Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Maikind
schrieb am 27.05.2020, 09:34 Uhr
Voll erfasst Kurt !😊

sie hatten es nicht leicht
vor allem die Kriegsjahre und -wirren mit Trennung, Enteignung, schere tägliche Arbeit waren nicht ohne.
Als Kind habe ich natürlich das nicht mehr mitbekommen als die schönen Seiten des Alltags.

Aber gerade diese sollten nicht in Vergessenheit geraten und deren Werte weitergegeben werden.
Es kommt mehr denn je darauf an auf was die kommenden Generationen
aufbauen.

Ich hoffe wie du auch auf weitere Beiträge aller Art natürlich...
Kurt Binder
schrieb am 27.05.2020, 11:26 Uhr
Tja, liebe Ute, leider ist das Dichter-Pheromon noch nicht erfunden worden.
Trotzdem - erheben wir unser Glas mit bester Kokeltaler Mädchentraube auf unsre gemeinsame Hoffnung!
Kurt Binder
schrieb am 31.05.2020, 17:14 Uhr
Scheuerfetzen und Fladenbrot
Eine Pappsodie für vier Hände

Als mein Vater aus dem Krieg nicht heimgekehrt war, hatte meine Mutter in der unmittelbaren Nachkriegszeit unsre Firma für Etiketten und Plättmarken bis zu deren Enteignung selbst weitergeleitet. Sie hatte wie mein Vater ebenfalls eine kaufmännische Ausbildung. So musste mein Bruder und ich mehr und mehr tatkräftig in der Hauswirtschaft mitarbeiten. Auch meine kleine Schwester, damals etwa vier Jahre jung, hatte mit ihrem kindlich fröhlichen Naturell lebhaft mitgewirkt.
Nun war ja Geschirr abwaschen und das Aufwischen des Bretterfußbodens mit dem Scheuerfetzen ein Mal pro Woche bei Weitem nicht so interessant wie das Kochen und Bruzzeln, dem wir uns mit viel Phantasie kreativ hingaben. So ging unsre Kochkunst bald über Kümmelsuppe, Käsmakkaroni, Palukes mit Milch, Kartoffeltocană und Griesimilch weit hinaus. Ich erinnere mich nicht, wie viele Sterne wir uns damals erkocht hatten. Doch die absolute Sternstunde war für uns, als Mama uns mitteilte, dass wir nun auch Brot backen müssen – und das sollte ein gastronomischer Höhepunkt werden!
Freunde, ich sage euch, so etwas muss man einmal selbst erlebt haben, um es im vollen Umfang nachempfinden zu können. Mein Bruder und ich standen über die Holzmolter gebeugt da, gossen lauwarmes Wasser über das von Mama vorbereitete Mehl, streuten Salz darüber - und dann grabschten wir begeistert mit beiden Händen in die Pampe hinein, dass es nur so spritzte. Besonders lustig fanden wir, wie das etwas zu saftig geratene Gemisch zwischen unsren Fingern durchschwutzte – ein Zeitvertreib, den wir solange zelebrierten, bis der Teig unseres Erachtens fertig war. Ob wir uns vorher die Hände gewaschen hatten, kann ich nicht beschwören; jedenfalls waren sie nachher sauber. Dann trugen wir die Molter mit dem darin bedenklich schwappenden Teig vierhändig zum Bäcker Homner in die Bahngasse,
„Wer um Jesi Willen hat diesen schrecklichen Teig gemacht?“, rief Herr Homner beim Anblick unsrer Mehlsoße entsetzt. Wir antworteten wie aus einem Mund:
„Meine Mutter!“ Am Nachmittag holten wir dann unsre kastanienbraun gebackenen, kieselsteinharten Kreationen in Form von zwei riesigen Diskusscheiben ab - wir hatten vergessen, Hefe in den Teig zu mischen. Die Leute guckten uns teils amüsiert, teils interessiert nach, als wir unsre Brote wie Sombreros auf dem Kopf heimtrugen. Und als wir einer besonders neugierigen Frau erklärten, dass dies nach Kosakenart gebackenes russisches Fladenbrot sei, verlangte sie uns sogar das Rezept dafür!

