Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Kurt Binder
schrieb am 22.03.2022, 08:22 Uhr
Altes Haus – alte Sprichwörter (7)

Müßiggang ist aller Laster Anfang

Müsligang ist aller Faster Ende!

Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein

Mit Ausnahme der Totengräber!

Ein Auge auf etwas werfen

Das hat ein Einäugiger wohl falsch verstanden!

„Aller guten Dinge sind drei!",
sagte der frischgebackene Vater vorwurfsvoll zu seiner Frau, als sie ihm stolz – die Zwillinge präsentierte..

Alter vor Schönheit

“He, was soll das!“, protestiert da ein 100-jähriger. „Das sind doch keine Alternativen!"

Die Katze läßt das Mausen nicht

Es sei denn, Frauchen verleidet ihr die BIO-Kost mit Sheba, Whiskas oder Kitekat!

Geben ist seliger denn Nehmen (Lutherbibel 1912)

Da sind die Boxer anderer Meinung!
Kurt Binder
schrieb am 27.03.2022, 09:24 Uhr
Altes Haus – alte Sprichwörter (8)

Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wer
t
Erinnert mich bitte daran, wenn der Euro vom Taler abgelöst wird!

Lügen haben kurze Beine

Die können aber auch sehr schön sein!

Das Auge isst mit

Von wegen – dann würde es nicht schom beim kleinsten Krümel losheulen!

Auf dem Schlauch stehen

Ist nicht schlimm - es sei denn es passiert einem Feuerwehrmann beim Löschen!

Humor ist, wenn man trotzdem lacht

„Ha Ha!“ – war das trotzdem genug?

Ein gebranntes Kind scheut das Feuer

Hauptsache, die Mititeis scheuen den Grill nicht!

Was Hänschen nicht lernt, büffelt Hans in der Abendschule!
Kurt Binder
schrieb am 04.04.2022, 09:02 Uhr
Altes Haus - alte Sprichwörter (9)

Alte Liebe rostet nicht

Sie kann aber sehr schnell welken!

Jung gefreit hat
– oft gereut

In der Ruhe liegt die Kraft

Stimmt – bloß ruht sie manchmal viel zu lange!

Nach der Schlacht gibts viele Helden

Leider sind die meisten tot!

Es ist nichts so fein gesponnen – es kommt doch ans Licht der Sonnen

“Au fein“, denkt der nächtliche Einbrecher, „dann hab ich ja bis zum Sonnenaufgang noch genügend Zeit, um zu verduften!“

Der Appetit kommt mit dem Essen

Nun, das kommt ganz auf das Essen an!

Das Haar in der Suppe finden

ist immer noch besser, als die ganze Perücke!
Kurt Binder
schrieb am 10.04.2022, 08:31 Uhr
Altes Haus – alte Sprichwörter / Redensarten (10)

Es heißt, dass der größte Sieg der Sieg über sich selbst sei
Ich habs probiert - und hab tatsächlich nach hartem Zweikampf gewonnen!

Alles was Flügel hat, fliegt
Das bezieht sich nicht auf Lungenflügel und Nasenflügel!

Der Zweck heiligt die Mittel

Wieso hat man dann noch niemanden sagen gehött: „Ach, du heiliges Mittel"?

Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters

Das bedeutet nicht, dass der Betrachter schöne Augen hat!

Dem ist eine Laus über die Leber gelaufen

Da hat er aber Glück gehabt, dass es keine Tarantel war!

Jemanden um den kleinen Finger wickeln

Da würde ich gerne zusehen, wie Heidi Klum einen japanischen Sumö-Kämpfer um ihr Fingerchen wickelt – eine abendfüllende Show mit Rekord-Potential!
Kurt Binder
schrieb am 18.04.2022, 08:15 Uhr
“Altes Haus“ - junge Visionen

Ich sah das Leben -
und es war wunderschön.

Wenn mir das Alter auch gebietet,
manches zu erdulden -
den ehrwürdigen Winter auf meinem Haupt,
die sich stetig trübende Wahrnehmung
und die Ermüdung der Beine
meinen Gang verunsichert,
Erinnerungen löscht,
welche mir lieb waren,
und dennoch keine düsteren,
hämisch grinsende Gedanken keimen läßt,
dann weitet sich willig meine Seele -
öffnet sich durstig der späten Saat.

Ich sehe das Leben -
und es ist wunderschön!
Kurt Binder
schrieb am 27.04.2022, 11:42 Uhr
Rühri rühri. Reindili*
Eine anrührende Geschichte

