Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Doris Hutter (Moderator)
schrieb am 25.06.2020, 19:38 Uhr
Herrliche Geschichte!
Kurt Binder
schrieb am 01.07.2020, 12:50 Uhr
Liebe Siebenbürger, ich habe da ein Frage:
Ich erinnere mich genau an den Tag, als zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die ersten deutschen Soldaten mit Panzern, Lastwagen und schwerem Gerät in Hermannstadt eingerollt sind, umjubelt von unsren Landsleuten.
Erinnert sich jemand, wann die deutsche Front durch Rumänien zurückgeschlagen wurde, und – sehr wichtig! - ob und wann bei diesem Rückzug deutsche Truppen auch durch Hermannstadt gekommen sind?
Konkret: Waren am 23. August 1944 noch „reichsdeutsche“ Soldaten in Hermannstadt? Soviel ich weiß, haben in Hermannstadt direkt keinerlei Kampfhandlungen stattgefunden.

Danke im Voraus für eure diesbezüglichen Informationen!

Kurt Binder
schrieb am 02.07.2020, 10:21 Uhr
Hier geht es um die Wurst

Tatort: Bukarest, Drumul Taberii, Barackenunterkünfte der 1. Kompanie-MFA*- Construcţie
Tatzeit: 19. Juli 1956, ab 18:47 Uhr osteuropäischer Sommerzeit
Tatmotiv: siehe Titel

Eines der wenigen willkommenen Ereignisse im Leben der am Bau malochenden Soldaten waren die von ihren Angehörigen gesendeten Pakete, die jedem damit Bedachten im Idealfall einen kulinarischen Höhenflug bescheren sollten. Der Empfang einer solchen Sendung verlief immer nach dem gleichen Muster.
Der glückliche Empfänger - nennen wir ihn Costică - setzt sich also auf sein Bett und blickt erst ungläubig auf das meist unbeholfen in Papier oder Sackleinwand gewickelte und mehrfach mit Spagat verschnürte Bündel, durch das der klassische Duft von Knoblauch wie ein Omen bevorstehender orgastischer Gaumenfreuden den Inhalt freizügig bekundet. Dann streichelt er das Bündel unter selbstauferlegter Spannungsfolterung, um zu Gunsten der Vorfreude den eigentlichen Genuss noch ein Weilchen hinauszuzögern.
Mein lieber Costică, zöger nicht zu lange, denn das Unheil ist bereits unterwegs. Von der alles durchdringenden, die geblähten Nüstern reizenden Botschaft motiviert, setzen sich gleichzeitig ein halbes Dutzend Kameraden aus allen Ecken der Baracke in Bewegung. Sie pirschen sich wie zufällig an den verdutzten Costică heran und setzen sich zunächst in respektvollem Abstand auf die Betten um ihn herum. Allerdings verraten ihre entschlossenen Blicke, dass sie sich nicht nur nach seiner Gesundheit erkundigen wollen.
Der Sketch beginnt mit den erstaunten Worten:
„Oh, ai primit pachet?” "Oh, hast du ein Paket bekommen?" Auf diese quasi-rhetorische Frage, die in der Betonung mehr nach einer Feststellung klingt, nickt der Noch-Paketbesitzer befangen und sehr langsam. Im Verständnis der Kameraden bedeutet dies, näherkommen zu dürfen – eine stumme Aufforderung, der ohne zu zögern in weniger als zwei Sekunden Folge geleistet wird. Und während Costică beginnt, die zahlreichen Hüllen zu schälen, verleihen die nach und nach immer intensiver strömenden Aromen den Augen der interessiert Zuschauenden einen ätherischen Glanz. Dieser steigert sich stante pede zu einem förmlichen Wetterleuchten, als Costică, um sich schielend die erste Wurstscheibe in den Mund schiebt und, verfolgt von den erbarmungslosen, hungrigen Blicken seiner Zaungäste schüchtern zu kauen beginnt.
„E bun?" „Schmeckt's?" Spätestens ab dieser überflüssigen Frage erleidet der weitere Verlauf der Essung eine dramatische Wende. Der verhinderte Kauer flüstert nämlich, moralisch genötigt, so leise er kann:
„Da, gustaţi, dacă vreţi!” „Ja, kostet, wenn ihr wollt!“ Tja, hätte Costică diese Worte auch nur geträumt, so hätten sich sofort alle zu Traumdeutern qualifiziert. denn im nächsten Augenblick wird ein halbes Dutzend Taschenmesser, die Briceaguri gezückt, und die hungrige Soldateska rückt in corpore den Würsten gnadenlos auf den Leib, bzw. auf die Pelle. In unvorstellbarer Geschwindigkeit wird Scheibe um Scheibe abgesäbelt, wobei sich die kreuzenden Klingen manchmal berühren, ohne jedoch den Danebenkauer zu verletzen. Das ist ebenfalls erstaunlich, da ja die allseits grabschenden fettigen Finger die Funktion der hier ihres Dienstes enthobenen Gabeln ausüben. Es ist ein wahre Fressorgie, die sich in jeder Hinsicht um Vollkommenheit bemüht. Die blitzschnell herumfuchtelnden Klingen der Taschenmesser haben offensichtlich den sowjetischen Komponisten Chatschaturjan in seinem Ballett Gayaneh intuitiv zu dem furiosen Säbeltanz inspiriert!
Costică muss sich aus Sicherheitsgründen von dieser genussvoll schmatzenden Korona fernhalten. Zu seiner Beruhigung erfährt er aber nachher, dass es den Kameraden geschmeckt hat, obwohl in der Bratwurst zu wenig Knoblauch, im Telemea-Käse zu viel Salz und in der Leberwurst überhaupt kein grüner Pfeffer drin war.
Zum Abschluss dieses lukullischen Festmahls tun die gefüllten Mägen für gewöhnlich ihre Zufriedenheit kund, indem sie vom Zwerchfell unterstützt einige Bäuerchen dezent zur Decke röhren. Zum Umweltschutz kann dann die sich verbreitende Duftglocke von eventuellen Unsatten als Dessert inhalliert werden. Dies geschehe jedoch am besten erst nachdem die Wurst-Scharfrichter nach einigen Schlucken 50%-iger Ţuica de prune die Umluft noch würziger veredelt haben. Andere Beweise, dass es ihnen auch wirklich „geschmacket hat", sind mir nicht mehr bekannt.

