Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Kurt Binder
schrieb am 07.09.2020, 09:38 Uhr
Dein Wunsch ist mir Befehl. liebe Ute, Story kommt in Kurtse -
wir müssen nur aufpassen, dass uns die Foren-siker nicht entdecken! Da sich schon mancheiner beim Lesen unsrer Geschichten totgelacht hat, bei der nächsten aber kreuzfidel wieder da war, liegt der Verdacht nahe, dass er sich zum Zombie gewandelt hat!

Rückwirkend zum Spatzendrama:
Hätte das nicht eine leckere Spatzensuppe gegeben? Wenn man bedenkt, das täglich Millionen von Hühnern geköpft werden, wäre das gar nicht so pietätlos gewesen ... ;-))

Kurt Binder
schrieb am 07.09.2020, 11:52 Uhr
Singe, wem Gesang gegeben
„Glücklich ist, wer seine Grenzen zeitig erkennt!" (nicht von Konfuzius)

Im Herbst des Jahres 1959 fand in Hermannstadt auf Betreiben des Volksrates im Stadttheater ein sogenanntes „Program artistic“ statt. Dies war ein Programm, das den kulturhungrigen Genossen sowohl musikalische Darbietungen als auch vergnügliche Sketche anbot. Als dankbare Inspirationsquelle dienten oft ausländische Filme.
Und als eines Tags im Kino der französische Musikfilm „Cîntăreţul mexican“ (Der mexikanische Sänger) lief, in dem Luis Mariano den Song „Mexico“ sang, hörte man in den darauf folgenden Wochen und Monaten privat, im Park oder in Restaurants dies Lied von kleinen Möchtegern-Marianos trällern, mit oder ohne Gitarrenbegleitung. Es degenerierte bald zum lästigen Gassenhauer. Doch gerade diese nervtötende Gewohnheit war die Voraussetzung für einen Impuls, den ich durch die folgenden Goldenen Worte einer lieben Kränzchenfreundin erhielt:
„Kurt, du kannst ja so gut jodeln; willst du nicht auch mal das Mexico-Lied auf der Bühne singen?“ Ich erfreute mich in der Tat einer beachtlichen Kopfstimme. Während unsrer häufigen Gebirgswanderungen hatte ich des Öfteren aus lauter Lust an der Freud einen Jodler gezückt, der nicht selten von den gegenüberliegenden Bergwänden zurückgejodelt wurde.
Es ist mir nicht mehr gewärtig, wo und wie ich mich für die Teilnahme an diesem Program beworben hatte. Da nur noch wenige Tage bis dahin vor mir lagen, übte ich jeden Tag mehrmals diesen vor Lebens- und Liebesfreude sprühenden Song - vor dem Spiegel! Ich studierte genau meine Körperhaltung, die Bewegungen meiner Arme, die Grätsche der Beine, die Hüftschwünge sowie alles, was die Wirkung eines völlig unbekannten Sängers auf das Auditorium positiv unterstützen könnte. Da befand ich mich sogar besser als Mariano, denn der stand stocksteif wie ein Besenstiel da. Zwar wurde mir kurz vor der Aufführung mitgeteilt, dass die Darbietungen den Charakter eines Wettbewerbs zwischen den Teilnehmern hätten. Das störte mich nicht, weil mir ja der Spiegel meine Vollkommenheit täglich bestätigt hatte.
Ein einziger Schatten trübte dieses ansonsten recht aussichtsreiche Unternehmen: Ich konnte mir keine Texte merken! Und dieser Text war – französisch! Also büffelte ich eben so gut ich konnte, und schrieb mir für alle Fälle den Text der Strophen auf den linken Unterarm – tja, und dann war es so weit.
Der Akkordeonspieler, der mich begleiten sollte, sah mich aufmunternd an - ich ihn auch, denn ich war ihm vorher nie begegnet. Die Ansagerin kündigte uns an, der Vorhang schwang zur Seite – und da standen wir beide im blendenden Scheinwerferlicht, den neugierigen, erwartungsvollen Augen des Publikums schutzlos preisgegeben. Das Akkordeon spielte ein paar einleitende Akkorde, der Spieler zischte mir zu: „Mi bemol major - dăi drumul!“ (Es-Dur – leg los). Ich fragte mich noch, warum mir der Kmabe die Tonart mitteilte? Die muss doch er wissen. Und dann legte ich los.
