Herta Müller . Ehrung

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Lavinia
schrieb am 05.07.2009, 20:12 Uhr
Herta Müller sagt z.B. zum Thema Dorf/Dorf ihrer Kindheit:

"Jeder ort, jede umgebung ist dazu in der lage, einen einzelnen menschen kaputt zu machen. Überall auf der welt. In diktaturen wird es noch einmal verstärkt, weil der staat noch einen draufsetzt. Darum sind ja diktaturen so furchtbar. Mir ist das dorf nicht verhaßter und nicht lieber, als andere orte auch. Für mich ist es einfach der ort meiner kindheit."

Und zum Thema 'Heimatliebe':

"Heimatliebe war etwas, was das system einem abverlangte. Natürlich war es staatsliebe und keine heimatliebe, denn wenn man das land als gegend und die menschen geliebt hätte, hätte man nicht mehr staatstreu sein können, weil der staat genau die kaputt gemacht hat."

Zur Relation Dorf -Staat sagt sie:

"In gewissem Sinn war das, was ich später als 'totalitär' und als 'Staat' bezeichnete, die Ausdehnung dessen, was ein abgelegenes, überschaubares Dorf ist." …"Der deutsche Frosch aus den Niederungen ist der Versuch, eine Formulierung zu finden, für ein Gefühl – das Gefühl überwacht zu werden" … "Der deutsche Frosch, der schon im kleinen Dorf auf das schielte, was später für mich der Staat werden sollte, wurde später der Frosch des Diktators"

.....Könnte ein Gesprächsanfang sein...?



Adine
schrieb am 05.07.2009, 21:01 Uhr
Ein Dorf wie ein totalitärer Staat? Der Vergleich ist nicht ohne.
In einem Dorf, wo jeder jeden kennt (oder es zumindest glaubt)ist man nicht frei. Die Zensur ist überall.
Man beobachtet dich, beurteilt dich, setzt Erwartungen an dich...und wehe man entspricht nicht der Norm!
Man ist gefangen. Entweder man beugt sich und gibt sich selbst auf oder versucht zu entkommen.
Ein Dorf wie eine Miniatur eines Staates.
Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass ein Staat über ein einsehbares Gesetzbuch verfügt, im Dorf ungeschriebene Gesetze gelten.
Das Geschrei im Dorf kann dich genauso töten wie die Strafe eines Unrechtstaates.
Schiwwer
schrieb am 06.07.2009, 17:26 Uhr (am 06.07.2009, 17:28 Uhr geändert).
Die Hitze dieser Tage ist auch hier zu spüren; launig und launisch könnte man fast werden.

Erinnert Ihr euch, wie die Luft stand in den Straßen der siebenbürgischen oder Banater Dörfern, alles wie ausgestorben tagsüber und erst gegen Abend begann das Rumoren.

Was davon übrig geblieben ist, könnte man nachlesen in Andrzej Stasiuks Reportagen "Unterwegs nach Babadag". Das sind Reportagen über ein aussterbendes Europa, nicht nur auf Sachsen bezogen - beim Lesen entstehen förmlich die Ortschaften der Kindheit vor dem inneren Auge und man riecht den Staub der Straßen, die braunen Wiesen, den "Birt" (det Letchef), die abends heimkehrende Herde, aber ohne die Kinderhorden, die in den sechziger Jahren noch vorhanden waren.