Ja, so war es damals, und ich habe es selbst erlebt. Vielleicht hab ich stellenweise ein wenig übertrieben - aber wirklich nur ein ganz klitzekleines bisschen!

*MFA: Ministerul Forţelor Armate
Kurt Binder
schrieb am 09.07.2020, 11:54 Uhr
Als Tata spazieren ging

Der Abschied meines Vaters infolge des Frontwechsels vom 23. August 1944 war für unsre Familie das tragischste Schlüsselerlebnis, mit weitreichenden Folgen auf allen Ebenen. Er wurde, wie auch viele andere Siebenbürger Sachsen auf das beflissene Betreiben von Andreas Schmidt 1943 in die Waffen-SS eingezogen, und befand sich gerade in einem dreitägigen Urlaub zu Hause.
Mama hatte uns Kinder am Vormittag aus dem Ferienaufenthalt in Burgberg abgeholt, und noch während wir mit der legendären Kleinbahn, der „Wusch“ in Richtung Hermannstadt zuckelten, erfuhren wir von dem ekstatisch sich gebärdenden Schaffner von der Kehrtwendung Rumäniens. Zu Hause angekommen, redeten meine Eltern aufgeregt miteinander, und aus ihren Gesprächen hörte ich nur Bruchstücke heraus, deren Sinn ich nicht verstand. Ich fühlte aber, dass beide Angst hatten, große Angst vor etwas Bevorstehendem, in dem Krieg, Deutschenhass, Rache und andere bedrohliche Wörter wiederholt vorkamen. So verlief der ganze Nachmittag in einer Atmosphäre von Unruhe und spürbarer Nervosität.
Am Morgen des nächsten Tages, den 24. August, kam dann ein Anruf von der Standortkommandantur auf dem Großen Ring, mein Vater solle sich bis auf Weiteres bereithalten. Er zog seine Uniform an und prüfte das Gewehr und die Pistole. Mama legte zwei Hemden, Socken, ein Handtuch, das Feldbesteck, etwas Wegzehrung und die mit Kaffee gefüllte Feldflasche aufs Bett, was er mit zitternden Händen in den Tornister packte. Im Radio wurde von dem Vormarsch der Roten Armee berichtet, die bereits die Nordmoldau besetzt hatte und zu einer Gro0offensive startete.
Am frühen Nachmittag kam ein weiterer Anruf, mein Vater solle sich sofort in Uniform und mit vollem Marschgepäck bei der Standortkommandantur melden. Bevor er fortging, umarmte er uns noch einmal, und küsste meine kleine Schwester Inge auf ihre Pausbäckchen. Sie war damals fast vier Jahre alt und trug in ihrem kastanienbraunen Haar eine große, weiße Masche. Sie fragte meinen Vater leise:
„Gehst du spazieren?“ Tata unterdrückte mit Mühe die Tränen.
„Ja, aber ich komme bestimmt bald wieder!“ Meine Mutter begleitete ihn auf den Großen Ring, wo sich das Amt des Ortsgruppenleiters befand. Als sie zurückkam, erzählte sie uns, dass einige Leute hinter ihnen hergepfiffen und gerufen hätten, sie sollten doch zum Hitler gehen, und was sie noch hier zu suchen hätten! Mama war dann auf einem großen Umweg zum Glück unbehelligt nach Hause zurückgekommen.
Tata haben wir nicht wieder gesehen.
Kurt Binder
schrieb am 19.07.2020, 22:49 Uhr
Cornelia
Eine zarte Liebesromanze, welche Du garantiert zweimal lesen wirst!