Der Song hat mehrere Strophen. Die ersten paar Verse kamen mir flott über die Lippen. Meine Stimme klang klar und hell, und im Publikum konnte ich sogar mehrere wohlwollend lächelnde Gesichter erkennen. Es stimmte alles, und sogar meine Körperbewegungen – eine Mischung aus Balett, Pantomime und Kriegstanz der Krähenindianer – waren deckungsgleich mit meinem Spiegelbild. Doch dann passierte es.
Kurz vor dem Ende des Refrains „Mexico, Me ... xi ... iiii ...coooo“ fielen mir die nächsten Verse nicht mehr ein. Ich versuchte den Text von meinem Unterarm abzulesen, doch hatte ich leider ein langärmliges Hemd an. Owohl ich verzweifelt versuchte, den von mir mit Stärke behandelten und steifgebügelten Ärmel hochzuschieben, rutschte das widerspenstige Miststück, meinen Auftritt sabotierend immer wieder zurück und verdeckte meinen biologisch-dynamischen Spickzettel. Ich hielt das „ ... iiii ... “ so lange wie möglich, das Akkordeon klimperte eisern mit und wiederholte sekundenlang geduldig denselben Akkord - doch dann ging mir die Puste aus, und ich konnte das „... cooo“, einer Ohnmacht nahe nur noch hauchen.
Doch in der Not frisst der Teufel Fliegen – und der Protagonist des Abends, der Genosse Binder Kurt begann zu improvisieren. Die französische Sprache war mir genügend geläufig, um einen spontan gebastelten Text mit ziemlich französisch klingenden Worten überzeugend in den Saal wallend schallen zu lassen. Zugegeben - ich schwitzte Kümmelsuppe, doch im Saal hatte sich die Anzahl der lächelnden Gesichter exponentiell vervielfacht Und als ich dann beim finalen „Me ... xi ... iiee ...“ das „cooo“ eine ganze Terz höher im hohen C endlos zwitscherte, bis mir der Musikus zurief: „Ajunge, măăă!“ (das reicht, duuu!“), und ich meine Arme zur Salldecke hob, als wolle ich meine Huldiger segnen, tobte der Saal los. Ein donnernder Applaus, garniert mit den immer wiederkehrenden Rufen „Bis ... bis ...!“ („Wiederholen!“) Erst dann erfasste ich die Sachlage voll und ganz: Die Ovationen des Publikums galten - mir! Und ich verneigte mich, wie ich es in Konzerten gesehen hatte, mehrmals, und immer wieder und wieder. Schließlich schloss sich der Vorhang von links und rechts vor meiner Nase, doch ich schob ihn beiseite, trat vor und setzte meine Verneigungen hartnäckig fort. Und die Leute riefen weiter: „Bis, bis!“
Bis sich hinten in meinen Hosenriemen ein dicker Wurschtfinger einhakte und mich mit einem kräftigen Ruck durch die wehenden Hälften des Vorhangs hindurch auf die Bühne zurückzog. Ich riss mich los und wollte mich wieder durch den Vorhang ins jubelnde Rampenlicht wurschteln - doch da stand bereits die Ansagerin und enttäuschte die Leute mit den kunstverachtenden Worten:
„Ne pare rău, dragi tovarăşi, dar la concurs nu se bisează!“ (Es tut uns Leid, liebe Genossen, aber bei einem Wettbewerb wird nicht bisiert!)
Nun, abgesehen davon,, dass ich den Text bei einem Bis sowieso nicht hätte wiederholen können, und abgesehen davon, dass mich nachher auf der Straße jemand lächelnd fragte, in welchem französischen Dialekt ich denn gesungen hätte, war dieser Auftritt wohl das Apogäum meiner Sängerkarriere – ich hatte meine Grenzen erkannt!

Lybelle
schrieb am 07.09.2020, 15:20 Uhr
Mensch Kurt, zum Schießen gut. Tja man muss halt auch improvisieren können. 👍👍👍😆😆😆
Maikind
schrieb am 11.09.2020, 17:48 Uhr (am 11.09.2020, 17:49 Uhr geändert).
Mein Applaus Kurt!!
im Nachhinein kann man immer gut lachen über solche außergewöhnlichen Ereignisse.
Kurt Binder
schrieb am 15.09.2020, 10:00 Uhr
Die Leiden der jungen Werther