Stasiuk beobachtet, schreibt Reportagen.
Herta Müllers literarische Bilder bewirkten bei mir ähnliche Reaktionen: Vieles erscheint bekannt, wie mit Kindern umgegangen wurde, wie fest Vorurteile saßen (und sitzen), wie menschliches Versagen totgeschwiegen wurde, um den Schein zu wahren, um die "Einheit" und "Einigkeit" der sehr kleinen Welt, in der wir lebten, nicht ins Wanken zu bringen und oft musste ich denken, "so hätte ich es auch gerne für mich formuliert" - wenn ich darauf gekommen wäre. Deshalb ist es für mich überhaupt nicht von Bedeutung, wie sie als Privatperson ist oder was sie darstellt, ihr Werk bedeutet mir etwas, weil es etwas bei mir bewirkt und das in einer außerordentlich plastischen Sprache.
Natürlich möchte man mehr über die Person erfahren, die solches fertigbringt, nur ist das nicht hauptrangig.
Sollte man Hermann Hesse nicht mehr mögen, nur weil er seine ersten beiden Ehefrauen ruiniert hat?
Wie liebt man die schönen Zitate aus "Der kleine Prinz!" Und wird deshalb der Autor Antoine de Saint-Exupéry verdammt, obwohl er ein Kotzbrocken war?
Wittl muss ich widersprechen.
Sie sagt: ".. nur gut dass wir in alle 4-Winde verstreut sind, Einheimische hätten andernfalls (mit uns) "zu hauf" Probleme..."
Einheimische haben schon mit sich selbst genug Probleme, und ich versichere Wittl, dass die Leute in dem Dorf, in dem ich lebe, sich genauso gegenseitig das Leben schwer machen, obwohl sie nur einen Katzensprung von der Großstadt entfernt sind. Es menschelt überall.




Lavinia
schrieb am 06.07.2009, 21:32 Uhr (am 07.07.2009, 18:57 Uhr geändert).
Ich denke, es ist am besten Herta Müller selbst das Wort zu erteilen; deshalb habe ich noch ein paar Zitate zusammengestellt. Die Auswahl der Zitate richtet sich auch ein bisschen nach den Vorwürfen, die hier inflationär vorgebracht wurden und es sind auch die absolut gleichen Argumente wie jene Ende der 80-er...

Warum sie schreibt….

„Ich muss das schreiben, was mich am meisten beschäftigt. Literatur ist doch immer von dort ausgegangen, wo beim Autor die Beschädigung am tiefsten war. Ich bin keine Ausnahme. Ich suche mir mein Thema nicht aus, ich werde von ihm abgeholt, sonst müsste ich doch nicht schreiben.“

...was sie schreibt

Auf die Frage, ob das eine Autobiographie sei, antwortet sie. „Nein, überhaupt nicht. Georges Arthur Goldschmidt sagt über seine Bücher „autofiktional“. Mir hat das Wort sehr eingeleuchtet, und das ist auch genau das, was du gesagt hast, also natürlich eigene Erfahrung als Hintergrund, aber sehr stark literarisch bearbeitet, und dadurch wird das Fiktion. Also ich habe überhaupt nichts in meinen Büchern so aufgeschrieben, wie es war. Ich brauche aber diese sichere Beziehung zu der Erfahrung, um in die Fiktion zu gehen. Die fiktionale Realität muss auch bei der Rezeption ihre Glaubwürdigkeit haben. Ich muss vielleicht zwanzig Verhöre erlebt haben, damit ich eines erfinde.“

Die „erfundene Wahrnehmung“ und zu der Frage, ob sie eine sowohl ästhetische, als auch eine politische Haltung sei, antwortet sie:
„Je mehr Restriktionen es in einem Staat gibt, wird ja das vordergründig politisch, wodurc h ein System sich angegriffen fühlt. Insofern ist das politische sehr oft da, weil das System sich attakiert fühlt, weil es meint, dass es Dimensionen gibt, und das sind sehr wohl auch die ästhetischen Dimensionen, die unberechenbar sind. Dadurch wird das Ästhetische als Phänomen ein vordergründiger politischer Faktor in einer Diktatur, weil das Regime das so sieht. Das kommt in erster Linie als Reaktion des Staates und nicht von einem selbst.“

…wie sie schreibt

„Wenn ich die Bücher anderer Autoren lese, ähnelt das Schreiben dem Reden. Wenn ich selber schreibe, rede ich mir nur in den eigenen Mund, da ähnelt das Schreiben dem Schweigen.“

„Das Gelebte als Vorgang pfeift aufs Schreiben. Nur durch völlige Veränderung wird das Gelebte mit Worten so kompatibel, dass ein Satz dem Gelebten wieder ähneln kann. Das Gelebte lässt sich niemals eins zu eins mit Worten fangen, es muss demoliert und auf Worte zugeschnitten werden.“

„Träume spielen in meinen Texten eine große Rolle, und ich weiß auch nicht, wo das Surreale anfängt. Für mich ist Surrealität nicht etwas anderes als Realität, sondern eine tiefere Realität.“