Man rief sie Conny; alle riefen sie Conny - außer mir. Sie war etwas kleiner als ich, zierlich und hatte schokoladebraunes Haar, welches rückwärts zusammengebunden war. Wenn sie mal etwas schneller ging, pendelte der Pferdeschwanz hin und her, wobei er sich bei einer bestimmten Gangart sogar im Kreis drehte. Das sah sehr lustig aus. Doch als Conny sich einmal nach solch einer Drehung umschaute und mich verschmitzt anlächelte, war mir klar, dass sie hierzu sicher mit dem Kopf etwas nachgeholfen hatte.
Ich aber war hin und weg! Conny hatte mich angelächelt! Ab diesem Augenblick war ich entschlossen, meine Schüchternheit endlich zu überwinden und ihr den Hof zu machen, wie ein richtiger Mann. Zwar wusste ich noch nicht, wie ich das anstellen sollte, doch ich vertraute dem Zufall. Und der war mir in den nächsten Tagen hold!
In der Jausenpause ging ich in den Hof - und da saß sie allein auf einer Bank und strahlte mir entgegen. Ich weiß nicht mehr, ob ich errötet bin. Aber eins hab ich nicht vergessen: Ich hatte mein Herz in die Zähne genommen und war festen Schrittes stracks auf sie zugegangen! Ich hatte keine Ahnung, was ich Conny sagen sollte, doch sie enthob mich dieser Peinlichkeit und rief begeistert:
„Ich habe von meiner Oma einen Hund gekriegt!“ Ich konnte Hunde nicht ausstehen. Dennoch improvisierte ich einen Freudensprung und fragte:
„Das ist schön – und wie heißt er?“
„Knöllchen, gefällt er dir?" Natürlich musste ich bejahen, um die Gunst ihrer Aufmerksamkeit nicht zu verlieren. Conny war sehr redselig, und wenn ich sie fröhlich lachen hörte, musste ich immer mitlachen. Meist plapperte sie einfach über irgendetwas drauf los. Ich hörte dann höflich zu, denn sie hatte erstaunlich viel zu erzählen. Sie wohnte bei ihren Eltern. Ihre Mutter war Lehrerin, ihr Vater Buchhalter. Sie zeichnete gerne, und einmal brachte sie mir ein Bild mit, auf dem sie und ihr Hund zu sehen war, worüber ich sie sehr lobte. Bei einem unsrer häufigen Spaziergänge pflückte ich eine Blume und gab sie ihr. Ihre Freude war so ehrlich, dass ich ihr noch.ein Stollwerck-Karamellbonbon schenkte, das ich seit Tagen in der Hosentasche trug. Als ich sah, wie sie es genießerisch langsam zwischen ihre roten Lippen schob, und mich dabei verführerisch anlächelte, war es um mich geschehen – ich beschloss, Conny zu heiraten! Noch während sie am Bonbon lutschte, sagte sie:
„Ich muss jetzt gehen - servus!", und ging zum Tor. Draußen wartete ein Mann auf Conny. Sie umarmten sich, und er küsste sie auf die Wange. Ich sah ihnen eifersüchtig nach, bis sie meinen Blicken entschwunden waren. Dann ging auch ich eiligen Schrittes zum Ausgang. Sie war immer pünktlich, meine Mama, wenn sie mich vom Kindergarten abholte.