Viele Erlebnisse aus meiner relativ spät angesetzten Studentenzeit in Klausenburg sind mir in amüsanter Erinnerung geblieben. Zum Zeitpunkt des folgenden Geschehens wohnten wir im Jungenwohnheim in einem winzigen Zimmer, zu sechst in drei Etagenbetten verteilt. Nun, so merkwürdig es auch klingen mag, aber an das räumliche Problem hatten wir uns schnell gewöhnt und entsprechende Verkehrsregeln eingeführt. Doch da war noch etwas ...
Kommilitone Laurenţiu war schwer verliebt. Seine Angebetete hieß Laura, und wenn er mit verzückten Augen von ihr schwärmte und ihren Namen in den Raum hauchte, war es uns allen klar: Laura und Laurenţiu waren zweifellos füreinander bestimmt. Seine Liebe zu ihr wurde zwar erwidert, denn Laurenţiu war ein gutaussehender, blonder Junge. Doch die Sache hatte einen Haken: Laura ließ ihn nicht an die Wäsche, weil sie jungfräulich keusch bis zur Hochzeit warten wollte. Zwar schmusten sie im dunklen Park vor dem Mädcheninternat bis in die Nacht hinein, doch wenn Laurenţius Hormone anfingen, verrückt zu spielen, beendete ein Klapps auf seine dreisten Pfoten deren Entdeckungsreise, und Laura verließ schnell den Tatort, bevor sie auch schwach wurde. Und so wuchs eben die Anzahl seiner Pickel von Abend zu Abend.
In unserem Zimmerchen wohnte auch ein notorischer Witzbold namens Costică. Wenn Laurenţiu dann nachts ins Zimmer hereinschlich, sich entkleidete und unter die Decke kroch, tat das wacklige, geschwätzige Eisenbett bald minutenlang kund, was er im Grunde von Askese hielt. Und als er wieder einmal - sagen wir so ziemlich jede Nacht - das Notventil öffnete, kam Costică leise an mein Bett und flüsterte:
„Wie es scheint, träumt Laurenţiu wieder von seiner Laura!“
Tja, die postpubertäre Reifungsphase schaffte den wackeren Studiosi eben auch Probleme, die aber meist schnell unter der Hand zu lösen waren - wie unser verliebter Gockel schon nach dem ersten Rendezvous entdeckt hatte. Nun ist der Mensch in vielen Hinsichten steigerungsfähig, und als Laurenţius Liebeswallungen eines Nachts in eine generelle, nimmer enden wollende Ruhestörung umschlugen, und das gepeinigte Bett schrille Hilferufe in den dunklen Raum schepperte, rief Costică, zum ersten Mal richtig verärgert:
„Măi, Laurenţiule, tu îţi dai seama, că distrugi bunul statului?“ „Du, Laurenţiu, bist du dir bewusst, dass du Staatseigentum zerstörst?“ Im selben Moment brüllte das Zimmer vor Lachen, denn alle waren wach und hatten der ekstatischen Rapsodie der Leidenschaft amüsiert gelauscht, und außerdem war das Zitat „Staatseigentum zerstören“ in jenen Jahren ein geflügeltes Wort. Irgendwann hatte Laurenţiu es dann endlich geschafft, und der nächtliche Frieden senkte sich - Onan sei Dank - wieder über unsere schlaftrunkenen Augenlider.
Lybelle
schrieb am 15.09.2020, 16:40 Uhr
😆😆😆Also ein bisserl gemein ward ihr da schon - der arme Bub😇😇😇
Maikind
schrieb am 22.09.2020, 06:04 Uhr
Lieber Kurt
deine kunstvolle Witzverpackung ist ja zum Schreien vor Vergnügen!!

Danke! 👏👏

Drum etwas als kleinen Gegenpol

Leise weht der Abendwind
Sorgsam über moosge Dächer
summt ein trautes Liederkind
nimmt es mit auf Wolkenfächer
in das immergrüne Land.

Mild weht mir der Abenwind
sorgsam in den neuen Haaren
summt das Lied vom Friedenskind
das im Kreis der Ahnenscharen
tanzt den Ewigkeitsmoment.

