Herta Müller . Ehrung

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Lavinia
schrieb am 23.08.2009, 14:12 Uhr
@seberg: Man kann der Ansicht der Frau Radisch tatsächlich auch was abgewinnen. Ich kann verstehen, dass die Poetik Herta Müllers zuweilen von manchem/r als "too much" wahrgenommen werden kann und ins "Pudrige" kippen kann...Ich fand beispielsweise den Begriff "Herzschaufel", ganz oberflächlich betrachtet, auch etwas...na ja...gewöhnungsbedürftig (alles mit "Herz" gehört auf den Jahrmarkt und ist aus Zuckergebäck, oder?).
Aber solange mir nichts "Treffenderes" einfällt...;-)
Gruß
Schiwwer
schrieb am 23.08.2009, 14:37 Uhr (am 23.08.2009, 14:57 Uhr geändert).
Hallo, Lavinia, die FR hatte auch mehrere Ausdrücke als "zu poetisch" für ein Arbeitslager moniert.

Nun ist ausgerechnet das Wort "Herzschaufel" keine Erfindung Herta Müllers, der Begriff wurde tatsächlich verwendet, weil die Schaufel so aussah: 2 Hälften, jede groß wie ein Männerkopf und unten vereinigt in einer Spitze ergaben die Herzform. Mein Schwiegervater nannten sie in ihrem Lager "Stalins Herz"!!
bankban
schrieb am 23.08.2009, 15:46 Uhr
@ Lavinia: Ich bin mit deinen Ausführungen zur Bedeutung der Intention weitgehend einverstanden. Vergessen sollten wir aber dennoch nicht, dass die Bewertung einer kulturellen Manifestation (wie du es selbst schreibst) eine Interpretationsleistung der Anderen/Außenstehenden ist. Du fragst etwas polemisch, ob das alltägliche Kochen eines sächsischen Gerichts denn auch schon Widerstand war. Nun, in einer sächsischen Küche in Salzburg in den 1970ern wohl kaum. Aber 1946 oder 1950 in der Baragansteppe sehr wohl. Der Gebrauch des Baskischen heute im Baskenland ist kein Akt des direkten Widerstandes. Doch 1959 war es sehr wohl.

Du schreibst: "Was ist, wenn dieses Überlegenheitsgefühl Teil des Nationalbewusstseins war?" Das war es aber nicht. Nich vor ca. 1900. Im Mittelalter gab es dieses Gefühl wie auch ein Nationalbewusstsein ja nicht und auch im 20. Jh. war jenes Überlegenheitsgefühl nicht bei jedem anzutreffen.

Was den Rest anbelangt: in der Tat kultiviere eine funktionalistische Sicht auf die Minderheitenkultur. Denn ich will, dass sie bestehen bleibt, weil ich glaube, dass die Welt erst durch sie lebenswert ist. Wenn uns alle Hollywood und das Englische verschluckt haben, na dann Prost! Daher war meine These obige vielleicht gar nicht so sehr eine Sicht auf die Welt wie sie ist sondern wie sie meiner Meinung nach sein sollte!

Aber ich denke, wir haben jetzt lange genug über die These diskutiert, wofür ich dir danke. Es hat mir Spaß gemacht so, unaufgeregt, emotionslos aber leidenschaftlich, ohne persönlich zu werden, aber dennoch direkt und konkret mit Dir zu diskutieren. (Mögen dies manche auch für langweilig und spießig halten - dieser gepflegte Gedankenaustausch ist mir lieber als das Herumbrüllen mit Ausrufungszeichen, Fragesalven und Fragezeichen etc.