Kurt Binder
schrieb am 24.07.2020, 08:00 Uhr
Am Anfang war der Schrei

„Es ist so weit!“, sagte die Hebamme.
Man schrieb den 28 Juni 1933 p. Chr. n., als sich in Hermannstadt in der Reitschulgasse Nr. 1 ein Winzling anschickte, in die Stunde Null seines eigenen Lebens zu treten. Nachdem niemand etwas dagegen hatte, begann die Hebamme, Frau Gunnesch, dem heftig Auslass Begehrenden mit geübten Griffen in die Freiheit zu verhelfen. Dieser wog etwa 7 Pfund, und trug bei seiner Ankunft etwas auf dem Kopf, was man als ein gutes Omen für ein erfolgreiches Leben deutete: Die Glückshaube! Wie sich später herausstellen sollte, war dies nicht unbedingt ein beneidenswerter Vorteil, weil manche Erfolglosigkeiten im Leben nicht mehr rechtfertigt werden konnten. Da aber ein Neugeborener sich seine erste Kopfbedeckung nicht selbst aussuchen kann, ertrug er sowohl diese, als auch alle darauf folgenden Weissagungen mit stoischer Ruhe. Nun, der schlaue Leser hat sicher längst erkannt, dass – ich dieser neue, vom Glück behaubtete Bürger bin.
Nachdem ich erwartungsgemäß, von den mich umgebenden komischen Gestalten zu Tode erschreckt aufgeschrien hatte, nickte Frau Gunnesch zufrieden mit dem Kopf. Sie packte mich an den Beinen, ließ mich wie eine geschlachtete Gans mit dem Kopf nach unten hängen und verabfolgte mir genüßlich den traditionellen Klaps auf meinen kleinen, süßen Hintern - was ich ihr heute noch übel nehme! Dann brummte sie mit professioneller Langeweile:
„Ein Junge!“ Sie muss eine sehr kluge Frau gewesen sein, denn ich habe viele Jahre gebraucht, um den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen festzustellen. Nachdem sie mich abgenabelt hatte, wurde ich gebadet, eingewickelt und auf meine Mama gelegt, die sehr matt, aber glücklich im Bett lag. Diese Berührung empfand ich als sehr wohltuend. Doch das eigentliche Spießrutenlaufen wartete noch auf mich, denn ich wurde nun von unsren Zaungästen kritisch unter die Lupe genommen. Die verlegenen Gesichter der diversen Onkels und Tanten - mein Vater war noch im Laden – starrten schonungslos auf mich herab. Bis Brunoonkel das knisternde Eis brach. Er nickte sichtlich zufrieden und brummelte vielsagend:
„Mmhm!“ Ein andrer Onkel pflichtete ihm mit einem bestätigenden Räuspern bei. Bennoonkel, der älteste Binderonkel, holte tief Luft:
„Nun ja, also - wenn man bedenkt ...“. Man ließ ihn höflich ausbedenken. Die herzigen Tanten waren wesentlich freizügiger mit ihrer Wertschätzung. Ilsetante, das jüngste Binderchen, hatte sogar den Mut, der nicht zu übersehenden Tatsache kühn in die Augen zu sehen.
„Wie süß!“, jubelte sie, riss mich aus den Federn und tanzte mit mir meinen ersten Walzer quer durch das ganze Zimmer. Etwas altmodisch, fand ich, aber Rock and Roll sollte ja erst 22 Jahre später erfunden werden. Doch die Damenwahl verzieh ich ihr gerne!
„Sorg, dass er nicht fällt!“, rief ihr Mama besorgt nach. Da ich ein ziemlich aufgewecktes Kind war, sollte ich später diese Warnungen noch oft hören. Ich entwickelte mich ganz normal, schrie, trank und schiss in die Windeln, so wie man das von braven Babys erwartet - da lasse ich mir nichts nachsagen.
Meine eigentliche Identität, der Grundstein zu meiner Persönlichkeitsbildung wurde jedoch erst bei meiner Taufe festgelegt. Wie mir zehn Jahre später aus Karl-May-Büchern bekannt werden sollte, hat ein Wild-Wrestler-Experte, ein gewisser Winnetou behauptet, dass ein Mann nur dann zum Mann werde, wenn er einen Namen erhält. Über diese sehr bequeme Definition des Mannseins, beruhend auf der Assoziation mit einer Silbenfolge, läßt sich streiten. Jedenfalls riss mich dieser rituelle Akt aus meiner Anonymität heraus, denn bis dahin war ich nur der „süße Kleine“ oder der „Hosenscheißer“, je nachdem, wer mich gerade begutachtete.
Nachdem also Stadtpfarrer Müller im zweiten Teil der Zeremonie mein Haupt dreimal mit lauwarmen Wasser begossen, und mich auf den selten schönen Namen „Kurt Heinz“ getauft hatte, war es mit den lächerlichen Pseudonymen vorbei. Dafür aber war ich nun ab meiner Profilierung zum Mann das „Kurtilein“, „Kürtchen“, oder einfach nur „der kleine Kurti“. Meine schrillen Proteste gegen diese dämlichen Verniedlichungen waren vergebens, und ich frage mich heute noch, warum - verdammt noch mal! - mich keiner beim richtigen Namen nennen konnte? Wozu dann das aufwendige, doppelt besungene, feierliche Zeremonial, wenn sich niemand an das sauber immatrikulierte Original hielt? Das „Heinzilein“ und „Heinzelmännchen“ konnte ich gerade noch unter dem Aufgebot meiner ganzen Lungenkraft verhindern. Dennoch bin ich für einige Bekannte heute noch der Kurti! Was solls; ich trags eben - wie ein Mann!