Was ein guter Hermannstädter ist, weiß auch, was Käskletitten sind. Ein Jemand wollte mir einmal weismachen, dass man sie gehoben „Pfannkuchen“ nennt, aber das klang mir zu gebildet, und außerdem würden die auch nicht so gut schmecken wie unsre Kletitten.
Eines Tages verspürte ich einen wahren Heißhunger auf diese in der Bratpfanne gebackene Köstlichkeit. Und da ich keinen Grund sah, diesem Gelüste nicht errötend nachzugeben, holte ich aus allen Ecken, Regalen und Kammern meiner Küche die dazu rezeptlich verschriebenen Zutaten hervor, wo da wären Mehl, Eier, Milch, Salz, Zucker, Backpulver, sowie das, was ich eventuell vergessen hab.
Diese ordnete ich im Halbkreis um die vorsorglich schon vorher hingestellte Kletitten-Teig-Rühr-Schüssel auf dem Tisch an. Da aber mein Mixer kaput ist, war ich gezwungen, diese zweite Phase im Werdegang der Kletitte mit Hilfe des uralten, mit ranzigem Fett dauerhaft imprägnierten und nach verbrannten Zwiebeln duftenden schwarz-braunen Kochlöffels vorzunehmen, mit dem schon meine Urahnen nachweislich Kletittenteig angerührt hatten.
Obwohl mich der Hunger beinahe auffraß, zelebrierte ich sorgfältig und mit Andacht den weiteren Verlauf dieser anspruchsvollen kulinarischen Konstruktion.
Ich brachte also erst das Mehl, und dann nach und nach alle anderen Zutaten ein, und ließ den Kochlöffel mit sorgfältig kreisenden Pirouetten seine angestammte Pflicht tun.
Währenddessen kreisten auch meine Gedanken quer durch mein bewegtes Leben, und ich dachte an meine Mutter und ihre Kochkünste. Auch Tante Frieda und Onkel Jonathan fielen mir ein, wie sie gemeinsam Kletitten gebacken hatten. Ihre geschlechtsspezifische Arbeitsteilung war beispielhaft. Tante Frieda rührte verklärten Antlitzes rührselig den Teig an, und Onkel Jonathan schwutzte mit dem Suppenschöpfer den gerührten Teig in die heiße Bratpfanne. Hier ließ er die eine Seite gewissenhaft anbrennen, wonach er die Halb-Kletitte mit wild entschlossenem Gesichtsausdruck über dem Schnurrbart im stolzen Bewusstsein seiner 80-jährigen Manneskraft zum Zwecke ihrer Wendung durch die Luft wirbeln ließ. In der Regel landeten diese halbgaren, noch ziemlich klintschigen Dinger dann entweder auf der Kredenz, auf seiner Glatze, oder blieben an der Decke kleben – klatschten aber niemals zurück in die Bratpfanne.
Zutiefst gerührt von diesen Erinnerungen legte ich eine kleine Rührpause ein, und schmunzelte in mich hinein. Dann rührte ich weiter. Doch plötzlich geschah es.
Tante Frieda und Onkel Jonathan verblassten, und als ich auf den Tisch sah – ja, da lagen alle Zutaten, sorgfältig im Halbkreis um die Rührschüssel angeordnet wieder da. Als ich mich von dem Schock erholt hatte, kam ich sofort drauf, wie sowas geschen konnte. Ich hatte nach der Rührpause leichtsinniger Weise - verkehrt herum gerührt, und so hatte sich der Teig wieder aufgerührt, und die Zutaten wieder in ihren Urzustand gebracht!
Die Folgen waren brutal. Als der gastronomische Gerichtshof davon erfuhr, musste ich eine Strafarbeit schreiben, nämlich 113 mal kalligraphisch, mit Tintenfass und Federkiel:
“Ich verpflichte mich, den Kletittenteig künftig an-, und nicht wieder aufzurühren, und dabei keinesfalls an Tante Frieda und Onkel Jonathan zu denken!“. Das Urteil war von 113 Fünf-Sterne-Köchen unterschrieben.
Jawohl, das habe ich bis heute konsequent eingehalten, und seither schmecken die Pfannkuchen viel besser – ach so, ich bin inzwischen in Deutschland und drücke mich gewählt aus, aber – es sei geflüstert - die Kletitten schmecken mir immer noch besser, mit Käs oder mit Topfen – pardon, mit Quark.


*Ich weiß nicht, ob Mama diesen Titel-Song für uns Kinder damals selbst kompomiert, und damit die Charts der mitkomponierenden und mitrührenden Jung-Mamas erfolgreich gestürmt hat. Das bleibt unser Familiengeheimnis!


Kurt Binder
schrieb am 20.05.2022, 11:35 Uhr
Sonnenblumen (Teil 1)
Eine surreale Begebenheit

Eine alte siebenbürgische Legende erzählt, dass vor vielen, vielen Jahren an der Mittleren Kokel ein Bergdörfchen namens Apfelbach gelegen haben soll, durch welches ein munteres Bächlein namens Apfelbach plätscherte. Man kann heute mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass auch der Name des Dörfchens davon herrührte. Das Bächlein mündete bald, vom Plätschern müde in die Mittlere Kokel, als wäre es nie dagewesen. Und doch rundete es mit seinem kristallklaren Wasser eine wunderschöne Idylle ab, welche diesem zwischen Birken, Pappeln und Weidenbüschen gelegenen, und von Meisen, Buchfinken und Amseln lobpreisten Winkel eigen war. Er lag derart still und verborgen da, so dass sich sogar einige Dorfbewohner regelmäßig verliefen, wenn sie mit ihren Einkäufen aus der nahe gelegenen Stadt nach Hause kamen.
Als wegweisender Pfad-Finder diente ihnen ein Patcharus, der den verirrten Dörflern gegen eine Handvoll Eicheln, Erdnüsse oder Sonnenblumenkerne gerne voranflatterte und sie, glücklich ob dieses steuerfreien Einkommens schnabelsicher durch das Dickicht ins traue Heim geleitete.
Am Rande dieses malerisch gelegenen Dörfchens soll ein älteres, biederes Ehepaar gewohnt haben, das in geschlechtsspezifischer Manier ihren, von der zeitgemäßen Rollenteilung gebotenen Tätigkeiten pflichtbewusst nachgekommen war.
Lisbeth kochte ihrem Traugott Mus und Mehl, und an Wochenenden, Feiertagen oder sonstigen Gelegenheiten zum Ruhen oder um sich auch mal einander ihrer selbst zu besinnen, gab es zur Abwechslung Bertramsuppe, Brotalawend oder Sauerkraut-Wickel mit Rahm – gehoben als Sarmale bekannt.
Um die kulinarische Wechselbeziehung im Gleichgewicht zu halten, hatte sich Traugott zwecks Selbstversorgung ausschließlich dem Anbau von Gemüse, Obst und Kräutern gewidmet. Das tierische Eiweis wurde den Beiden über die nicht selten darin wohnhaften niedlichen Würmchen, Schneckchen, Käferlein und sonstigem wohlschmeckenden Gekrabbel zugeführt. Zu deren Ehren sei erwähnt, dass sie zum leiblichen Wohlbefinden der Liebenden das Ende ihres irdischen Daseins selbstlos in Kauf nahmen, indem sie mit einem dem Schicksal ergebenen Lächeln auf den Lippen, die Gaumen befriedigend in die bedrohlich knurrenden Mägen sanken.
Doch eines Tages fiel Lisbeth an ihrem Traugott etwas sehr Sonderbares auf.