So geschehen 1945 in Hermannstadt, Salzgasse 22.
(überarbeiteter Auszug aus "Unter Roten Wolken")



Kurt Binder
schrieb am 07.06.2020, 18:50 Uhr
Altes Haus, uralte Mauern
mussten Jahre überdauern,
um mit manch zerfall’nen Ecken
heut Erinnerung zu wecken,
die, nostalgisch reflektiert,
manche Story suggeriert ;-)) !
Doris Hutter (Moderator)
schrieb am 08.06.2020, 14:38 Uhr
Lass doch wenigstens hier das Reimen!
In Prosa lässt sich's leichter träumen...

Kurt Binder
schrieb am 08.06.2020, 16:07 Uhr
Recht hast Du, oh Muse mia,
mit der Reim-Philosophia;
hoffte bloß, dass nach dem Säumen
wir im Forum – schriftlich träumen!
Doris Hutter (Moderator)
schrieb am 08.06.2020, 21:16 Uhr
Also Leute,
teilt eure Brücken-Geschichten mit uns allen!

Wir werden älter und könnten sie vergessen. Das Internet vergisst nichts...
Maikind
schrieb am 11.06.2020, 08:58 Uhr (am 11.06.2020, 08:58 Uhr geändert).
Liebe Doris
dass das Internet nie vergisst, ist leider auch eine ungute Eigenschaft des WWW.

Aber bleiben wir bei den hoffentlich guten.

Ein etwas umfangreicheres Erinnerungsbild von mir.
Viel Spaß!
Vielleicht setzt bei manchen Lesern ein Verknüpfen in die eigene Erinnerung ein.


Dem Himmel ganz nah

Tage in Kindheitserwachen finden
wieder Leben
öffne ich die Truhe in der Friedenskammer meines Herzens
mit einem gestillten Lächeln,
betrete ich ein atmendes Zeitbild
Seite an Seite mit mir.

Es war zur Heuernte.
Mit gemächlichen Kuhschritten zog der Heuwagen über die Dorfstraße in der noch kühlen Morgenfrische.
Wir Kinder, mit Gekicher und in freudiger Erwartung, was der vollbepackte Vesperkorb so alles hergeben würde, fuhren mit.
Eine kleine Ewigkeit dauerte die Fahrt bis wir irgendwo am Rande des Dorfes ankamen.
Es war nie lanweilig, das abwechslungsreiche, sich bewegende Grünlicht der Büsche und Bäume am Straßenrand, sowie das Vogelgezwitscher vermischt mit den ratternden und quitschenden Geräuschen des Wagens, unterbrochen von dem gelegentlichen Dialog der beiden eingespannten Kühe, bot eine Wohlfühlkulisse ohne Gleichen.
Und wie das duftete! nach kühlem Morgentau, nach Gräser und Kuhstall und Heuwagen und ab und zu ganz zart, nach dem frischen Brot aus dem Butterkorb.

Der Tag wurde heiß und noch heißer. Die Großeltern und die Helfer sahen wir abwechselnd mal, wenn sie in den Schatten des Baumes kamen, wo der Wasserkrug abgestellt war.

Dann endlich die Mittagsruhe, mit dem heißersehnten Auspacken des Zauberkorbes. Was da alles hineinpasste!!
Das weiße Tuch auf der Decke leuchtete unter der bunten Vielfalt.
Hunger hatten wir alle, auch wenn wir Kinder den ganzen Tag nur den Schatten gehütet hatten.
Mit dem Appetit für die Ewigkeit genoss ich die Leckereien.

Nach der Mittagspause, mit dem dazugehörigen Mittagsschläfchen,
ging es weiter. Das Heu oder die Grummet wurde zusammengetragen und in Schober aufgetürmt.

In anderen Tagen, nach der Trocknungszeit, wurden die Heuschober wieder abgetragen und auf den, mit zusätzlichem Gerüst ausgestatteten Wagen, aufgeladen, bis gefühlt das Vierfache unserer Kindergröße in die Höhe und Breite.

Dann hieß es: auf dem Heu heimfahren!
Aber wie dorthinaufkommen? schien aus Knirpssicht unmöglich, das Heu war glatt und lose aufeinander geschichtet, daran konnte man sich nicht hochziehen.
Die Rettung war der Großvater. Von hochgewachsener Statur hob er uns Kinder einen nach dem anderen hoch hinauf auf das Heu im Heuwagen.
Und gebot uns streng, ja nicht aufrecht zu stehen sondern liegen zu bleiben.
Das taten wir auch brav, schließlich lagen wir ungewohnt dem Himmel so nah, auch dadurch schon abgelenkt, folgten wir ehrfürchtig den vorbeiziehenden Wolken.