Tarimona
schrieb am 29.07.2020, 12:37 Uhr
Ach Kurt, dass ich ja wieder ein "Schmankerl", wie ein Bayer sagen würde. Ganz so weit geht meine Geschichte aus der Vergangenheit nicht zurück.

Gestern und heute

Als ich ein kleines Mädchen war, ging ich immer den selben Weg und kam dabei durch einen Park. Dort standen Schaukeln, Rutschbahnen und auch Bänke unter alten Bäumen. Gerne machte ich Halt und schaukelte ein wenig. Immer wieder fiel mir eine Frau auf, die auf einer der Bänke saß. Sie tat nichts, sah sich nicht um, beobachtete auch nicht die Kinder, sie saß einfach nur da. Sehr oft habe ich sie dort sitzen sehen, mir jedoch erst in späteren Jahren einige Gedanken darüber gemacht.
Und das ging mir so durch den Kopf als ich mich wieder einmal an diese Frau erinnerte:

Es gibt Gesichter, die einem nicht wegen ihrer Schönheit, Lebendigkeit, Fröhlichkeit oder Trauer sofort auffallen. Sie scheinen irgendwie still zu stehen, haben aufgehört Spiegel einer Welt zu sein, die sie nicht mehr interessiert.
Die Bank auf der sie saß, hatte auch schon bessere Jahre gesehen. Von Flechten überzogen und brüchig, schien sie mit der Frau eine feste Einheit zu bilden. Wer einen Blick in ihre Augen riskierte musste tief hinabsteigen in ein lange nicht betretenes Gemach. Und wer den Blick nicht abwandte würde dort ihr Gemüt entdecken. Wie eine alte, archivierte Zeitung kauerte es in einer Ecke, brüchig und durchscheinend geworden. Doch auf jeder Seite tanzten ungelesene Worte wild durcheinander und nur manchmal, wenn sich die Dringlichkeit eines einzelnen Wortes ins Unermessliche steigerte, huschte ein Schatten über ihre Augen. Doch den Weg zu ihren Lippen fand es nicht. Und so wird die Zeitung immer dünner, die Worte verblassen und nach einer Weile verschwinden auch die Schatten aus ihrem Gesicht. Ein leises Lächeln zuckt in den Winkeln ihres Mundes und sie steht auf und geht.
Kurt Binder
schrieb am 30.07.2020, 08:49 Uhr
Zum ersten Mal, Tarimona, fällt es mir schwer, die richtigen Worte zu dem Erlebnis eines Menschen zu finden, das auf den ersten Blick kaum Aufmerksamkeit erregen würde:
Alte Frau sitzt auf einer alten Bank.
Es ist Dir gelungen, mit Empathie das Wesen dieser Frau trotz ihres versteinerten Gesichtes zu erkennen, die ganze Tragik ihrer Einsamkeit und ihrer Verinnerlichung nachzuvollziehen, und "tief hinabzusteigen in ein lange nicht betretenes Gemach". Die Metapher mit der alten, archivierten Zeitung, die niemand mehr liest, ist deprimierend, und wird am Ende doch von dem "leisen Lächeln" mit einem Hauch von Optimismus verbrämt!
Ein Seelenporträt, das in knappen, aber überaus treffenden Worten erschüttert - und zugleich hoffen läßt!
Tarimona
schrieb am 30.07.2020, 12:47 Uhr
Ich danke dir herzlich, Kurt. Du hast sehr trefflich ausgedrückt, was ich beschreiben wollte.
Kurt Binder
schrieb am 02.08.2020, 15:12 Uhr
Die älteren und mittleren Generationen erinnern sich gewiss gerne an die unterhaltsamen Zusammenkünfte, auf denen sie staunend erfuhren, was sie so alles im Rausch der Planerfüllung zustande gebracht haben. Misserfolge durfte es ja keine geben ...