Fortsetzung folgt in Kürze.
Kurt Binder
schrieb am 23.05.2022, 08:33 Uhr
Sonnenblumen (Teil 2)

Es war Lisbeth nicht entgangen, dass Traugott nach und nach ein besonderes Interesse für Sonnenblumen zeigte. Obwohl keiner von beiden nach der Reife der riesigen Blüten deren Kerne knabberte, wie diese ja in Siebenbürgen per traditionem geröstet und gesalzen genossen wurden, pflegte Traugott mit mehr und mehr deutlich ersichtlicher Zuwendung die stolzen Sonnenanbeter - lateinisch Helianthus* annuus genannt. Man beachte hierbei die zwei ‚n’ und die zwei ‚u’, da sie ja ansonsten nicht Sonnenblumen heißen dürften. Und nach längerer Wahl mittels langem nervtötenden Betrachten, Schnuppern und Betasten entschloss er sich dann endlich für zwölf Prachtexemplare, welche er stolz seiner Lisbeth vorführte.
“Im Dutzend schöner!“, witzelte er, und zwickte sie liebevoll, wobei sie pflichtbewust errötete. Er deutete auf die erste in der Reihe.
“Und diese habe ich – Lisbeth genannt, obwohl sie bei Weitem nicht so schön ist wie du!“
“Ach, geh doch!“, winkte sie mit der üblichen Handbewegung und seitlichem Wegdrehen des Köpfchens verlegen lächelnd ab. „Du willst mir ja nur schmeicheln!“ Dann eilte sie in die Küche und bereitete das Mittagessesn vor – zur Abwechskung wiedermal Mus und Mehl. Und Traugott wandte sich seinen Lieblingen zu, lockerte die Erde um sie herum und düngte sie.
Da flog plötzlich eine Amsel heran und setzte sich auf seinen Kopf. Er wagte erst nicht, sich zu bewegen, doch dann holte er aus der Tasche ein paar Kerne hervor, die eigentlich für den Patcharus bestimmt waren, und hielt sie der Amsel hinauf. Die pickte ganz ungeniert alles auf, flötete einen kurzen Triller – und flog davon.
Traugotts Neugierde war geweckt, und am nächsten Tag stand er zur gleichen Stunde bei den Sonnenblumen, und wartete. Die Amsel flog pünktlich heran und setzte sich zutraulich auf seinen Kopf. pickte die Körner auf, trillerte und entflog.
Nun, diese Spielchen wiederholten sich mehrere Tage lang, und Traugott verbrachte immer mehr Zeit bei seinen Lieblingen. Er schien besessen von ihnen zu sein, was in Lisbeth bald ein Gefühl von Eifersucht weckte. Aber dann sagte sie sich, dass das ja nur Blumen seien, und ließ ihn gewähren.
Doch als Traugott eines Abends nicht mehr zurück ins Haus kam – da wurde ihr mulmig zumute.

*) von ‚Helios' – altgriechischer Sonnengott

Letzter Teil folgt in Kürze

Kurt Binder
schrieb am 25.05.2022, 15:48 Uhr
Sonnenblumen (Teil 3)

Lisbeth warf sich schnell eine selbst gestrickte Stola über die Schultern, und lief beunruhigt in den Garten hinaus. Es dämmerte bereits, als sie mit pochendem Herzen begann, alle nur möglichen Winkel in ihrem kleinen, naturbelassenen Paradies zu durchsuchen.
Besonders gründlich stöberte sie in dem Dickicht in der Nähe der zwölf Sonnenblumen. Hier hatte sich Traugott jedesmal besonders lange aufgehalten, gegossen, und die Riesenblumen sogar gestreichelt! Und einmal - es ist kein Witz - hatte er die Blume 'Lisbeth’ sogar umarmt, und längere Zeit an sich gedrückt!
Nun, Lisbeth durchsuchte akribisch den ganzen Garten, drehte herabgefallene Zweig um, schlich von Baum zu Baum und guckte dahinter, spähte auch in die Kronen hinauf, rief Traugotts Namen wieder und wieder, und versprach ihm eine extra Portion Mus und Mehl – wenn er nur wieder heimkäme. Doch der war und blieb verschwunden.
Es war genau Mitternacht, als sie todunglücklich mit der Suche aufhörte. Das fahle Licht des Neumondes hatte die dramatische Szenerie in eine gespenstische Atmosphäre gehüllt. Lisbeth zog die Stola enger um ihre Schultern, schaute sich noch einmal um, und wandte sich resigniert dem Haus zu.
Doch als sie an den Sonnenblumen vorbeikam – da drehte sich die dreizehnte langsam nach ihr um, so als würde sie Lisbeth nachschauen. Eine Amsel flatterte heran, setzte sich oben auf die Blüte, und äugte suchend nach allen Seiten. Dann flötete sie eine traurige Melodei – und flog in die Nacht hinein.


Epilog

Die Altvorderen behaupteten, dass seither bei jedem Neumond genau um Mitternacht, wenn an dieser Sonnenblume eine Frau mit Namen Lisbeth in einer selbstgestrickten Stola vorüberlief, die Sonnenblume sich nach ihr umgedreht und ihr nachgeschaut hatte!
Das konnte leider nicht belegt werden, weil seither keine weitere Frau namens Lisbeth in einer selbstgestrickten Stola bei Neumond genau um Mitternacht an einer im Dickicht gut versteckten Sonnenblume vorbeigelaufen ist.
Dass Unwahrscheinlichste aber wäre, dass sie in der Tasche rein zufällig auch eine Handvoll Kerne für den wegweisenden Patcharus dabeigehabt hätte!