Doch sollten wir zum Thema Herta Müller zurückkehre.
Ich würde von euch gerne wissen, was ihr von dem Pro und Contra (Naumann vs. Radisch) haltet. Wessen Argumente überzeugen euch ?
Ich persönlich bin von Radisch' Gedankengang nicht sonderlich beeindruckt gewesen. Sie scheint HM zweierlei vorzuwerfen: a) im Gegensatz zu ihren bisherigen Romanen schreibt sie jetzt über etwas, was sie aus zweiter Hand erfahren hat. Daher wirkt/ist der Roman unglaubwürdig und b) daher wirken ihre Metaphern, wirkt ihre Sprache wie ein blasser Abklatsch expressionistischer Jugendsprache. Ihre Sprache versagt vor der Lagerrealität im GGs. zur Sprache von Kertesz oder Schalamow, die erkannt hätten, dass nach der Lagererfahrung die dortige Inhumanität nicht mit den Mitteln des Humanismus beschrieben werden können.
Meines Erachtens: 1) wenn ein Schriftsteller nur das eigene Erlebte schreiben dürfte, wäre die Literatur um viele Romane ärmer. Für die Glaubwürdigkeit der Schilderungen in Müllers Roman ist mir Gewähr genug, dass sie mit Pastior zusammenarbeitete und dabei angeblich 4 Hefte an Notizen sich gemacht hat (irgendwo stand sogar: manche Teile haben sie zusammen geschrieben) 2) Mit der benutzten Sprache wollte Müller m.E. der Literaturerfahrung jenes fiktiven 17jährigen (den man nicht mit Pastior gleichsetzen darf!) nahekommen. Der wiederum war natürlich mit den Werken und Gedichten der Expressionisten aufgewachsen. Vergessen wir nicht, dass wir von Siebenbürgen reden. Heute werden vielleicht auch dort die neuesten literarischen Strömungen sofort rezipiert, doch damals gelangte ja die Literatur der Jahrhundertwende gerade mal in breitere siebenbürgische Schichten. D.h. auf mich wirkt es in der Tat glaubwürdig, dass und wenn Müller die Lagerrealität mit dem Vokabular eines 17jährigen einzufangen versucht, der vor kurzem erst dieses Vokabular kenngelernt hatte. (Natürlich kann man hier fragen, wieso denn etwa der nazistische Wortschatz, den dieser junge Sachse in der Schule doch eingetrichtert bekommen haben muss, keine Rolle spielt. Weiss ich nicht). Wie gesagt, Müller ging es demnach nicht um die Erfindung einer neuen Lagersprache (vergessen wir übrigens nicht, denn dies wird von der Radisch unterschlagen: zwischen dem Gulag und den Nazi-KZs gab es gewaltige Unterschiede; das Daseinsziel der ersteren war nicht die Ermordung der Insassen!) wie Kertesz.
So, bin gespannt auf neue Wortmeldungen.
pedimed
schrieb am 23.08.2009, 16:29 Uhr
Was das Deutsche in SBB angeht, so war es die Sprache der Schule mit dem damaligen höchsten Bildungstand. Viele von den anderen mitwohnenden Volksgruppen, auch vereinzelte aus anderen Ländern (zB Russen und Ukrainer), die aus Bildungsgründen die Deutschen Schulen besuchten habe ich persönlich erlebt, daß sie sogar von den Mitschülern das sbb-sächsische erlernten und sich in unserer Umgebung nicht als Fremde fühlten. Es gab ja sogar in der Nähe von Hermannstadt ein von Bulgaren besiedeltes Dorf (auch ein griechisches) die sich den SBB-Sachsen angeschlossen hatten. Der Schuldirektor in Mediasch mit Namen Juga war auch so einer. Wir Mediascher hatten auf Grund der üblichen Toleranz keine Schwierigkeiten damit. Also war in SBB der Vielvölkerstaat realität. Die andersvölkischen wurden nicht dazu gezwungen, sie taten es freiwillig. Dies ist meine erlebte Erfahrung.
der Ijel
schrieb am 23.08.2009, 20:55 Uhr

Die Stalins-Herz-Schaufel „Lopata Inima lui Stalin“ ist ein Begriff den wir auf unserer „Kolchose“ auch gehört haben. Von unseren Dorfleuten aus den Zwangs-Aufbau-Lagern mitgebracht. Es waren nicht wenige die aus unserem Dorf verschleppt waren.
Mal höre ich den Nachbarn von schräg gegenüber wie er vom Natschalnik und Brigadir erzählt, wie sie die Norm nicht schafften, und wie sie sie schafften---
Mal höre ich den Schwager aus entfernter Verwandschaft, erzählen während die Dreschmaschine auf unserer Kollektiv rattert, von Rübenklau, von Pufoaika und Kriwoirog---

Während ich Hertha Müller lese, höre ich sowieso Oskar Pastior erzählen, und überall wo Leo Steht, lese ich Oskar. Mich wundert dass Frau Müller ihn nicht selbst in der
„Ich Form“erzählen lässt .
Warum musste hier Leo Auberg erfunden werden ? Wenn schon Das Tabu um Sexualität auch schon gebrochen ist. ?
Für alle anderen Namensänderung der Lager-Leute hätte man eher Verständnis ?