Kurt Binder
schrieb am 24.09.2020, 08:43 Uhr
Eine originelle Wortprägung, liebe Ute, die „kunstvolle Witzverpackung"!! Gell, ein Witz wäre ja wohl kaum ein Witz, wenn man alles von Anfang an in Klartext bringen würde.
Und Dein "kleiner Gegenpol" - ein echtes Maikind! Er wirkt auf mich wie ein romantisches Stimmungsbild eines Augenblicks, den Du beinahe zwangsläufig in Raum und Zeit eingehen läßt - beeindruckend! Ich behaupte: Klein, aber - OHO!
Kurt Binder
schrieb am 25.09.2020, 14:56 Uhr
Verführte Jugend, entführtes Volk

Meine Erinnerungen gehen etwas weiter zurück, genau genommen - sehr weit! Es sind nun schon viele Jahrzehnte vergangen, seit ich durch eine der denkwürdigsten Phasen meines Leben streifte.
Es war am 25. Oktober 1940, wenige Wochen nachdem General Antonescu König Carol II. zur Abdankung gezwungen und dessen 19-jährigen Sohn Michael zum neuen König Rumäniens ernannt hatte.
Die deutsche Bevölkerung von Hermannstadt befand sich in einer brodelnden „Für-Führer-Volk-und-Vaterland- Hochstimmung": Sie erwartete den Einmarsch der deutschen Soldaten. Für unsere Familie hatte dieser Tag allerdings eine erfreulichere Bedeutung: Meine Schwester Ingeborg Erika wurde geboren!
Rumänische Soldaten hatte ich schon oft gesehen. Doch als ich von deutschen Soldaten hörte, war meine Neugier geweckt, zumal in unserer Familie schon seit längerer Zeit von ihnen gesprochen wurde. Dabei wurden sie mit irgendeinem gewissen Hitler und mit Krieg in Zusammenhang gebracht. Und so lief ich an jenem Vormittag neugierig auf den Großen Ring, auf welchem sich bereits ein große Menschenmenge versammelt hatte. Viele der ungeduldig Wartenden hielten Blumen in den Händen, manche sogar ganze Sträuße.
Mehrere Männer mit einer Binde auf dem rechten Oberarm bemühten sich, die Menschen von der Straße auf die Gehsteige zurückzudrängen, wenn sie sich, von Neugierde getrieben, andauernd zur Straßenmitte begaben und gespannt zur Bahngasse spähten, woher die deutschen Soldaten kommen sollten. Ich musste nicht lange warten.
Vom Bahnhof her hörte ich erst leise, dann immer lauter hallende Jubelrufe, begleitet von knatternden Motorengeräuschen, die sich rasch dem Großen Ring näherten. Die Ordnungsmänner konnten die erregten Massen kaum noch bändigen, die sich immer stürmischer auf die Straße drängten, um die einfahrenden Deutschen möglichst deutlich zu sehen. Und dann tauchten die ersten Fahrzeuge auf, und der aufbrandende Jubel der begeisterten Menge war beinahe ebenso groß wie der ohrenbetäubende Lärm der Fahrzeuge, die nun in geringem Abstand voneinander langsam an uns vorüberrollten.
Voran fuhren einige leichte Kübelwagen, also Geländewagen, die dem heutigen Jeep ähnlich sahen. Es folgten selbstfahrende Flakwagen sowie leichte Schützenpanzerwagen. Dies waren Halbkettenfahrzeuge, die vorne zwei lenkbare Gummireifen-Räder hatten. Am lautesten dröhnten die Panzerkampfwagen, als ihre Ketten über die Pflastersteine ratterten. Zuletzt folgte eine Menge Lastkraftwagen, die hinten vier Räder hatten.