Kurt Binder
schrieb am 01.06.2022, 10:02 Uhr
Der schläfrige Figaro

Der Gang zum Stutzer war für mich immer ein Leidensweg. Dabei scheute ich keineswegs die Operation selbst, sondern nur den vorangehenden Aufwand: Haare waschen, sauber anziehen, hingehen, warten usw. Denn obwohl der Laden in Hermannstadt von unsrem Haus in der Negoi-Straße nur um zwei Ecken lag, scheute ich dieses aufwendige Vorspiel zu meiner Verschönerung wie eine leere Klammer im Leben. Das Schlimmste aber war, dass ich zwei Tage vorher keinen Knoblauch essen durfte!
Die Vorgeschichte war immer die gleiche. Mein schütterer Skalp wucherte in die Länge, rings um das beachtliche Glätzchen am Hinterkopf ringelten sich die angegrauten Löckchen wie viel zu weich gekochte Spaghetti um Ohren und Nacken, und obwohl ich beinahe täglich das „Spieglein an der Wand“ befragte, vergingen oft noch Wochen, bis ich mich zu einem derart radikalen Eingriff in meine körperliche Integrität entschließen konnte.
Wenn mir hingegen meine Frau Erika unglaublich sanft über das Dach strich, und dabei Zitate wie „lange Haare, kurzer Verstand“ murmelte, war das allerdings viel wirkungsvoller als die tägliche, nervenzermürbende Konfrontation mit meinem virtuellen Ich.
Es war wieder einmal soweit. Der Mann im weißen Kittel fragte mich überflüssigerweise nach meinem Begehr. Tief beeindruckt von dem professionellen Schwung, mit dem er mir das schneeweiße Halstuch über die Schultern warf und es mir unter dem Adamsapfel zusammenknotete, sagte ich höflich:
„Haare schneiden, bitte - Normalschnitt.“
„Hab ich mir gleich gedacht“, nickte er mir heiter zu, „denn Sie sind frisch rasiert.“ Erschlagen von soviel Scharfsinn beugte ich ergeben meinen Nacken und wartete. Und wartete, denn der Mann zündete sich erst eine Zigarette an, und saugte, und paffte. Dann meinte er bedauernd:
„Ich bin leider notorischer Raucher.“
„Hab ich mir gleich gedacht“, nickte ich ihm heiter zu und hustete zweimal heftig.
„Ich hoffe doch, dass der Rauch Sie nicht stört?“
„Ich hoffe dasselbe“, pflichtete ich ihm bei. Nach dieser Parallelschaltung unserer gemeinsamen Hoffnung begann er. Er roch gut, der Mann im weißen Kittel: nach Rauch, billigem Rasierwasser und Schweiß - eine gelungene Mischung. Zum Glück überwog der beruflich bedingte Duftanteil, der mich als notorischen Nichtraucher weniger störte.
In meinem Nacken begann die Schere leise zu ticken, sehr leise, und der Kamm strich schmeichelnd durch die Haare. Es war ein sehr wohliges Gefühl das, eine Art Hypnotikum, und es kostete mich einige Mühe, wa ... wach zu bleiben, zu ... zumaaal - Verzeihung, ich musste kurz gähnen - zumal dieser Prozess des Eingelulltwerdens durch die Duftwolke des Mannes in dem weißen Kittel narkotisch beschleunigt wurde.
Die Schere genehmigte sich eine kleine Pause. Während dieser Pause erfuhr ich eine Menge wissenswerter Dinge über das Liebesleben der Marilyn Monroe, über den neuen Haarschnitt von Michael Jacksons Pudel, oder wie man seine Ex-Geliebte tiefgekühlt in nur dreizehn Blechdosen unbegrenzt aufbewahren kann.
Dann tickte es wieder, ermüdend und leise, so leise, dass ich glaubte, der Mann im weißen Kittel sei ein Opfer seiner eigenen Aura geworden. Seine Informationen wurden leider spärlicher, und ich wurde nach und nach in eine Art Dämmerzustand versetzt. Ich schwebte wie ein Geist zwischen den Dimensionen, und meine emotionalen Regungen gingen unter dem Eindruck dessen, was der Mann mir erzählte, in heftige Wallungen über.
Sein langjähriger Ischias rührte mich zu Tränen, das unerwartete Ableben seiner Ururgroßmutter väterlicherseits löste in mir einen Weinkrampf aus. Und als er mir gar von der Gemeinheit des aggressiven Kampfkaters seines dritten Nachbarn berichtete, kam ich aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Ich wurde von seinen alles umfassenden Mitteilungen förmlich hin und her und wieder zurückgerissen - die Schere leider weniger. Zwischen „ritsch“ und „ratsch“ schlichen müde Sekunden dahin, zwischen dem „ratsch“ und dem „ritsch“ stiegen Rauchkringel zur Decke. Oder es fielen Flugzeuge vom Himmel. Zu Boden - fiel leider nichts. Die Minuten dehnten sich zu Jahrhunderten. In solchen Situationen lernt man die Ewigkeit kennen. Amen!
„Ritsch“, sagte die Schere. Bis zum „Ratsch“ träumte ich von Leibgerichten und Magengeschwüren.
„Ratsch“, sagte die Schere. Schade, denn ich erwachte.
„Fertig“, sagte der Mann im weißen Kittel müde. Mit geübten Strichen bürstete er mir die Schnitthaare in den Nacken. Ich erhob mich gähnend aus dem Sessel und reckte meine steifen Glieder.
‚So gebet dem Friseur, was des Friseurs ist’, dachte ich, und legte ihm 6 Lei in die offene Hand.
„Das kostet 8 Lei“, meinte er auf einmal sehr lebhaft. Nanu, war dies das eben noch schlafwandelnde Informationsbüro von vorhin?
„Wieso denn 8 Lei?“, wehrte ich mich . „Haare schneiden, einfach, kostet nur 6 Lei!“
„Ohne Trinkgeld!“, klärte er mich auf. Das war doch die Höhe!
„Triink ... geeld? Bei Ihrem Tempo? Eher müsste ich einen Preisnachlass wegen meiner schütteren Haare bekommen!“ Weißkittel grinste überlegen und ergänzte höhnisch:
„Preisnachlass? Gut - dann denken wir doch mal bis zu Ende: Gerade wegen Ihrer schütteren Haare bekomme ich noch weitere 2 Lei - als Finderlohn! Macht zusammen 10 Lei!“ Ich legte 15 Lei auf den Tisch.
„Hier - der Rest ist für Sie, nämlich für Ihre Geduld, meine Haare einzeln zu kappen.“