Dieses Buch ist wohl hart, doch nicht unverdaulich.
Gespickt mit Brocken die den Leser zum schmunzeln reizen.
"Haz de necaz" würde der Rumäne sagen.
Die Wortschöpfung ist so ineinander verwachsen dass man unsicher dran geht, ob sie grad von Pastior oder von Frau Müller stammt.
Typisch Pastior ist jedoch die Passage mit dem aus Ziegelsteinen gefütterten Schamott, wobei er an gefütterte schamhafte Motten denken muss.

Zum schmunzeln auch die brennende Sonde bei Klein-Kopisch, welche mit Büffelblut unter Umständen hätte gelöscht werden können. Übertrefflich diese Metaphern.
Lavinia
schrieb am 23.08.2009, 22:27 Uhr
Noch ein kleiner Gedanke zur Homosexualität und Leos Gefühl der Einsamkeit, welches damit einhergeht, welches er so beschreibt: „Ich habe mich so tief und so lang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken. Ich packe mich nur anders ein, wenn ich rede.“
Vielleicht ist es kein Zufall, dass das erste, frühe ‚Opfer‘ der Deportation der wahnsinnig gewordene Mann mit den Albatrosknöpfen ist, der auf seinen männlichen Verwandten wartete. Albatrosse sind Seevögel, die Seeleuten als Erste Land verkündeten, und gutes Omen bedeuteten. HM beschreibt es so: „Er stand ganz allein und schluchzte mit einer Kinderstimme. Bei ihm geblieben war nur der versaute Schnee. Und hinter ihm die gefrorene Welt mit dem Mond wie ein Röntgenbild.“
Bei dem Bild bekommt das „Verlassensein“ eine ungeheure Dimension. Es verweist auf das Zurückfallen in die eigene Kindheit , in essenzielle Bedürfnisse und reduziert das Verhalten aufs Nonverbale. Außer dem kalten, schmutzigen Schnee hat er nichts mehr. (Die Albatrosse auf seinen Knöpfen flogen(davon?) ) und es klingen die beiden Sätze noch mit und noch nach, die ganz am Anfang des Buches stehen: „Alles, was ich habe, trage ich bei mir. Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.“ Die gefrorene Welt, die hinter ihm liegt, wird durch den Gebrauch des Begriffs allein schon riesig und leer und ist auch ein Verweis auf die Welt aus der er kommt, die abhanden gekommen ist, (so wie ihm sein Verstand verloren gegangen ist). Der Mond ermöglicht die Orientierung auch in der Dunkelheit – ein „Röntgenbild“ taugt dazu nicht…Und die Autorin ‚packt den Verbleib des Mannes ins Schweigen‘…