So etwas hatte ich noch nie gesehen. Auf ihnen saßen die deutschen Soldaten in ihren feldgrauen Uniformen, und jeder hielt ein Gewehr in der Faust, das mit dem Lauf nach oben zeigte. Trotz der noch herrschenden Hitze trugen alle einen Stahlhelm, und sie lächelten wohlwollend auf die begeistert winkenden Menschen herab. Zwar sahen einige auch gleichgültig und mit stumpfen Blick in die Gegend, andere ließen müde den Kopf hängen. Aber ein Soldat hatte mir direkt in die Augen gesehen und mich dabei angelächelt – darauf war ich sehr stolz. Alle Fahrzeuge trugen vorne kleine Fähnchen. Diese waren rot und hatten in der Mitte einen weißen Kreis, in dem ein schwarzes Hakenkreuz drin war. Davon noch mehr begeistert begrüßten nun immer mehr Menschen die einrückenden Soldaten, indem sie die rechte Hand schräg nach oben hoben. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, und ich ahnte auch nicht, dass diese rätselhafte Geste in drei Jahren auch für mich zur Pflichtübung werden sollte.
Trotz den Bemühungen der Ordner, die Menschen in Schach zu halten, liefen viele neben den Fahrzeugen einher und versuchten, den teils verlegen dreinschauenden Soldaten die Hand zu reichen. Sie jubelten, lachten fröhlich und warfen Blumen zu ihnen hoch, welche diese auffingen und in ihre Brusttasche steckten. Ich wollte unbedingt auch eine Blume werfen, aber da ich keine dabei hatte, ließ ich mich zu einem Manöver hinreißen, das um ein Haar fatal ausgegangen wäre.
Ich drängte mich in die erste Reihe durch, und als ich eine kleine Lücke zwischen zwei Panzern bemerkte, lief ich vor das nächste heranrollende Ungetüm und hob eine Rose auf. Den gellen Schrei des Entsetzens, der aus der erstarrten Menge aufstieg, hörte ich gar nicht, weil ich im selben Augenblick mit einem schmerzhaften Ruck von einem der Ordner zurückgerissen wurde und auf die harten Basaltsteine stürzte. Erst als ich mich mühevoll mit einem aufgeschlagenem Knie aufrichtete, bemerkte ich die entsetzten Blicke der Menschen um mich herum. Eine weißhaarige Frau band ein Taschentuch um das blutende Knie und fragte besorgt:
„Tut es arg weh?“ Ich schüttelte den Kopf, denn ich spürte tatsächlich keinen Schmerz, weil das Knie von dem harten Schlag betäubt war. Meine Rose habe ich aber dann doch auf einen Laster geworfen. Fast alle Menschen grüßten nun die vorbeirollende Kolonne mit gestreckter erhobener Hand, wobei sie "Hurra" und "Heil Hitler" riefen. Auch ich wurde, trotz meines geschundenen Knies, von dem Freudentaumel der Menge gepackt - und hob nun ebenfalls die rechte Hand hoch. So stand ich in der ersten Reihe unbeweglich da, in einer Pose, die ich zwar nicht verstand, die mir aber das Gefühl gab, nun einer guten Sache angehörig zu sein. Und sie konnte nur gut sein, wenn so viele Menschen im Überschwang ihre ehrliche, helle Freude dazu bekundeten!
Als dann der letzte Laster vorbeigefahren war, verlief sich die Menge nach und nach. Doch ich stand noch, von der Hochstimmung durchdrungen, eine ganze Weile unbeweglich da, die Rechte mit todernstem Gesicht hochgehoben, wobei ich vorsichtig nach links und nach rechts schielte, ob man mich auch bemerke. Die heimwärts eilenden Passanten bedachten mich mit teils wohlwollenden, teils belustigten Blicken, und ein dunkelhaariger junger Mann sagte verärgert zu mir:
„Dute acasă, băiete, nemţii tăi au plecat deja!“ „Geh nach Hause, Junge, deine Deutschen sind schon weggefahren!“. Da wurde mir in meiner Solo-Darbietung unbehaglich zumute, ich verließ den Platz und hinkte nach Hause.
Ja, das war meine erste Begegnung mit deutschen Soldaten. Drei Jahre später wurde auch ich dann als Pimpf in die Reihen der sogenannten „Deutschen Jugend“, der DJ aufgenommen - das Pendant der Hitlerjugend in Deutschland. Da mein Vater (Waffen-SS) sich zu dem Zeitpunkt bereits an der Front befand, waren die Begleitumstände hierfür für unsre Mutter sehr beschwerlich, und für mich alles andre als erfreulich.