Kurt Binder
schrieb am 07.06.2022, 09:44 Uhr
Alles was Flügel hat, fliegt

Es war an einem Samstag Abend. Wir saßen bequem in unsren Klappstühlen und schauten nachdenklich schweigend auf das von einem lauen Südwind leicht bewegte Meer hinaus, in das die blutrote Sonne enervant langsam versank. Eigentlich wollten wir dieses grandiose Schauspiel bis zu Ende bewundern, und dann erst Abendbrot essen, doch war ich nach einem Tag voller Schwimmen, Strandläufen und Bräunen derart hungrig, dass mir dieser allabendlich vorgetäuschte Selbstmord unsrer Lebensspenderin schon langweilig war. Auch die ewig kreischenden Möwen, die während des Sonnenuntergangs reiche Beute aus dem Wasser holten, hatten sich endlich verzogen, und es herrschte eine himmlische Ruhe über dem Sandstrand des Schwarzen Meeres bei Mangalia.
Etwa 150 Meter vom Strand entfernt schaukelte etwas auf den Wellen herum. Es drehte sich langsam im Kreis, bewegte sich ein kleines bisschen mal hin und her, verharrte aber immer im geometrischen Mittelpunkt seiner Bewegungen.
„Sieh mal“, sagte meine Frau Erika und deutete aufs Meer hinaus, „diese Möwe scheint noch hungrig zu sein!“
„Aber Schatz, das ist doch keine Möwe“, behauptete ich. „Das ist ein Benzinkanister!“
„Wieso ein Kanister?“, wollte sie wissen. „Ja, siehst du denn den schwarzen Kopf und die grauweißen Federn nicht? Außerdem wäre ein Kanister schon längst weggeschwommen!“ Natürlich sah ich diese untrügerischen Merkmale der hier oft jagenden Schwarzkopfmöwen. Aber - wieso schwamm diese seit fast einer halben Stunde regungslos auf ein und derselben Stelle?
„Vielleicht sind dort besonders viele Fische“, mutmaßte Erika. Wäre möglich, bloß tauchte die gemutmaßte Möwe nicht, sondern drehte sich nur langsam im Kreis um ihre eigene Achse.
„Vielleicht holt sie auch nur ihr Bad am Samstag Abend nach?“, frotzelte ich. Erika sah mich schräg von der Seite an und meinte:
„Humoristen können wohl nie ernst sein, wie?“
„Tschuldigung - kleiner Scherz. Trotzdem bleibe ich dabei, dass es ein Kanister ist“, sagte ich fest. „Eine Möwe ist doch viel schlanker! Schau mal dort drüben!“ Etwa je eine viertel Seemeile voneinander entfernt dümpelten noch mehrere dieser Kanister. Allerdings drehten die sich nicht um die eigene Achse, sondern boten uns immer den gleichen Anblick: Oben schwarzer Deckel, unten heller Korpus. Sie waren jedoch offensichtlich verankert, und markierten den hiesigen Fischern sicher irgendeine Orientierungslinie.
„Und es ist doch eine Möwe!“, beharrte Erika. „Vielleicht ist sie depressiv, oder sie hat einen gebrochenen Flügel.“ Na so was, ein depressiver Vogel! Das fand ich wirklich komisch, und ich lachte:
„Dann wartet sie gewiss auf den Psychiater, nicht wahr? Also ich behaupte, dass es ein Kanister ist - basta!“
Völlig ungerührt von unsrem Disput über seine wahre Identität drehte sich der mutmaßliche Wasservogel alias Kanister wie ein Ringelspiel lustig weiter. Nach weiteren zehn Minuten wurde mir das Hinstarren zu blöd. Ich stieg in das Wohnmobil und goss mir eine Ţuică bătrînă ein. Bald kam auch Erika herein.
„Na, hatte ich Recht?“, fragte ich. „Ist es vielleicht nicht doch ein Kanister?“ Erika nickte ergeben.
„Ja, natürlich hattest du wie immer Recht, bloß ist der Kanister soeben - davongeflogen!“

P.S. Ich bin nicht sicher, ob die hier zitierten Möven stimmen, jedoch eingedenk des Umstandes, dass es sich hierbei um einen geflügelten Kanister, also um ein bio-technisches Hybrid handelt, spielt das keine Rolle mehr!

Kurt Binder
schrieb am 14.06.2022, 08:44 Uhr
Das Lächeln der Penaten* (1968)