Wie alle Kinder, nach einer Eingewöhnungszeit wurden wir übermütig, die Rückfahrt eine etwas längere, gefühlte Ewigkeit. So streckten wir alle die barfussigen Beine hoch und stellten uns vor wie die Vorbeiziehenden das sehen würden?:
einen Heuwagen mit angewachsenen Kinderbeinen!
Den gelegentlichen Ermahnungen des Großvaters zu Dank kamen wir am Abend alle wieder heil an.

Die Rutschpartie aus dem Himmel in Großvaters ausgestreckte Arme war die letzte Herausforderung der Heuernte.
Das Ankommen ist in die Zukunft übergegangen. Ein Danke mit.
Tarimona
schrieb am 11.06.2020, 19:42 Uhr (am 11.06.2020, 19:51 Uhr geändert).
Maikind das ist einfach herzerwärmend und erinnert an frühe Kindheitstage. Wenn auch nicht genauso, aber dieses eine Gefühl, das kenne ich gut. Danke dir.
Und hier eine Sommererinnerung..

Vergangene Sommer

Vor vielen, vielen Jahren als das Herz noch leicht und das Gemüt noch unversehrt alles aufsog was eine Welt so zu bieten hatte, waren die Jahreszeiten noch kleine Wunder.

Der Herbst mit seinen Farben, seinen Düften nach Heu und gebratenem Kürbis, den reifen Trauben und den fliegenden Spinnweben.

Der Winter mit seiner kalten, klaren Luft, seinem herrlichen Schnee, den Eisblumen am Fenster, den Eiszapfen an der Dachrinne, den Schlittenfahrten, dem Schneemänner bauen, dem Schnee-Engel machen und den damals unvergleichlichen Geheimnissen und Düften von Weihnachten.

Der Frühling, ganz im Zeichen des Erwachens, die erste Wärme der Sonnenstrahlen, die ersten Schneeglöckchen, das wunderbare Summen der Bienen, das lebendige, vermisste Grün.

Aber allen voran, als Kind, stand der Sommer. Die Königin der Jahreszeiten. Keine dicken Socken mehr, keine kratzenden Mützen und Jacken. Barfuss und im leichten Hemdchen sprang ich morgens aus dem Bett und zur Türe raus.

Und jedes Mal stand ich ein paar Minuten still – geblendet von der Sonne, dem warmen Gefühl auf der Haut, den von der Hitze angestaubten Düften. Aber schon der erste Schmetterling weckte mich aus meinen Träumen – und schon war ich hinterher.

Nicht um ihn zu fangen, aber ich wollte wissen was so ein Schmetterling den ganzen Tag macht. Leider kam ich nie sehr weit. Hinter dem Haus hatten wir ein ziemlich wilde Wiese. Margeriten, Mohn, Kornblumen, Schafgarbe und noch mehr blühte und duftete da. Natürlich zog es meinen Schmetterling genau dorthin.

Aber kaum hatten meine Füße das weiche Gras berührt, vergaß ich den Schmetterling. Noch zwei drei Schritte und dann legte ich mich mitten in das hohe Gras. Fast schloss es sich wieder über mir, aber ein kleines Fenster blieb offen. Und durch dieses Fenster konnte ich den Himmel sehen. Immer wieder flog ein Insekt durch dieses Fenster, landete auf einer der Blumen, die es umrahmten.

Himmlische Ruhe, ein warmes Summen und Brummen, kindliche Träume, wundersame Geschichten erzählt von Schmetterlingen, Bienen, Libellen. So viele Wunder, so viel zu bestaunen – und eine Welt in der es weder Raum noch Zeit mehr gab.

Bis mich die Stimme meiner Mutter zum Frühstück rief.

Wenn die Sonne heute Sommerwärme erreicht, ich morgens vor die Türe trete und die leicht angestaubten Düfte der Hitze wahrnehme, ja dann werden all jene Empfindungen wieder in mir wach – und mein Herz ist wieder unversehrt und mein Gemüt voller Staunen.