Schlusswort: Zu diesem Erlebnis wäre ich für Stellungsnahmen und Meinungen, evtl. von Betroffenen besonders dankbar!
Kurt Binder
schrieb am 07.10.2020, 17:17 Uhr
Die "Blume der Republik"

Die wohl spannenste, aber auch gefährlichste Konfrontation mit der Obrigkeit hatte ich mir leichtsinnigerweise im taufrischen Jugendalter von 18 Jahren erlaubt. Es geschah im Herbst des Jahres 1951. Ich war Schüler im 3. Jahr an der Handwerkerschule für Elektriker (Şcoala profesională de enrgie electrică) in Hermannstadt. In diesem Schuhljahr kam zu unsrer großen Freude ein weiteres Fach hinzu: "Politische Erziehung" (Educaţie politică), das unsrer freien Denkweise einen kategorischen Riegel vorschob und uns in eine bestimmte politisch-ideologische Richtung trimmen sollte. Das Erheiternste an der Sache war der Umstand, dass uns diese sicher fasziniernde Lektüre aus dem Gedankengut Marx' und Lenins von einem Tischlermeister indoktriniert werden sollte! Er hieß Trofin und war der Vater Virgil Trofins, der später Erster Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Jugendbewegung war.
Wir waren damals in jener Klasse sechs deutsche Schüler, alle aus Hermannstadt, und saßen in einer Reihe in der letzten Bank. Für Trofin waren wir von Anfang an ein Pfahl im Auge, denn er zeigte uns deutlich seine Abneigung, und apostrophierte uns häufig als "diese Hitleristen dort hinten". Irgendwann wurde uns dies zu blöd, und wir überlegten, wie wir ihm eins auswischen könnten. Die Aktion „Fensterscheiben“ scheiterte leider. Doch dann kam mir eine Idee.
Aus einem Stück noch feuchtem Gips skulptierte ich ein Edelweiß als Halbrelief mit zwei abwärts geknickten, spitzen Blättern, Größe etwa 5 cm. Ich lackierte es, bestrich es dünn mit Öl und goss flüssigen Gips darüber. So erhielt ich ein Negativ meiner Kreation - eine Gussform. Dann bog ich eine Stecknadel hinter dem Kopf im rechten Winkel ab, hielt diesen mit einer Zange in die Form und goss flüssiges Zinn hinein. Es klappte auf Anhieb, und nachdem es erkaltet war, hielt ich ein richtiges Edelweiß-Abzeichen in meinen Händen. Ich goss mehrere davon und verteilte sie am nächsten Tag an meine mitgeschmähten deutschen Freunde.
Als Trofin in die Klasse trat und wie gewohnt den ersten Blick zu uns nach hinten richtete, erstarrte er. Auf den rechten Revers unserer dunkelblauen Uniform-Sakkos glitzerte silbern je ein brandneues Edelweiß. Er kam ungläubig auf uns zu. .
„Was ... was ist das?“, fragte er verblüfft. Wir sahen uns an und zuckten die Achseln. Ich klärte ihn auf:
„Das ist ein Edelweiß!“
„Und - woher habt ihr die?“
„Selbst gemacht!“ Trofin war perplex.
„Was heißt - selbst gemacht?“, stieß er hervor. „Wie kann man so etwas selbst machen? Das ist eine Lüge. Wer hat sie gemacht?“
Ich stand langsam auf. „Ich!“
„Und - warum?“
„Nun, weil sie mir so gut gefielen!“ Er ließ seinen Blick durch die anderen Reihen schweifen.
„Und warum nur für euch Deutsche?“ Er lauerte förmlich mit seinen typisch verkniffenen Augen auf meine Antwort.
„Das Zinn hat nicht gereicht, und auch die Gussform ist zerbrochen.“ Trofin fauchte mich wütend an:
„Erzähl mir keinen Blödsinn, Binder! Ich weiß genau, was ihr da vorhabt. Das ist ein Symbol aus eurer Hitlerzeit! Die deutschen Gebirgsjäger trugen das an ihren Mützen. Glaubst du, ich könnte mich nicht daran erinnern, an unsere Todfeinde? Ihr nehmt jetzt sofort alle diese Abzeichen herunter, verstanden?“
„Warum denn, Genosse Professor? Es ist doch nur eine Blume, die im Gebirge wächst, und die ich auf der Cozia selbst gepflückt habe. Außerdem heißt sie heute ja ,Blume der Republik!’“ Trofin gab nicht auf.
„Nichts da - sie ist ein faschistisches Symbol und ihr werdet es abnehmen - jetzt gleich!“ Doch wir weigerten uns standhaft. Und als er es mir abnehmen wollte, trat ich einen Schritt zurück. Schimpfend ging er zum Katheder.
„Das werdet ihr bereuen - das schwör ich euch!“ In der großen Pause wurden wir in die Direktion zu Direktor Boboc gerufen.
„Hört zu“, knurrte er mit der gefährlichen Ruhe einer lauernden Bulldogge. „Ihr nehmt jetzt vor meinen Augen diese Abzeichen ohne jeden Kommentar herunter, und ich will die Angelegenheit vergessen. Wenn ihr das nicht tut, dann könnt ihr euch die Folgen eures Wahnsinns kaum vorstellen!“
Wir wussten genau, dass wir im Mindestfall von der Schule fliegen würden. Das wollten wir nicht riskieren, weil wir froh waren, als Söhne von SS-Männern sieben Jahre nach dem Frontwechsel Rumäniens überhaupt an einer Schule einen Beruf erlernen zu dürfen. Wir sahen uns an. Da wir auf einen Pyrrhus-Sieg gar nicht scharf waren, nahmen wir langsam die silberglänzenden Abzeichen herunter und steckten sie in die Tasche. Boboc nickte zufrieden.
„Gut so! Und jetzt geht in eure Klasse zurück!“
„Ja, sollen wir sie denn nicht bestrafen?“, fragte Trofin verblüfft.
„Lass nur“, meinte der Direktor, „wir werden sie vorläufig nur beobachten - aber ab heute sehr genau!"
Dies Ereignis hatte noch ein kleines Nachspiel. Es wurmte mich, dass meiner Kreation, auf die ich so stolz war, nur ein so kurzer Auftritt vergönnt war, und ich steckte mein Edelweiß auf die Rückseite des Revers an. Am nächsten Morgen in der Klasse stellte ich meinen Freunden meine Lösung vor. Sie feixten mich fröhlich an und wendeten langsam ihre Revers - und auch hier glitzerte es silbrig. Somit fühlten wir uns moralisch rehabilitiert.