„Schach dem Koffein!“
Mit diesen überdimensionalen Schlagzeilen wurde in der heutigen Ausgabe unsrer Hermannstädter Zeitung „Die Woche“ dem zweitgrößten Laster der Gegenwart der frontale Krieg erklärt.
„Da siehst du es!“, sagte meine Frau Erika und tippte mit dem Zeigefinger auf die offensive Druckerschwärze. Und ob ich es sah. Von der Steinschleuder bis zum Marschflugkörper wurde hier so ziemlich alles gegen diesen ungekrönten König der Genussmittel gerichtet:
„Sind Sie lebensmüde?“, „Schleichender Tod“, „Der sicherste Weg zum Herzinfarkt“ usw. Es wimmelte nur so von neiderfüllten Argumenten, die den Kaffeefans diese Gaumenfreude um jeden Preis vergällen wollten. Weil ich aber seit mehr als zwanzig Jahren zweimal täglich Kaffee trinke und gemäß der hämischen Prognosen in der Presse das Zeitliche schon längst gesegnet haben müsste, kümmerte ich mich nicht weiter um meine Todesursache, sondern blätterte weiter.
Hier: „Ramon schlägt Thunderbird mit ganzen zwei Längen!“ Hätte ich bloß gewettet. Oder hier: „Militärputsch in ...“ Na, von mir aus in der Badewanne. Politik ist nichts für mein zartes Gemüt. Und hier: „Fünflinge in Sansibar“. Furchtbar fruchtbar!
„Du siehst es!“, wiederholte der Zeigefinger, und verkündete das Urteil: „Ab morgen trinkst du Surrogatkaffee!“
„Was ist das?“, erkundigte ich mich genießerisch schlürfend.
„Das ist ein Ersatzkaffee, der eigentlich kein Kaffee ist, aber wie Kaffee schmeckt und an Stelle des Bohnenkaffees getrunken wird“, erklärte Erika. „Ich kauf ihn beim Meinl in der Heltauergasse!“
„Warum?“
„Darum!“. Damit beendete Erika ihren aufschlussreichen Bescheid. „Hast du nun verstanden?“
„Nein!“, gestand ich schlürfend. Sie ging zum Bücherregal und holte ein gelbes Buch heraus.
„Was ist da nicht zu verstehen?“, fragte sie mich ungehalten, und blätterte suchend in dem Buch herum.
„Wenn der Ersatzkaffee wie Bohnenkaffee schmeckt, warum darf ich dann nicht Bohnenkaffee trinken?“
„Mein Gott!“, rief sie und griff sich an den Kopf. „Deine Begriffsstutzigkeit tut richtig weh. Hier - im neuen Gesundheitsratgeber steht alles über diese Zeitbombe. Außerdem wird Kaffee nicht so vulgär geschlürft, sondern laut Knigge schluckweise und lautlos getrunken!“
„Mach ich, Schatz!“, trank ich nun folgsam laut Knigge einen Schluck. "Aber ich ... “
„Kein aber“, unterbrach Erika mich ungeduldig. Ich hätte gerne noch mehr über dieses putschfreudige Getränk erfahren, doch wurde unsere Unterredung leider durch graue, nach verbrannten Zwiebeln riechende Schwaden unterbrochen, die sich wie der künstliche Nebel bei einem Popkonzert aus der Küche über den Boden hereinwälzten.
Am nächsten Tag zur Stunde des Schwarzen Rituals fragte mich Erika zwar lächelnd, aber mit suggestivem Unterton:
„Ich darf dir heute doch sicher den Kaffee zubereiten?“ Ob dieses unerwarteten Dienstleistungsangebotes schwante mir nichts Gutes, denn bis zu unserer gestrigen Unterhaltung hatte ich ihn mir immer selbst gebrüht. Doch weil ich ihre diesbezügliche Zuwendung nicht schon im Keim erdrosseln wollte, gestattete ich es ihr.
„Hättest du gerne einen einfachen Kathreiner Malzkaffe mit einem Schuss gerösteter Zichorienwurzel?“, fragte sie immer noch lächelnd weiter. „Oder lieber einen doppelten Frank-Kaffee ohne Schuss?“ Ebenso gut hätte ich sie fragen können, ob sie einen mit Turbulenzen geimpften 24-Zylinder mit stufenlosen Aszendenzgetriebe, oder lieber einen siebenrädrigen Hyperdrive-Rover mit KSPX-Filter im Tandem-System und Spaceshuttle-Make-up fahren wolle. Für alle Fälle antwortete ich:
„Ja.“
„Was heißt ‘ja’?
„Nun ja, ich würde gerne einen dreifachen Kathreiner mit einem gemalzten, ungeschossenen Franky trinken.“ Erika warf mir einen sehr vielsagenden Blick zu, und ging dann in die Küche. Bald darauf drangen neue, undefinierbare Düfte in meine Nüstern.

*) Penaten: Private Schutzgötter im römischen Haushalt

Fortsetzung folgt in Kürze
Kurt Binder
schrieb am 16.06.2022, 08:22 Uhr
Das Lächeln der Penaten (Ende)

Zehn Minuten später. Unter meiner Nase drohte ein schwarzer Sud. Ich schnupperte misstrauisch daran, während Erika mit einem mehr als neugierigen Ausdruck im Gesicht zu mir herunter sah.
„Hm“, sagte ich, nachdem ich genug daran misstrauisch geschnuppert hatte, „das duftet aber herrlich.“ Sie sah weiter mit unveränderter Miene auf mich. Bloß lag jetzt zusätzlich noch so etwas wie Erwartung darin, die nicht enttäuscht werden durfte. Anscheinend gab es kein Entrinnen. So musste sich Sokrates gefühlt haben, als man ihm den Giftbecher zum Selbstmord gereicht hatte. Also leistete ich seufzend der Anweisung „sich vor Gebrauch schütteln“ Folge, schob die Augenlider schonend vor die Pupillen, hob unter Verachtung alles Irdischen die Tasse an die Lippen - und kostete.
„Nuuun?“ Ich war ehrlich verblüfft, denn diese Tunke schmeckte trotz angeschossener, waidwunder Zichorienwurzel gar nicht so übel. Anerkennend lächelte ich meiner Frau zu und trank die Tasse, wie ich gestern gelernt hatte, lautlos und schluckweise leer.
„Kann ich bitte noch eine Tasse haben?“, fragte ich artig.
„Siehst du“, strahlte sie, „man kann sich an alles gewöhnen, wenn man nur will.“ Ich gönnte ihr diesen Triumph von Herzen, denn Erika war in allen Lebenslagen wirklich ein prima Kerlchen.
Am folgenden Tag gab es einen doppelt erschossenen Kathreiner ohne Röstwurzeln mit gemalztem Frank-Ersatz, dem folgte ein heiler, unverletzter Mohren-Surrogat-Cocktail mit ohne nichts, sodann eine Zichorien-Wurzel-Soße mit Verbrennungen dritten Grades und einer Prise Muskat, dann ein akademischer Kathreiner mit Franky zum Quadrat, hernach ein koffeinamputierter Corino hoch drei mal Wurzel aus Pimpinellas invalider Potenzmischung, dann Pi mal Integrale von Käs-Palukes mit Sauerkraut, dann ...
„Auf - hööö - ren !!“, brüllte ich nach zwei Wochen völlig entnervt, so dass James Bond sofort blank zog und hinter das Sofa hechtete. Ich aber hechtete an meiner erschrockenen Frau vorbei in meine vertraute Küche. Herrgott noch Mal, wie das siedende Wasser vor Begeisterung schäumte, wie sich die braunen Bohnen in der Schlagmühle, vor Ekstase kreischend wie irrsinnig im Kreise drehten und zu Pulver zerfielen - und dann folgte das herrlich beruhigende und alles lindernde Gurgeln und Plätschern des aromatischsten Wasserfalles aller Zeiten, dessen betörender Duft meine Sinne verwirrte.
Wenige Minuten später saß ich selig in meinem Sessel, und frönte unter den resignierenden Augen meiner lieben Frau wieder dem guten, alten Heiligen Bohnefatius. Meine Dissertation über die zerstörerische Wirkung des Koffeins schreibe ich in fünfzig Jahren - natürlich bei einem echten Schwarzen, versteht sich!