Ode an die Sitzung (1959)
Nostalgischer Rückblick auf den absoluten Höhepunkt
sozialistischen Erfolgsbewusstseins

Sie wallen mit finstern Fassaden
zur Stätte, die geistig geladen,
um dort im Bemühen,
das Volk zu erziehen,
zu starten rhetorische Schwaden.

Am Heiligen Tisch in der Mitte
weilt sehr distanziert die Elite.
Sie steht in den Bügeln,
reißt wild an den Zügeln,
und hämmert im Rausch manche Niete.

Dazwischen, zwecks hohem Gelingen,
da kreuzt man die Zungen wie Klingen.
Doch geht im Gefechte
verloren das Echte;
man buhlt um die Gunst des Geringen.

Im Saale die dösenden Massen,
die können den Unsinn nicht fassen.
Sie schütteln die Mähnen
gelangweilt, und gähnen,
wenn man sie in Ruhe gelassen.

Nach Stunden ertönt für die Leute
erlösendes Abschlussgeläute.
Mit dankbarem Grinsen
geht man in die Binsen -
viel operativer ab heute!
Tarimona
schrieb am 02.08.2020, 15:51 Uhr
Tja, lieber Kurt, was soll ich sagen? Ich hoffe, dass dies viele lesen! Und vielleicht wird es sogar von unserer Zeitung gedruckt. Es wäre es wert!
Lybelle
schrieb am 03.08.2020, 19:46 Uhr (am 03.08.2020, 20:10 Uhr geändert).
Hallo ihr Lieben,