Lavinia
schrieb am 24.08.2009, 23:16 Uhr (am 24.08.2009, 23:23 Uhr geändert).
Mich hat u.a. interessiert, wie Russland, die Russen dargestellt und erlebt werden.
Ich meine, dass die russische Realität hauptsächlich als eine Art Kulisse und als eine Verlängerung des Lagerdaseins fungiert. Eine Kulisse der Zerstörung. Die Landschaft wird im Vorbeifahren wahrgenommen, öde, karg, reizlos, feindlich.: „Der Wind kam von vorn, die ganze Steppe lief in mich hinein und wollte, dass ich zusammenbreche, weil ich mager war und sie gierig.“ Sie hat den Lagerinsassen auch nicht viel mehr anzubieten als Meldekraut und ihre Weite ist nichts als Auswegslosigkeit. Nicht mal zur Flucht geeignet. Die russischen Erdhunde entziehen sich dem Hunger der Deutschen, die Kartoffeln ziehen ihn nachts in die Erde und die Sterne stechen.
Als Leo im Russendorf bettelt ist der russische Laden leer und die Verkäuferin sucht sich nach Läusen ab. Und an anderer Stelle sagt Leo über die Russen: „Die haben auch so ein Nest im Schädel wie wir, denselben leeren Bauch haben die, wie wir.“
Die Regeln nach denen das Leben zu Hause funktioniert, scheinen in Russland ihre Gültigkeit verloren zu haben:
Leo sagt: „Die Brennesseln wachsen nur dort, wo Menschen wohnen, hatte meine Großmutter gesagt…“ Leo sieht zwar hüfthohe Brennesseln in den Wohnkasernen, jedoch nie Menschen in den Höfen. Er sieht magere Hühner, halbverhungerte Pferde, Häuser mit zerbröckeltem Stuck und rostigen Blechdächern, Asphaltreste, Wohnruinen.
Die Russen aus dem Lager brauchen kein Taschentuch. Sie schneuzten sich direkt auf den Boden.
Als Leo von einer alten Russin ein feines Taschentuch geschenkt wird, traut er sich nicht, es zu benutzen. „Mein Kohletuch, grob und dreckig, hab ich nachher auf der Straße draußen als Taschentuch benutzt. Und nach dem Schneuzen um den Hals gelegt, da war es mein Halstuch. Mit den Halstuchenden hab ich mir im Gehen die Augen gewischt, oft und kurz, dass es nicht auffällt.“
„…die Schönheit der normalen Gebrauchsgegenstände war zu Hause nicht der Rede wert.“ Sagt Leo. Und: „Diese Schönheit tat mir weh.“
Das Geschenk der alten Russin, deren Sohn in ein Strafbataillon nach Sibirien kam, (Leo kann nicht wissen, dass die Verbannung nach Sibirien eine Säuberungsmethode des zaristischen Regimes war, bevor es von den Sowjets übernommen und perfektioniert wurde.) „ein gutes Stück aus der Zarenzeit“ ist ein Hinweis auf die kulturelle Vergangenheit der Russen, die neben der Destruktion und Verrohung noch vorhanden ist, die fast ein so irreales Dasein zu führen scheint, wie die Kulturgegenstände aus der Heimat.(Gamaschen übrigens sollen die Russen durchaus gekannt haben - wie mir auf Anfrage bestätigt wurde) Was sich hier allerdings auch begegnet , sind gleiche soziale Klassen.
(Doch auch in der scheinbar homogenen Zusammensetzung der Lagerinsassen blitzen zuweilen die unterschiedlichen sozialen Klassen durch: In den Erinnerungen, in den Erzählungen, in den Vorurteilen. Zum Beispiel, als Leo von den Familienausflügen nach Schäßburg erzählt, von der Einkehr ins elegante Café Martini.)
Das russische Taschentuch, Symbol der Existenz einer anderen Welt, außerhalb des Hungers, Frierens und der Demütigung, wird zum Träger der Prophezeiung der deutschen Großmutter, dass er wiederkommen würde und wird letztendlich „der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte.“
seberg
schrieb am 25.08.2009, 10:23 Uhr (am 25.08.2009, 10:33 Uhr geändert).
@Lavinia: vergessen hast du die Stelle über den Klang der russischen Sprache in den Ohren der gequälten Deportierten, für die sie – wie schon der Name des Lagerkommandanten Schischtwanjonow – sich anhörte wie ein abstoßendes „Knirschen und Krächzen aus Ch, Sch, Tsch, Schtsch“ sowie aus „Räuspern, Husten, Niesen, Schneuzen, Spucken – wie Schleimauswerfen“, eine "verkühlte Sprache", ein Angst machendes Gemisch aus Befehlston, Verachtung, Fremdheit, Nichtverstehen und dem Inbegriff von gefährlichem Feind, dem man ausgeliefert ist. Da kommt freilich viel auch aus dem subjektiv Erlebten zusammen, beschreibt aber wohl gut die innere Stimmung (Stimme! Hören!)) der verängstigten, von Krankheit, Hunger, Heimweh und Todesangst geplagten Lagerinsassen.

Ich habe mir die wohl etwas abwegige Frage gestellt, was ein/eine „Russlanddeportierte/r“ sagen würde, wenn er/sie das Buch Atemaschaukel lesen würde, und hatte kurz die Vorstellen, dass er/sie es als abstrakte, abgehobene „schöne Literatur“ bezeichnen könnnte, verglichen mit dem dort im Lager Erlebten. Aber die Frage ist ja schon deswegen abwegig, weil
1. kaum noch eine/r dieser Menschen heute noch lebt, und
2. weil diese Menschen (die meisten s.sächsischen Familien waren ja davon betroffen) von der schrecklichen Zeit vermutlich sowieso nichts (mehr) hören/lesen wollten/könnten. Das hört man von deren Nachkommen und Familienangehörigen ja immer wieder.