*: Private Schutzgötter im römischen Haushalt
Kurt Binder
schrieb am 30.06.2022, 09:28 Uhr
Ein Fisch namens Tilbud

Wir befanden uns auf unsrer ersten Norwegen-Rundfahrt. Obwohl wir von zu Hause eine Menge Grundnahrungsmittel mitgebracht hatten, brannten wir darauf, einen Fisch zu kaufen, um ihn frisch gebraten zu verspeisen. In Bygland, im Süden Norwegens tätigten wir unsren ersten Einkauf.
Wir traten in einem kleinen Laden, über dem ein Schild mit der Aufschrift „Dagligvarer“ hing, was etwa „Tägliche Waren“ bedeutet. In einer Tiefkühltruhe lagen mehrere Arten von Fischen, ganze oder in große Scheiben geschnitten. Ein dicker, weißlicher Fisch schien uns besonders lecker zu sein.
„Dieser Fisch heißt Tilbud!“, sagte Erika. „Wir sollten uns seinen Namen für den nächsten Einkauf merken, falls er gut schmeckt.“ Ich sah auf den Preis und stellte fest: „Und er ist außerdem billig!“
„Dem Namen nach ist das sicher so eine Art Butt, so wie unsre Scholle“, spekulierte Erika, „obwohl er gar nicht so aussieht.“ Nein, platt war er nicht, und so münzten wir sein unbuttiges Aussehen auf die nordischen Witterungsverhältnisse, und kauften ihn.
Im Camping-Bus briet Erika den Tilbud in Öl kurz an, und dünstete ihn dann langsam in ein wenig Wasser und einem Esslöffel Essig, mit Lorbeerblättern und Pfefferkörnern gewürzt. Währenddessen rührte ich einen Püree an, und - weiter ist nichts zu sagen. Es mundete, und wir tranken dazu einen von uns importierten ‚Feteasca Neagrǎ', einen halbsüßen Rotwein, die 'Mädchentraube' aus der Gegend von Seiden (Jidvei).
Auf Grund dieser Ersterfahrung mit nordischem Fisch beschlossen wir, am nächsten Tag den gleichen zu kaufen. Unser Weg führte uns weiter zu der an der Westküste gelegenen Hafenstadt Bergen. Nach einem ausgiebigen Bummel durch die Altstadt kamen wir auch, immer dem Geruch nachgehend zum Fischmarkt. Unsre Augen glänzten wie Fischaugen ob der vielen herrlichen Meeresfrüchte, aber trotz eifrigen Suchens fanden wir keinen Tilbud. Erst in einem kleinen Laden entdeckten wir ihn wieder, tiefgekühlt zwischen anderen Artgenossen. Erika betrachtete den Fisch skeptisch.
„Der sieht aber ganz anders aus“, stellte sie fest. Ich sah mir den Burschen genauer an. Ja, er war viel kleiner als der vom Vortag.
„Vielleicht ist es ein junger Tilbud!“, mutmaßte ich. „Oder eine Abart.“ Aber auch der schmeckte, zwar ganz anders, aber nicht weniger köstlich.
Zwei Tage weiter. Während eines Rundganges durch das Städtchen Ålesund deutete Erika auf eine Vitrine.
„Sieh mal“, sagte sie erstaunt, „hier gibt es Fischwurst!“ Tatsächlich - auf einer dicken, roten Wurst, offensichtlich eine Kochsalami stand „Tilbud“. Wir gingen hinein und kauften gleich eine ganze Wurst. Sie wog etwa ein Pfund. Doch zu Hause - zum Camping-Bus gingen wir immer 'nach Hause' - wurden unsere Gesichter länger und röter als die Wurst, denn diese schmeckte nicht im entferntesten nach Fisch, geschweige denn nach unsrem Tilbud. Entrüstet gingen wir zurück zu dem Laden. Auf dem Weg dorthin kauften wir ein Wörterbuch, um dem Wurstverkäufer gehörig unsere Meinung übersetzen zu können. Als wir an einem Laden vorbeikamen, hielt Erika mich plötzlich am Ärmel fest.
„Was ist denn, Schatz?“, fragte ich ungehalten. Sie deutete nur stumm auf die Auslage im Schaufenster. Ich folgte der unsichtbaren Verlängerungslinie ihres Zeigefingers, sah aber nichts Besonderes.
„Was ... was soll denn dort sein?“ Sie wackelte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf und ab und deutete weiter auf einen Punkt. Jetzt sah ich es. Auf dem Preisschildchen eines Artikels stand doch wahrhaftig „Tilbud“! Ich guckte in alle Ecken der Vitrine, doch konnte ich keinen Fisch entdecken.
„Vielleicht ist sie aus Fischbein vom Tilbud gefertigt!“, versuchte es Erika mit einer Erklärung. Das glaubte ich nicht, denn welcher Hersteller würde heute im Zeitalter der Kunststoffe eine - Toilettenbürste aus teurem Fischbein fertigen. Doch schon wenige Meter weiter stockten unsere Schritte erneut, und wir sahen uns verstört an.
Wenn eine Wurst aus Fischfleisch gepantscht, und für die Hygiene einer qualitätsbewussten Toilette eine Bürste aus Fischbein gefertigt wird, hätten wir dafür ein gewisses Verständnis aufbringen können. Aber was eine – Garnitur Herrenunterwäsche mit Fisch zu tun haben sollte, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Ein leiser Verdacht keimte auf. Wir holten langsam das Wörterbuch aus der Tasche, und schlugen es noch langsamer auf. Tja, das hätten wir gleich tun sollen, denn hier stand es, laut und deutlich:
„Tilbud“: soviel wie - Sonderangebot.


