich vor einer Felsgrotte stand, bzw. saß. Vor derselbigen rollte ein meterdickes Knäuel aus hunderten total verhedderten, verwobenen, versponnenen, verknüpften, verwickelten, verschlungenen und ineinander verbissenen Schlangen, welches mit sich selbst Fußball spielte. In der Grotte aber saß eine Schöne Königstochter, und die bließ Trübsal, und zwar so kräftig, dass dem Alex die Zipfelmütze vom Kopf bis in den Kreml flog. Und siehe da – es sprach das Schlangenknäuel zu ihm – also sprach das Knäuel:
“He, du da – der du da unsre Nationalhymne so cool zweistimmig geträllert hast – könntest du uns eventuell voneinander lösen? Wir sind es leid, mit uns Fußball zu spielen, und von den Kleineren in uns da drinnen müssen einige dringend aufs Klo!“ Alex dachte kurz nach.
“Und - was springt dabei für mich heraus?“, fragte er dann in seinem unwiderstehlichen süd-west-makedonischen Akzent, schon damals auf Gewinn bedacht. Der Fußball dachte kurz nach.
“Dann kannst die Schöne Königstochter samt ihrer Trübsal nehmen und wandeln!“ Alex dachte zum zweiten Mal noch kürzer nach, und fragte:
“Und – wie heißt diese Schöne Königstochter?“
“Na - Schöne Königstochter!“, zischte das ganze Knäuel ungehalten im unisono. „Wie sonst?“ Natürlich – wie sonst? Alex umrundete also das Knäuel, und betrachtete es aufmerksam aus allen Himmelsrichtungen – keine Chance, es zu lösen. Und unter dem Impuls einer spontanen Intuition aus der nahen Zukunft zog er sein Schweizer Messer aus der Tasche, suchte eine geeignete Klinge – als ihm einfiel, dass es ja noch kein Schweizer Messer gab. Also steckte er es wieder ein, und zog sein doppelschneidiges Schwert aus der Westentasche, die er immer bei sich trug, holte aus – und erstarrte.
Aus dem Äther der ferneren Zukunft drangen nämlich die entrüsteten Protestschreie der Tierschützer, vor seinem geistigen Auge sah er einige Millionen Zeigefinger, die mit drohendem „Na, Na ... “ hin und hergeschwenkt wurden, und eine unsichtbare Stimme erklärte ihm, dass Schlangen ja auch nur Menschen sein. Außerdem würde man für einen Gewaltakt der beabsichtigten Größenordnung aus Alexander dem Großen sofort einen Alexander den Kleineren machen, nämlich genau um die Größe seines Hauptes – kapiert?
Nolens volens begann der Alex also den Fußball zu entknoten, entband Schlange für Schlänglein, Boa für Viper usw. aus ihrem verschlängelten Leibergeflecht - doch das wollte und wollte einfach nicht kleiner werden.

Teil 2 folgt morgen
Kurt Binder
schrieb am 01.11.2023, 09:07 Uhr
Die Alexander-Saga Teil 2/2
Wie ein Knoten zur Metapher wurde

Die Jahre vergingen, die Schöne Königstochter wurde langsam – na ja, eben so, wie manche Frauen es nicht gerne zugeben, und blies auf ihrer Trübsal schon seit langem den Schlager „Verliebt, verlobt, verheiratet“ – den Conny Froboess mehr als 2000 Jahre später, 1963 ebenfalls hoffnungsvoll ihrem Alexander zwitschern sollte.
Und da packte Alexander den Großen eine Stinkwut, die später nach ihm benannt wurde. Oh nein – nicht Alexander-Wut, sondern Große Wut. Und wieder vernahm er die unsichtbare Stimme, die also orderte:
“Alex, mein Junge, mach die Fliege und eil sofort nach Gordium in Phrygien; dort wirst du die Lösung deines unlösbaren Problems finden!“
Und er tat, wie ihm geheißen ward. Er ließ das Knäuel sich weiter fußballern, packte die Oma Schöne Königstochter an der Trübsal, und flog zurück in seine ihm angestammten Gefilde. Hier stellte er sie für ein Butterbrot als seine Haushälterin auf Lebzeiten ein. Dann marschierte er 333 a. Chr. natum, den weiteren Ordern der Stimme folgend in die Stadt Gordium, direkt in den Jupiter-Tempel – und stand verdattert vor der ziemlich ungelösten Lösung seines Problems:
Ein riesiger Knoten, gegen den der Schlangen-Fußball, besonders auch als BIO-Produkt der reinste Erholungsurlaub war, bot sich hier in ungeschminkter Nacktheit seinen resignierenden Blicken. Er bestand aus Stricken, Seilen, Spagaten, Zwirnen, Schuhbandeln, Zahnseiden, Bindfaden und anderem mehr, was nur irgendwie zum Knüpfen, Fesseln oder Aufhängen geeignet schien. Und alles war hier zu einer derart kompakten Kugel zusammengepeppt, die wie ein gigantischer Brotknödel einfach nur da lag und faulenzte.
“Scheibenkleister“, dachte Alexander genervt (auf makedonisch, um das Feingefühl unsrer Leser nicht zu verletzen), „irgendwann hat jeder Spass ein Ende!“ Dann zog er, der weltweiten Importanz des unmittelbar darauf folgen sollenden Augenblicks sein doppelschneidiges Schwert aus der Westentasche, und prüfte mit dem rechten Daumen für alle Fälle noch einmal dessen Schärfe. Da er aber zu jenem Zeitpunkt Salomons Weisheit noch nicht erlangt hatte, prüfte er mit Inbrunst so lange, bis er den Daumen mit Erfolg abgeprüft hatte.
Zum unsagbaren Glück für die Menschheit war der Alex aber Linkshänder, so dass dem nun folgenden, geschichtlich verbrieftem Ritual nichts mehr im Wege stand.
So holte er mit der linken ungeprüften Hand hoch aus, und hieb den Brotknödel mit einem einzigen Hieb in vier Teile, dass die Fasern nur so stoben und sich wie ein Omen verheißungsvoll über den gesamten Globus gleichförmig verteilten.
Wieder zu Hause angekommen, ließ Alexander seinen ‚schneidigen’ Hieb zur brachialen Lösung einer scheinbar unlösbaren Aufgabe sofort patentieren.
„Gordische Knoten“ aber, die als Metapher in unsre Moderne immigriert sind, sollen angeblich heute noch, um komplizierte Projekte zeitnah, und vor allem kostengünstig umzusetzen, vielfach nach Art Alexander des Großen gelöst werden.
Das kann ich allerdings einfach nicht glauben!

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