Nachdem ich eure tollen Kindheitserinnerungen gelesen habe und mich
zum Teil auch wieder gefunden habe,möchte ich , auch von mir ein paar
Erinnerungen aus meiner frühesten Kindheit. erzählen
Also, ich war ein sehr aufgeweckter lebhafter Lausbub. Der nix aber auch gar nichts ausgelassen hat, was man so anstellen konnte.
Oder besser gesagt nicht anstellen sollte. Vielleicht hab ich nur zu oft den Struwelpeter oder Max und Moritz gelesen, wer weiß?
Wie bei den meisten Kindern war das auch bei mir so, dass ich immer so schnell wie möglich nach den Hausaufgaben auf die Gasse zum Spielen laufen wollte
Und es auch meistens schaffte
Meine Mutter lernte sehr schnell, dass es nichts bringt. Mir keine Aufgaben zuzuweisen, denn sobald ich mit den Hausaufgaben fertig war. War von mir keine Spur mehr, also beschloss sie gleich beim Mittagessen mir verschiedene Aufgaben zuzuteilen und wenn ich damit dann fertig war, durfte ich spielen gehen. So war das wieder mal, dass ich mittags noch während dem Essen die Aufgabe zugeteilt bekam ein grosses Körbchen voll Nüsse zu öffnen mit dem Hammer. Als ich das Körbchen voller Nüsse sah, so ungefähr ein Eimer voll dachte ich oh Gott, das schaffst du nie, bis du die alle aufgeschlagen hast ist es Abend dann darfst du nicht mehr spielen gehen, also hockte ich da war am verzweifeln. Doch, da kam mir plötzlich die Idee. so schützte ich die Nüsse auf dem Boden aus und schlug sie alle mit dem Hammer auf. Die waren zwar alle zertetscht aber offen und schon machte ich mich aus dem Staub. Das dauerte gerade mal so zehn Minuten. Als dann die Abendglocke läutete und ich nach Hause musste, tja da erwartest mich meine Mutter mit einem ziehmlich finstern Blick, zack zack. Ich fragte nicht wofür und warum ich dachte mir schon. Das sei wegen der Nüsse. Tatsächlich, das war keine gute Idee gewesen. Die Nüsse alle mit dem Hammer platt zu schlagen. Es war keine einzige mehr ganz lauter Krümmel und so musste ich feierlich gelogen beim nächsten Mal. Besser aufzupassen. Man konnte doch nicht Nuss Krümel in die Nachbarschaft tragen zum Gugelhupf backen, was sollen die Leute bloß denken.
Und wenn man dann schon mal von zu Hause fort waren mit anderen Jungs dann stellte sich auch oft die Frage, was machen wir heute und wie es so im Sommer ist, wenn der Eggrisch reif ist und man von zu Hause eigentlich nicht essen darf, weil der für Marmelad oder saure Suppen gedacht ist, ging’s dann ab querbeet durch die Gärten der Nachbarn zum Eggrisch klauen.
Freilich dürfte man sich nicht erwischen lassen sonst hätte es wahrscheinlich wieder Hiebe gegeben. Und wie wir so durch die Gärten über die Zäune sprangen und dicken Eggrisch suchten, landeten wir auf einmal bei meiner Urgroßmutter im Garten, das hat mir zwar nicht gepasst, aber die anderen Jungs sagen ja ja die seien am größten. Da brauchen wir aber keine Angst zu haben, denn da war niemand zu Haus und wenn dann hätte bloß ich es wieder mal kassiert. Aber das war ich ja gewohnt. Tatsächlich dachten. Die Erwachsenen damals das Schläge helfen wird. Geholfen glaube ich hat sie bloß ihnen, dass sie sich abreagieren konnten. Denn genutzt hat sie in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil man passte besser auf das man nicht erwischt wird. Mann wurde viel vorsichtiger und überlegte sich. Ganz hieb und stichfeste ausreden. Von uns drei Geschwistern war ich derjenige, der das meiste Kassierte………….. aber nie ohne Grund. Es wurde nicht soviel geredet wie heutzutage;
Wenn eine kurze Anweisung nicht half, dann tat es die Handschrift😆😆😆.
In unserem Garten am hintern Zaun, da waren Himbeeren, etliche Sträucher und ich weiß noch ganz genau, meine Schwestern wollten Himbeerschaum machen und mussten die Großmutter fragen, ob sie welche Himbeeren haben könnten und da die Großmutter Marmelade machen wollte, gab’s keine Himbeeren für Himbeerschaum. Aber auch keine für Marmelade mehr🤣🤣🤣
Die haben einfach zu gut geschmeckt, und erwischt haben sie mich auch nicht.
Ich weiß noch wie die Großmutter sagte. Dieses Jahr war kein gutes Himbeer Jahr. Der Großvater muss meht Kuhmist zu den Himbeeren tun im Herbst, damit sie besser tragen. Habe ich mir gedacht. Hä recht hast du ich freue mich schon. Als wir dann größer waren durften wir als Tagelöhner zur LPG. Aufs Feld Heu machen. Da war eine Kinderschar , es war interessant und man verdient ja auch noch ein kleines Taschengeld. Wenn allerdings zu Haus die Feldarbeit anstand mussten wir zu Hause mithelfen. Und in den ersten Jahren durfte ich meistens. Mit dem geflochtenen Glaskrug frisches Wasser holen. Und da wurde jedes Mal betont, gib Acht, dass der bloß nicht runterfällt, sonst haben wir kein Wasser. Den eingeflochtenen Glaskrug habe ich jetzt noch. Der steht bei mir in der Arbeit und dient als Wasserkrug. Da kommen immer wieder Erinnerungen an die Kindheit hervor wenn ich ihn sehe. Also, in den Sommerferien war uns nie langweilig. Sei es bitte mit der Steinschleuder Spatzen schießen oder Tauben schießen. Wo dann auch manchmal ein Fenster zu Bruch ging oder Fußball spielen,wo dann oft die Schuhe dranglauben mussten; irgendwie hab ich es schon geschafft.
Oft hab ich dann auch gehört :was hat er heute wieder angestellt. Und zu meinem Glück, hat mich meine Mutter des öfteren in Schutz genommen 😂😇😇.
Auf die Schule hab ich mich auch deshalb immer gefreut, weil man dann nicht den ganzen Tag unter häuslicher Dominanz war. 😆😆😆
Hoffe ich hab euch nicht zu viel zugetextet.
Wünsche Euch noch einen schönen Abend und bis bald.
Tarimona
schrieb am 03.08.2020, 21:17 Uhr
Lieber Lybelle, mit großem Vergnügen habe ich deine Erinnerungen gelesen. Und dabei haben wieder so viele Bilder aus Kindertagen vor meinen Augen getanzt. Schön ist das. Gerne mehr davon.
Tarimona
schrieb am 04.08.2020, 20:35 Uhr