Selten sind sie geworden diese wilden Wiesen, doch wo immer mir eine im Sommer begegnet, lege ich mich hin und begucke den Himmel durch ein Wiesenfenster.
KarlP.
schrieb am 13.06.2020, 09:07 Uhr
@Kurt, Steuerfetzen und Fladenbrot, sehe ich ja erst jetzt. Wie herrlich. Da fühlt man doch fast selbst den Teig zwischen den Fingern durchschwutzen :-)
Kurt Binder
schrieb am 13.06.2020, 10:05 Uhr (am 13.06.2020, 10:06 Uhr geändert).
Danke, lieber KarlP, vielleicht lesen wir auch von Dir etwas Bewegendes aus Deinem Leben. Kleine Korrektur - nicht übel nehmen: Der Aufwischfetzen war damals leider nicht von der Steuer absetzbar ;-)).
Übrigens die Berichte unsrer beiden Mädels sind derart hinreißend gefühlvoll - wahre Porträts aus der Kindheit, dass ich da mit meinen komischen Zeitmalereien - Genre: Humor - bislang fast allein dastehe. Aber - was solls; ascha fu!
KarlP.
schrieb am 13.06.2020, 11:20 Uhr (am 13.06.2020, 11:25 Uhr geändert).
Ha, ha, ha, Kurt, erwischt :-)
Und jetzt hatte ich auch Zeit, die Beiträge von Maikind und Tarimona zu lesen. Ach ihr Lieben, da wird das Herz eines alten Mannes wieder jung. Sehr schön, wirklich sehr schön!
Kurt Binder
schrieb am 13.06.2020, 16:55 Uhr
Herrliche Zeiten in Burgberg

Wie ich bereits in meinem Beitrag „Süße Ribisel“ erwähnte, haben wir im Sommer 1944 einige Wochen lang bei dem Ehepaar Lienerth gewohnt, das drei Kinder hatte. Die älteste Tochter nannte man Fissi. Sohn Hans, genannt Hanni, war etwa in meinem Alter, und Mischi war mehrere Jahre jünger als wir. Mit Hanni hatten mein Bruder und ich auf Anhieb Freundschaft geschlossen. Wir strabanzten oft durch die Gegend, und er zeigte uns einige, für uns faszinierende Sehenswürdigkeiten von Burgberg und Umgebung. An drei erinnere ich mich lebhaft.
Hanni teilte uns eines heißen Tages mit, dass wir heute zum Zement-Pitschen baden gehen sollten. Durch Burgberg fließt ein Bach, und außerhalb des Dorfes lag eine undefinierbare Anlage, welche in das Bachbett hineingebaut war und Wasser angestaut hatte. Zementmauern und rostige Eisenteile wirkten zwar nicht einladend, aber als unser Reiseleiter sich auszog und in das trübe Wasser sprang, ließen wir uns nicht lumpen und hüpften auch hinein. Dies Badevergnügen wiederholten wir einige Male, mussten jedoch jedesmal eine gewisse Hemmschwelle überwinden.
Einmal führte er uns zu einer besondren Stelle – zur Aasgrube! Ein ausgemauertes tiefes Loch von etwa 3 Meter Durchmesser, in das krepiertes Vieh hineingeworfen wurde. Da es unten weiter verweste, warnte es schon mittles des penetranten Gestanks zur Vorsicht. Die Grube war nur mit einigen Brettern zugedeckt. Hanni zog zwei davon zur Seite, und wir sahen auf etwas hinunter, das ich nicht beschreiben möchte. Die Anzahl der Vegetarier und Veganer würde wirtschaftschädigend sprunghaft in die Höhe schnellen!
Der Höhepunkt aber war zweifellos unser Besuch bei einer alten Romafrau, die am Dorfrand allein in einer Cocioabă hauste. Auch hier wusste Hanni Bescheid. Er führte uns vorsichtshalber maximal 5 Meter an die Hütte heran. Die Alte saß auf einer Bank vor ihrem Domizil. Als wir uns näherten, stand sie langsam auf. Hanni rief ihr routiniert zu:
„Ană proastă, arată (etwas, das ich nicht sagen darf)!“ Ohne die Miene zu verziehen, ergriff sie ihren Kittel ganz unten und hob ihn mit einem Ruck so hoch, dass er ihr runzliges Gesicht verdeckte. Das war gut so, denn es wäre zu viel des Guten gewesen. Diese freizügige Intim-Selbstdarstellung diente uns zwei Sekunden lang als erster Sexualunterricht.
„Jetzt müssen wir aber laufen!“, zischelte Hanni, und rannte auch gleich davon. Als kurz darauf die ersten Steine um unsre Ohren flogen, kapierten wir und machten die Fliege.
Weniger amüsant war jedoch ein anderes Abenteuer. Lienerths besaßen wie die meisten Bauern im Dorf ebenfalls Hornvieh. Wenn ich mich recht entsinne, waren da zwei Ochsen, der Fitzku und der Paiku, und eine Büffelkuh, welche ein Kalb hatte. Die Tiere kamen abends von der Weide zurück, und jedes kannte genau das Tor zu seinem Stall. Als eines Abends die Büffelkuh in den Hof hereinkommen wollte, rannten wir ihr entgegen. Sie senkte sofort den Kopf und raste auf uns zu. Wir retirierten panisch, doch die Kuh machte kehrt und lief wieder zum Tor hinaus. Sie blieb zwei Tage lang fort, und das Kalb musste mit rohen Eiern und Kuhmilch gefüttert werden. Die Kuh kam dann von allein wieder zurück.
Nun, die Schelte von Herrn Lienerth war überzeugend: „Sowas tut man nicht, kapiert, ihr Herrn?“ Ansonsten waren wir doch ganz in Ordnung. Beim Gang durchs Dorf grüßten wir brav: „Gott hälf ich!“, sangen am Abend mit der Dorfjugend lauthals "Rote Rosen blüh'n im Garten", wollten unsre Bräute Anna und Ledder-Fissi heiraten und Bauern werden.