Kurt Binder
schrieb am 04.08.2022, 12:19 Uhr
Der erste Schritt auf der Bildungsleiter

Die Wirren dieses ereignisreichen Herbstes 1944 hatten uns trotz unsres unbekümmerten kindlichen Verhaltens seelisch hart zugesetzt. Der unerwartete Frontenwechsel Rumäniens, der überstürzte Abschied unseres Vaters - SS-Sokdat im Urlaub, die darauffolgenden Ängste und Nöte durch die Einquartierungen russischer Soldaten, die finanziellen Engpässe in der Firma, die Entlohnung der Angestellten, die existentiellen Sorgen, zuletzt der hastige Umzug in die Salzgasse sowie die Angst vor den mutmaßlich zu erwartenden Repressalien an den Sachsen von Seiten der Rumänen ließen in uns für längere Zeit keinen ehrlichen Optimismus aufkommen.
Ich war damals elf Jahre alt und sollte nun in die erste Gymnasialklasse, in die Prima kommen. Das Bewusstsein, Gymnasialschüler zu werden, baute mich zwar mächtig auf, doch leider wurde der Schulbeginn hinausgeschoben, weil mehrere Schulgebäude zu Lazaretten für die russischen Soldaten umfunktioniert wurden.
Ich lauerte gerade mit gespanntem Katapult hinter einem Baum einem liebestollen Kater auf, der mit seinen nächtlichen Ständchen an seine heißgeliebte Mietze seit Tagen meine Nachtruhe gestört hatte. Da ertönte es hinter meinem Rücken:
„Bonn schurr, messiö!“
Ich drehte mich ärgerlich um. Hinter mir stand lächelnd Bela Halmaghy, den ich aus der Elisabethgasse kannte. Sein Vater betrieb hier eine Pferdemetzgerei, die gegenüber unserer vorherigen Wohnung lag.
„Bonn schurr, messiö“, wiederholte Bela und machte eine leichte Verbeugung.
„Was ist das für eine Sprache?“, fragte ich erstaunt. Immer noch lächelnd belehrte er mich, dass das Französisch sei, und dass man das am Gymnasium schon in der Prima lerne.
„Kannst du noch was auf Französisch?“, fragte ich neugierig. Er nickte eifrig und sagte:
„Ui! Lö professör batt les äläf!“
„Und was heißt das?“
„Der Professor verhaut die Schüler!“ Nun, dies war zwar keine besonders attraktive Prognose für die nächsten Schuljahre. Bela erklärte mir, dass die Schule bereits begonnen hätte, und dass er gekommen sei, um mir das mitzuteilen. Und dann kam die nächste Überraschung: Die Schule lag in Hammersdorf, ein kleines Dorf nordöstlich vom Zentrum Hermannstadts jenseits der Bahnlinien, wo wir unsere ersten Schritte zur allgemeinen Bildung machen durften. Demnach hatte ich jeden Tag einen Fußmarsch, hin und zurück gerechnet von etwa 6 km vor mir. Unter diesen nicht gerade idealen Umständen begann ich also meine Laufbahn als junger Gymnasiast, und ich sah diesem neuen Lebensabschnitt zwar etwas bang, aber mit Spannung entgegen.
Als ich dann nach einem etwa halbstündigen Fußmarsch, mit einer alten Aktentasche meines Vaters in der Hand zum ersten Mal in die Klasse trat, starrten mir 39 Augenpaare neugierig entgegen. Es war ein enger, muffiger Raum mit alten Holzbänken, in dem es nach Moder und nach Zwiebeln roch, obwohl die kleinen Fenster weit offen standen. Der Herr Professor fragte mich mit sanfter Stimme, die ganz im Gegensatz zu seinem etwas brummigen Gesichtsausdruck stand:
„Bist du der Binder, der Kurt Binder?“ Ich nickte schüchtern, und war sofort auf Haue gefasst, weil ich ja zu spät gekommen war.
„Dann setz dich - dort hinten sind noch Plätze frei!“, fuhr er ebenso sanft fort. Ich schlich nach rückwärts und setzte mich neben einen langen, schlaksigen Jungen, der mich neugierig anlächelte. Er hieß Hermann Müller, und wurde bald von allen „Mulli Hema“ genannt.
Bela Halmaghy, der ganz vorne saß, blinzelte mir mit den Augen zu und deutete immer wieder lebhaft auf die Tafel. Da las ich ein Wort, das mir doch irgendwie bekannt vorkam: Le professeur.
So begann meine erste Schulstunde als Primaner. Wir hatten Französisch mit Herrn Martin Seiler, unsrem Klassenlehrer, ein ernster, ausgeglichen wirkender Mann, den wir wie alle andern Lehrkörper mit „Herr Professor“ ansprechen mussten. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals lachen gesehen zu haben, doch mochten wir ihn sehr, weil er uns mittels seines Verhaltens das Gefühl gab, uns ebenfalls zu mögen. Das war wichtig, da viele von uns ihren Vater im Krieg verloren hatten. Durch seine persönlichen Zuwendungen oder gelegentlichen Hilfestellungen bei der schwierigen Rechtschreibung der französischen Sprache, empfand sicher manch einer den flüchtigen, aber wohltuenden Hauch von väterlicher Fürsorge.
Dennoch lernten wir bald. dass der dünne, biegsame Stock auf dem Katheder, das Spanische Rohr nicht nur zum Zeigen von Flüssen und Städten auf der Landkarte bestimmt war.

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