Zu Hause in meinem kleinen Privatmuseum BINDERINUM prangt auch eine perfekte Nachbildung aus Silber, gefertigt 69 Jahre danach von meiner Tochter Runa Verdandi (selbstständige Schmuckkünstlerin), nach einem Foto von damals und meinen ungefähren Angaben.
Lybelle
schrieb am 07.10.2020, 18:47 Uhr
Donner Wetter, mein Respekt Kurt. Das ist ja Allerhand. Gut das es glimpflich ausgegangen ist; dene die etwas mehr zu sagen hatten konnte man selten trauen. Ich wurde auch oft als Hitlerist beschimpft; auch nach dem Gym in der Arbeit beim Electromontaj Sibiu, aber ich hab mir gedacht die sind bloß neidisch weil es doch meistens hieß "să facem un lucru nemțesc". 🤣🤣🤣🤣🤣
Kurt Binder
schrieb am 08.10.2020, 08:43 Uhr
Welch ein Zufall! Nach Beendigung der Schule im Jahre 1952 wurde ich beinahe nahtlos mit zwei deutschen Schulfreunden aus Hermannstadt - bei der Elektromontaj angestellt, und hab dort 3 Jahre lang auf Baustellen gearbeitet. Erst 2 Jahre, in Hatzeg stationiert an der 110 Kilovolt Hochspannungsleitung (Metallmasten, von Petroşani nach Hunedoara), dann ein Jahr lang in Mühlbach (Petersdorf) an der Installation von Großtransformatoren für diese Leitung.
Lybelle
schrieb am 08.10.2020, 18:20 Uhr
Das ist schon Zufall, ich war auch etwa 3 Jahre beim Electromontaj Sibiu beim Laborator PRAM. Wir haben die Erdleitungen der Hochspannungsleitungen geprüft und die stații de transformare 220Kw 110Kw und auch unterirdische Kabel. Sogar mal in einer Waffenfabrik😄😄😄
Maikind
schrieb am 10.10.2020, 08:10 Uhr
Sehr wertvoll solche Erinnerungen...

Leider gab es ja nicht immer so harmlose Spannungen in der Vergangenheit aufgrund der politischen Gesinnung.
Kurt Binder
schrieb am 17.10.2020, 10:00 Uhr
Im Banne des Feuers