Liebe Burgberger, ich würde mich freuen zu hören, ob euch irgendetwas aus meiner Erzählung aus dem Sommer 1944 bekannt vorkommt! Ich erinnere mich bloß noch an Daniel Lösch, den späteren Pfarrer. Er hat auf der anderen Seite des Baches, schräg gegenüber gewohnt.









Maikind
schrieb am 15.06.2020, 18:35 Uhr (am 15.06.2020, 18:35 Uhr geändert).
Liebe Tarimona
wie schön geschrieben!
Aus Sicht des Kindes aber auch mal wieder aus dieser Kinderperspektive in die Welt zu schauen ist was ganz besonderes.

Lieber Kurt sehr amüsant deine Erinnerungen!!

Danke euch fürs teilen!
Kurt Binder
schrieb am 25.06.2020, 10:35 Uhr
Im Banne der Kunst

Der Militärdienst von 1955 bis 1957 in Bukarest war wohl mein abwechslungsreichster Lebensabschnitt. Neben andern recht ungewöhnlichen Episoden, durch welche ich in diesen zwei Jahren geschlittert bin, ist mir besonders eine in lebhafter Erinnerung geblieben.
Als Sohn eines im Krieg verschollenen SS-Mannes durfte ich nicht „unter Waffen", somderm sollte meinem Vaterland „la lopată" dienen. Hier lernte ich Koloman Kudelas, einen Ungarn aus Klausenburg kennen, mit dem ich mich anfreundete. Er hatte seine Gitarre dabei, und wir sangen abends nach der Arbeit am Bau des Öfteren zweistimmig lauthals in die Nacht hinein.
Ein Zufall spielte uns die Erweiterung unsrer musikalischen Entfaltung in die Hände. Wir stießen eines Abends nach einem Ständchen an Unbekannt auf der Müllhalde der Einheit auf eine Menge Marmelade-, Gurken- und Murătură-Gläser. Ich wollte ein größeres Glas mit einem rostigen Eisenstab aufheben, und stieß dabei etwas heftig an, so dass es einen hellen Klang von sich gab. Wir probierten das an weiteren Gläsern aus - und siehe da, jedes brachte einen andern Ton hervor.
Zunächst schleppten wir unbemerkt mehrere große und kleine Gläser in den Waschraum und säuberten sie gründlich. Dann gossen wir Wasser hinein und stimmten sie der Reihe nach jede auf einen Ton ein. Zuletzt stand vor uns eine 1,5 Meter lange Reihe von sehr unterschiedlichen Gläsern, mit einer Tonspannweite von zwei Oktaven, die Halbtöne mitinbegriffen. Koloman stimmte seine Gitarre nach unsrem neuen Glas-Wasser-Xylophon, und ich begann eine einfache Melodie mit zwei Metallstäben zweistimmig zu hämmern – tja, und dies war der Auftakt für eine Dauer-Freizeitbeschäftigung der nächsten Wochen. Unser Repertoire erweiterte sich mehr und mehr, und dann wagten wir uns sogar an Gheorghe Enescus 1. Rhapsodie! Und wieder bot uns der Zufall ein Sprungbrett zu einer echten Würdigung unsres bescheidenen Könnens.
Nach einem Abschlusstriller con fuoco trat unerwartet der Kompaniechef herein. Er lachte uns wohlwollend zu und verriet uns, dass er schon eine ganze Weile vor der Tür gelauscht hätte. Und da unsre Kompanie in zwei Wochen für die Offiziere und deren Familien ein "Program artistic" plane, sollten wir beide mit unsrem originellen Instrument und dem gesamten Repertoire auftreten! Er würde dies gleich Oberst Constantinescu melden. Natürlich freuten wir uns über seinen Vorschlag, salutierten, ließen ihn begeistert hochleben und begannen nun ernsthaft mit den Proben. Im Programm hatten wir auch mehrere, aus Filmen bekannte Lieder.