Der Speisewagen

Manchmal muss man erst so alt werden bis sich ein fast vergessener Kinderwunsch erfüllt. Manchmal wird, wenn man jemand anderem einen Wunsch erfüllt, auch der eigene Wunsch wahr. Oh, nichts wirklich Wichtiges, eine kindliche Vorstellung die mit den Jahren romantisiert und einfach weiter als verträumter Gedanke geschlummert hat. Und dann, unerwartet und überraschend rückt die Erfüllung nahe.

Als Kind fuhren wir oft mit dem Zug in einen nahe gelegenen Ort (Salzburg in der Nähe von Herrmanntadt/Rumänien). Da gab es herrliche Salzseen, an und in denen wir öfter mal die Sonntage verbrachten. Meistens fuhren wir mit dem Regionalzug dahin. Ab und an jedoch war es ein Transitzug, der von so weit her kam und so weit hin fuhr, wie ich es mir gar nicht vorstellen konnte. Wenn wir nun am Gleis entlang zu unserem Wagon liefen, blieb ich regelmäßig vor einem Wagen stehen und starrte verträumt dort hinein.

Da saßen schön gekleidete Menschen an weiß gedeckten Tischen vor dampfenden Tellern oder zierlichen Tassen und plauderten munter vor sich hin. Das müssen die glücklichsten Menschen der Welt sein, dachte ich damals. In dem Wissen (und weil meine Oma nach mir rief), dass ich so etwas nie erleben würde, lief ich den anderen hinterher. Beim Plantschen und Schwimmen in den Seen vergaß ich alles wieder.
Doch an manch anderem Sonntag wurde der Wunsch, auch einmal zu den glücklichsten Menschen der Welt zu gehören, immer wieder genährt.
Man wurde schließlich erwachsen und die Illusion, dass es sich bei diesen Menschen in diesen Wagons um die glücklichsten Menschen der Welt handelte, platzte. Der Zug rückte weit in den Hintergrund und das Auto eroberte sich seinen Stellenwert beim Überbrücken von Distanzen.

Unlängst jedoch, ergab sich die Gelegenheit eine Fahrt in einem alten Dampfzug mitzumachen. Als ich so die Wagons entlang lief, und unseren suchte, blieb ich plötzlich stocksteif stehen. Da stand es, in dicken Buchstaben auf einem royalblauen Wagon: SPEISEWAGEN. Und an den weiß gedeckten Tischen saßen sie wieder, die glücklichsten Menschen der Welt von anno dazumal. Und dieser Wagon hing an unserem Zug. Wir stiegen in unseren Wagen, suchten unser Abteil auf, machten uns mit den vier anderen Mitreisenden bekannt und waren gespannt, was diese Fahrt noch bringen mochte. Dann fragte mich mein Mann ob ich nicht einen Happen essen wollte und vielleicht auch eine Tasse Kaffee. Ich nickte nur. Dann standen wir auf und ich folgte ihm. Wie selbstverständlich öffnete er die Tür vom Speisewagen schritt zu einem freien Tisch und setzte sich hin. Ich staunte erst einmal und vor lauter Aufregung fühlte ich mich wieder wie damals mit acht Jahren. Nur stand ich diesmal auf der anderen Seite der Wagonwand, war mittendrin. Mein Herz klopfte unsinnig und ich setzte mich. Unser Tisch war am Fenster und als ich raus sah, spazierte gerade eine Mutter mit ihrer Tochter an unserem Wagon vorbei und alles wurde wieder lebendig. Als dann der Kaffee und das belegte Brötchen vor mir standen, die Dampflok ihr Huuu-Huuuu ertönen lies, die herbstliche Landschaft sanft an mir vorüberzog, ja da war ich für ein paar Minuten der glücklichste Mensch der Welt!

Lybelle
schrieb am 05.08.2020, 16:21 Uhr (am 05.08.2020, 16:21 Uhr geändert).
Ein sehr schöner, wahr gewordener Kindheitstraum.

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