Es war im Jahre 1947. Ich war bereits in der Tertia des Knabengymnasiums auf dem Hundsrücken. Im Fach Physik wurden wir von Professor Schuster unterrichtet. Eines Tages fragte er uns, ob wir wüssten, wie man Feuer macht. Er hielt wacker den gebündelten erstaunten Blicken der ganzen Klasse stand, und überstand auch die entrüsteten Hinweise auf Zündhölzchen, Feuerzeug und Brennglas. Den Unterton "wie kann man nur so dumm fragen?" überhörte er. Doch dann kam das Gegenargument, das uns die Münder offen ließ.
"Wenn ihr also nach einem Schiffbruch um euer Leben schwimmt, zufällig auf einer Insel ankommt - meint ihr nicht, dass da alles, was ihr noch bei euch habt, völlig durchnässt ist?"
Wir schwiegen und fühlten uns in die Enge getrieben. Herr Schuster erzählte uns, dass früher die Urmenschen das Feuer sicher nur durch Zufall, z. B. nach einem Blitzschlag entdeckt hatten. Irgendwann seien sie draufgekommen, dass durch das Aneinanderreiben zweier trockener Hölzer Wärme entsteht, wenn man diese während des Reibens mit großem Druck aufeinander gleiten lässt. Und wenn man genügend lange reibt, käme zumindest ein Holz zum Glühen, und davon könne man mit etwas trockenem Moos ein Feuer anfachen.
Er holte aus dem Raum nebenan zwei lange, dicke Holzlatten, und wählte aus der Klasse vier kräftigere Jungs aus. Zwei mussten die eine Latte auf dem Katheder festhalten, und die anderen beiden begannen, die zweite Latte auf der ersten senkrecht zu dieser hin- und herzubewegen, indem sie diese fest draufpressten.
Es war unglaublich. Schon nach wenigen Minuten verbreitete sich in der Klasse ein brenzliger Geruch, und von der geschwärzten Reibungsstelle quoll tatsächlich erst in dünnen, dann in immer dichter werdenden Schwaden grauer Rauch auf. Leider stoppte Herr Schuster den Versuch, bevor das Holz zu glühen begann, doch wir waren trotzdem alle überzeugt, dass unsere Ahnen auf diese Weise ihre Wurst gebraten hatten. Dieser Versuch sollte jedoch ein Nachspiel haben, das nicht alle amüsant empfunden hatten.
Wir gaben uns mit dem mageren Ergebnis der Bemühungen Herren Schusters natürlich nicht zufrieden, denn ein paar sich ringelnde Rauchschwaden waren noch lange kein Feuer.
Da Herr Schuster die Versuchs-Latten wieder in das andere Zimmer gesperrt hatte, mussten wir in Ermangelung von geeignetem Holz eben improvisieren. Und wie der Zufall so spielt, entdeckte eines der Adleraugen, dass an der Rückenlehne einer Schulbank die obere Latte locker in nur zwei Schrauben hing. Nun, der Rest ergab sich von selbst.
Wie wir ja von unserem athletischen Turnlehrer Binder, alias Miklosch gelernt hatten, genügten ein paar harte Handkantenschläge, um die Tatwaffe aus ihrer lächerlichen Verankerung sanft herauszulösen. Und sofort begann in memoriam unserer Ururur-usw-Großväter das nicht nur die Herzen erwärmende Ritual. Je zwei der kräftigeren Buben postierten sich an den Enden der zwei Meter langen, hochkant gestellten Latte, und bewegten diese unter hohem Druck auf der darunter liegenden befestigten hin und her. Wir anderen feuerten sie mit lautem „Hau ruck ... hau ruck!“ an, genau synchron mit dem Pendelrhythmus der Latte, wobei ich eine Terz höher hauruckte, und somit mit der zweiten Stimme den monotonen Chorus harmonisch veredelte
Diesmal stellte sich der Erfolg viel schneller ein, und schon nach wenigen Hüben begann es zu qualmen und zu stinken. Das beflügelte die vier Reiber natürlich noch mehr, und bald war eine mindestens einen Zentimeter tiefe, schwarze Nut in die untere Latte gebrannt.
Während dieser kreativen Tätigkeit der Neuentdeckung des Feuers hatte sich das Quietschen der gefolterten Latten mit dem rhythmischen Chorus der An-Feuernden immer mehr hochgeschaukelt - und so war uns leider entgangen, dass der Schuldiener Herr Müller mit offenem Mund im Türrahmen stand und uns entgeistert zusah. Und dann folgte, was folgen musste!
Nachdem er die „verflixten Bengel“ verjagt hatte, teilte er uns am nächsten Tag mit, dass „er und der Herr Direktor" beschlossen hätten, dass alle Schüler die Pausen im Hof verbringen müssten. Das war freilich hart, da aber der Pedell nicht mit Allgegenwärtigkeit gesegnet war, fanden wir doch manchmal Gelegenheit, ihn auszutricksen, um zum Wohle der Menschheit das Feuer neu zu entdecken - wie die zunehmende Anzahl der schwarzen Kerben in den Rückenlehnen der Bänke zu unsrer aller Ehrenrettung eindeutig bewies.

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