Außerdem war sich Herta Müller natürlich bewusst, dass sie das Buch erstens eher für spätere Generationen schreibt und zweites nicht nur für die Betroffenen „Deutschen aus Rumänien“.
(Die Erwartung oder Vorstellung, sie hätte das Buch überhaupt für irgendjemand geschrieben, ist ja eigentlich auch abwegig, obwohl einem in diesem Fall sofort Oskar Pastior einfällt. Aber irgendwo sagt sie auch "...Der Literatur bin ich keinen Satz schuldig, sondern mir selber bin ich Sätze schuldig. Mir selber und mir allein, weil ich das, was mich umgibt, sagen können will").

Bevor ich das Buch gelesen habe, hatte ich bestimmte Erwartungen, vermutlich geht/ging es anderen Lesern ebenso. Man hatte ja gehört: Herta Müller schreibt „ein Buch über die Deportation der Siebenbürger Sachsen“. Diese Erwartung ist wohl ziemlich enttäuscht worden, sie musste es wohl auch, Herta Müller hat kein Buch für uns, die SBS, geschrieben, warum auch, das Buch ist einerseits viel enger gefasst – die Hauptperson Leo Auberg steht mit seinem speziellen So-Sein und Erleben sehr im Mittelpunkt – , andererseits viel weiter gefasst: nämlich im Sinne von H.Müllers „Lebensthema“(?) vom Leben und Erleben unter traumatisierenden despotisch-unmenschlichen Bedingungen, und das mit ihren bekannten poetischen und „poetisierenden“ Stilmitteln, die sich hier zusätzlich überLAGERn mit O.Pastiors Sprachartistik. Keine „leichte Kost“ also. Alles andere aber wäre vermutlich eher eine Art Tatsachenbericht über die Deportation gewesen.

der Ijel
schrieb am 25.08.2009, 10:52 Uhr (am 25.08.2009, 13:03 Uhr geändert).
Zu seberg: 1. kaum noch eine/r dieser Menschen heute noch lebt,
www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/alteartikel/4786-rueckkehr-an-den-ort-der-deportation.html

selbst könnte ich auf Anhieb eine Handvoll noch lebende Personen aus meiner Verwandschaft und Bekanntenkreis aufzählen, und der Gedanke ist gar nicht so abwegig, diese Leute nochmal zu versammeln oder zu befragen, sicher würde es dem einen oder anderen schmerzhafte Erinnerungen wachrufen---
und ob diese Generation Verständniss für HM oder OP-Literatur aufbringen würden ?
Vielleicht eine Frau Rose Schmidt welche auch Gedichte zum Erlebten geschrieben.

www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/8714-deportation-in-die-sowjetunion.html
seberg
schrieb am 25.08.2009, 11:06 Uhr
@der Ijel: dann frag doch diese Handvoll etwa 80-jährigen, ob sie von H.Müllers Buch gehört haben, es vielleicht lesen und was sie davon halten. Wären interessante Rückmeldungen.
Elisabeth Packi
schrieb am 25.08.2009, 12:55 Uhr (am 25.08.2009, 14:17 Uhr geändert).
Seberg schrieb:Ich habe mir die wohl etwas abwegige Frage gestellt, was ein/eine „Russlanddeportierte/r“ sagen würde, wenn er/sie das Buch Atemaschaukel lesen würde, und hatte kurz die Vorstellen, dass er/sie es als abstrakte, abgehobene „schöne Literatur“ bezeichnen könnnte, verglichen mit dem dort im Lager Erlebten. Aber die Frage ist ja schon deswegen abwegig, weil
1. kaum noch eine/r dieser Menschen heute noch lebt, und
2. weil diese Menschen (die meisten s.sächsischen Familien waren ja davon betroffen) von der schrecklichen Zeit vermutlich sowieso nichts (mehr) hören/lesen wollten/könnten. Das hört man von deren Nachkommen und Familienangehörigen ja immer wieder.


Hallo Seberg,

Deine Frage ist berechtigt, ich habe mir auch diese Frage schon einige Male gestellt, was würde meine Mutter wohl sagen, wenn Sie lesen würde, dass Kohle-Schaufeln sich wie ein Tango-Tanz angefühlt hat. Würde sich das nicht wie Hohn in ihren Ohren anhören? Aber letztendlich handelt es sich um Literatur und nicht um eine wissenschaftliche Dokumentation.

In dem anderen Punkt muss ich Dir aber widersprechen: Nicht nur dass die Erlebnisgeneration noch lebt, sie organisiert auch jährliche Treffen sowohl in Deutschland als auch in der alten Heimat.