Endlich war der große Tag da. Ich hatte auf der Bühne hinter dem geschlossenen Vorhang mein Gläserxylophon aufgebaut, und Koloman hatte noch einmal seine Gitarre darauf abgestimmt. Dann wurde der Vorhang zur Seite gezogen, und wir traten unter verhaltenem Applaus des Publikums hervor. Koloman kündigte das erste Lied an - und dann legten wir los. Die ungewohnten Klänge zauberten sofort in die von Erwartung geprägten Gesichter der Offiziere und deren Familien ein anerkennendes Lächeln, das uns wahre Flügel verlieh. Und das leichte, von der Erregung verursachte Zittern meiner Hände wirkte sich sogar günstig auf die Triller aus, die ich dadurch mit doppelter Frequenz aus den Gläsern heraushämmern konnte. Nach zwei weiteren Liedern und einem zweistimmig gepfiffenen Intermezzo kündigte Koloman den Höhepunkt unsrer Darbietung an: Melodien aus der Rhapsodie Nr. 1 von Gheorghe Enescu!
Totenstille im Saal. Der erst im Mai 1955 in Paris verstorbene rumänische Komponist war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Kulturlandschaft Rumäniens. Und nun - Enescu auf Gurken- und Marmeladegläsern, eine häretische Dummdreistigkeit frecher Soldaten? Nun, wir begannen erst leise, bedächtig, und steigerten uns dann langsam mehr und mehr. Es gelangen mir sogar ein paar improvisierte Übergänge, die Koloman mit der Gitarre spontan und ohne mit der Wimper zu zucken übernahm - kurz, es wurde ein Vortrag, der alle unsre Erwartungen weit übertraf. Zuletzt schloss ich noch ein paar Akkorde und Triller an, über welche Enescu sicher die Nase gerümpft hätte. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören, und so fuhr ich zum Abschluss mit einem Klöppel noch einmal von links und von rechts über alle Gläser, und behämmerte dann von beiden Seiten kräftig das C-Glas - leider etwas zu kräftig, denn es zersplitterte und das Wasser ergoss sich sprudelnd über den Tisch und auf meine Füße herab.
Der Saal tobte vor Vergnügen. Das herzhafte Gelächter der Besucher vermischte sich mit einem dröhnenden Applaus, viele standen auf und riefen begeistert: „Bravo, bravo!“, darunter auch zwei höhere Offiziere. Wir wussten nicht, ob wir nun salutieren oder uns verbeugen sollten, wählten dann aber das Letztere, weil das ja mehr zu unsrem momentanen Status passte.
Dies war das einzige Mal, wo wir als einfache Soldaten, ohne um Erlaubnis zu bitten, etwas vortrugen, und den Offizieren sogar etwas pfeifen konnten, wobei auch die höheren Grade still dasitzen und uns zuhören mussten - ein erhebendes Gefühl!


(Auszug aus „Unter Roten Wolken“, gekürzt und überarbeitet)

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