Am 50-jährigen Treffen in München haben 3000 Leute teilgenommen. Das Haus des Deutschen Ostens hat sogar eine Festschrift zu diesem Treffen herausgebracht.

Desgleichen finden derartige Treffen jährlich in allen größeren Städten in Rumänien statt. Im Folgenden eine Mitteilung aus der ADZ vom 16. Janusar 2009, die über das Treffen der Russlanddeportierten in Reschitz berichtet:

"Alljährliche traurige Erinnerung
Treffen der ehemaligen Russlanddeportierten in Reschitza

wk. Reschitza – Trotz extrem widriger Reisebedingungen – es herrschte auf nahezu allen Straßen Westrumäniens Glatteis – waren am Mittwoch Mitglieder der Erlebnisgeneration und deren Nachkommen dem Ruf des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen (DFBB) und des Vereins der Überlebenden der Russlanddeportation aus zahlreichen Ortschaften nach Reschitza gefolgt. Ähnlich wie sie im Ural, in Westsibirien oder im Donezkbecken zusammentrafen, so bunt gemixt waren sie auch in Reschitza anwesend.
In Reschitza waren zu der zur Tradition gewordenen Gedenkveranstaltung an den Beginn der Russlanddeportation ehemalige Russlanddeportierte aus Doman, Steierdorf-Anina, Bokschan/Bocsa, Ferdinandsberg/Otelu Rosu, Lugosch/Lugoj, Nadrag/Nãdrag, Hunedoara, Kalan/Cãlan sowie aus den Schiltalortschaften Petroschen/Petrosani und Vulcan angereist.

Man traf sich erst in der deutschen Alexander-Tietz-Bibliothek, nahm dann an einem Requiem für die verstorbenen Leidensgenossen in der römisch-katholischen Kirche „Maria Schnee“ teil und legte einen Besinnungsmoment vor dem 1995 von Hans Stendl geschaffenen Denkmal ein, das dort steht, wo im Januar 1945 die Deportierten auf ihren Abtransport warten mussten. Kränze legten, unter den Klängen des „Russlanddeportiertenlieds“ („Tief in Russland, bei Stalino...“), das von allen Anwesenden gesungen wurde, Abordnungen der Deportationsüberlebenden aus Ferdinandsberg, Anina, Bokschan und Reschitza sowie zwei Kommunalpolizisten für den Stadtrat von Reschitza nieder."
ADZ, 16. Januar 2009

Und dass die Nachkommen der Erlebnisgeneration kein Interesse an der Aufarbeitung der Russlanddeportation haben, wie Du vermutest, stimmt ebenfalls nicht.

Herta Müller bringt in dem Roman "Atemschaukel" einem breiten Publikum diesen Teil unserer Geschichte, der bist jetzt ein Tabu war, näher. So ein Stück Literatur, das ein breites Publikum erreicht, kann letztendlich mehr bewirken als alle wissenschaftlichen Dokumentationen zusammen, die nur von Insidern gelesen werden, ohne hiermit die Bedeutung der wissenschaftlichen Arbeiten schmälern zu wollen.

Viele Grüße
Elisabeth Packi

seberg
schrieb am 25.08.2009, 14:51 Uhr (am 25.08.2009, 15:03 Uhr geändert).
Hallo Elisabeth Packi,

danke für die wichtigen Hinweise was die Erlebnisgeneration betrifft, da bist du sicher besser informiert als ich.

Was deren Nachkommen angeht, also uns und die nachfolgenden Generationen und deren Interesse an der Aufarbeitung der Russlanddeportation - da bin ich mir nicht so sicher. Es kommt wohl auch darauf an, was man darunter versteht, z.B. wie weit gefasst die Aufarbeitung verstanden wird, usw. Auch war das Thema ja aus sehr unterschiedlichen, z.T. sich widersprechenden Gründen tabu und kann/könnte sicher nicht ohne auch schmerzhafte Erinnerungen und Einsichten aufgearbeitet werden. – Aber vielleicht bin ich zu pessimistisch?

Herta Müllers „Atemschaukel“ ist sicher auch ein Stück Aufarbeitungsversuch, wie du andeutest. Ob aber die Generation der „Gnade der späten Geburt“, also die der Nichtdeportierten, daraus etwas lernt?
Dass ein Buch wie dieser Roman mehr für die Aufarbeitung bewirken kann/könnte als wissenschaftliche Abhandlungen, darin bin nich mir jedenfalls auch sicher.

(was mich beunruhigt, ist meine Überzeugung, dass bestimmte Einsichten und Konsequenzen nur durch eigene Leiderfahrung entstehen. Aber wer weiß, vielleicht bringt wirkliche Kunst und Literatur das auch glaubhaft vermittelt rüber...)
Lavinia
schrieb am 25.08.2009, 21:55 Uhr (am 25.08.2009, 23:14 Uhr geändert).
www.nzz.ch/nachrichten/zuerich/das_buch_vom_hunger_1.3409334.html

@bankban:Zum Thema Radisch und "poetischer Sprache" aus der obigen Buchbesprechung:
"Die Metaphorik mag zeitweise etwas überladen, mitunter auch allzu lyrisch sein. Doch fügt erst sie den kalten Fakten jene visionäre Dimension hinzu, die das Lager in unserem Kopf errichtet."
Herta Müller hatte "keine andere Wahl" als diese ihre 'poetische Sprache' zu benutzen, weil sie durch diese Sprache denkt und Dinge darüber erfahrbar machen kann.

Im übrigen stimme ich vollkommen mit seberg überein, der sagt:"Herta Müller hat kein Buch für uns, die SBS, geschrieben, warum auch, das Buch ist einerseits viel enger gefasst – die Hauptperson Leo Auberg steht mit seinem speziellen So-Sein und Erleben sehr im Mittelpunkt – , andererseits viel weiter gefasst: nämlich im Sinne von H.Müllers „Lebensthema“(!!!) vom Leben und Erleben unter traumatisierenden despotisch-unmenschlichen Bedingungen, und das mit ihren bekannten poetischen und „poetisierenden“ Stilmitteln, die sich hier zusätzlich überLAGERn mit O.Pastiors Sprachartistik."
Dieses "weiter gefaßte Lebensthema" ließ mich mal sagen, dass mich die "politische" Herta Müller (und ich meinte es in dem engen politischen Sinn) nicht besonders interessiert.
getkiss
schrieb am 25.08.2009, 22:12 Uhr
Finde ich auch.
Zitat:
"Wovon erzählt das Buch? Es erzählt vom Hunger. Hunger kann man nicht nachempfinden, Hunger kann man nur erleiden. Der Hunger in diesem Buch hat einen Engel, wohl weil seine Dimension alles Irdische übersteigt. Der «Hungerengel» hat tausend Augen, aber nur einen Mund. Er setzt sich zusammen aus vielen verschiedenen Hungern, er steckt in jedem Detail...."

Ob übersättigte Bundesbürger - auch wir - dieses Gefühl überhaupt verstehen können?
Mit vollem Magen läßt sich gut darüber schwadronieren...
Schiwwer
schrieb am 25.08.2009, 22:41 Uhr (am 25.08.2009, 22:43 Uhr geändert).
Ich habe auch schon überlegt, wie meine Eltern reagieren würden auf die Lektüre. Bei jedem Familientreffen landen wir im Donbass und schon nur diese beiden Betroffenen reagieren unterschiedlich: Meine Mutter verbittert, mit Vorwürfen an das Weltgeschehen und die Ungerechtigkeit die man "den Deutschen" angedeihen ließ (vae victis), mein Vater hat groteske oder schreckliche Ereignisse immer so erzählt, dass man darüber lachen konnte.
Komisch ist, dass er ein Protokoll schrieb mit minutiösen Details, Zahlen und Statistiken, als er gebeten wurde, über das Lager zu schreiben; ein furztrockener Bericht, der uns enttäuschte und nicht im geringsten dem in die Nähe kam, was er mündlich anschaulich erzählte.
Den "Hungerengel" hat er aber immer noch in sich, seine Enkel sahen immer fasziniert zu, wenn er aß. Einer von ihnen fand es witzig, dass er alle Reste vertilgte und stellte ihn seinem Freund so vor: "Das ist Opi, unser Hausschwein"....
Zu seinen Sprüchen, mit denen wir aufwuchsen, gehörte immer der andächtig gesagte Satz, dass die Bohnensuppe die wunderbarste Suppe der Welt sei.
Und als wir endlich nach der Wende der Familie nachgefolgt waren, da war sein erster Satz bei seinem Besuch im Übergangswohnheim: "In so einem Zimmer (ca. 3x4qm) waren wir in Russland zu vierzehnt".

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