„Sätze sagen immer etwas, was sie nicht sagen. Sonst ist es ja keine Literatur. Das Gewicht, ist oft jenseits der Sätze. Und es gibt den ganz kahlen Text, der hochgradig poetisch ist durch seine Kargheit, und es gibt den metaphorischen Text, der hochgradig poetisch ist durch seine Metaphern.“

„ Ich befinde mich auch immer vor dem Problem, wie beschreibt man Diktatur? Es wäre ja furchtbar, ein pädagogisches, ideologisches Buch zu schreiben mit umgekehrten Vorzeichen, wie es im Sozialismus selber geschrieben werden sollte. Man kann kein holzig realistisches Buch über eine Diktatur schreiben.“


der Ijel
schrieb am 07.07.2009, 11:28 Uhr (am 07.07.2009, 11:40 Uhr geändert).
Lavinia zitiert:
„Sätze sagen immer etwas, was sie nicht sagen. Sonst ist es ja keine Literatur.--- hiermit bin ich einverstanden
selbst habe ich Lyrik mal so versucht zu beschreiben:
Lyrik besitzt die Kraft das ungesagte auszusprechen.-----

wenn ich jedoch diesen Begriff richtig zu deuten vermag: "holzig realistisch" dann glaube ich dass dieses, gerade dieses mit der "Symphonie der Freiheit" ihrem Autor gelungen ist.
Lavinia
schrieb am 07.07.2009, 21:40 Uhr (am 07.07.2009, 21:43 Uhr geändert).
Ich denke, dass ein etwas längerer Text von Herta Müller einen besseren Einblick in ihre Gedankenwelt gibt und auch einen Eindruck über ihre Glaubwürdigkeit vermittelt. Ich habe einen kleinen Auszug aus der Reihe „Abiturreden“ (Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2001) ausgesucht.

„Viele deutsche Schriftsteller wiegen sich in dem Glauben, dass die Muttersprache, wenns darauf ankäme, alles andere ersetzen könnte. Obwohl es bei ihnen noch nie darauf angekommen ist, sagen sie: Sprache ist Heimat. (…) Wer als Deutscher Sprache ist Heimat sagt, steht in der Pflicht, sich mit denen in Beziehung zu setzen, die diesen Spruch geprägt haben. Und geprägt haben ihn die Emigranten, die Hitlers Mördern durch Flucht entkommen waren. Auf sie bezogen, schrumpft Sprache ist Heimat zu einer blanken Selbstvergewisserung. (…) Leute, deren Heimat sie nach Belieben kommen und gehen lässt, sollten diesen Satz nicht strapazieren. (…) Aus ihrem Mund kommend, blendet der Satz die Tragik der Geflohenen aus. Er suggeriert, dass Emigranten vom Zusammenbruch der Existenz, von der Einsamkeit und dem für immer zerbrochenen Selbstverständnis absehen könnten, da die Muttersprache im Schädel als tragbare Heimat alles wieder gutmacht. Man kann nicht, man muss seine Sprache mitnehmen. Nur wenn man tot wäre, hätte man sie nicht dabei – aber was hat das mit Heimat zu tun.
Ich halte mich an einen Satz von Jorge Semprun. (…) Semprun sagt: „Im Grunde ist meine Heimat nicht die Sprache (…), sondern das, was gesprochen wird.“ Er weiß um das minimale innere Einverständnis mit den gesagten Inhalten, das man braucht, um dazuzugehören. Wie sollte im Franco-Spanien das Spanische ihm Heimat sein. Die Inhalte der Muttersprache richteten sich gegen sein Leben. (…)
Wenn am Leben nichts mehr stimmt, stürzen auch die Wörter ab. Hinzu kommt noch, dass alle Diktaturen, die rechten und die linken, die atheistischen wie die göttlichen, die Sprache in ihren Dienst nehmen. In meinem ersten Buch über eine Kindheit im banatschwäbischen Dorf zensierte der rumänische Verlag neben all dem anderen sogar das Wort Koffer. Es war zum Reizwort geworden, weil die Auswanderung der deutschen Minderheit tabuisiert werden sollte. (…)
Die verordnete Sprache begegnete mir schon im Kindesalter täglich in der Schule. Einerseits als Wiederholung von Lobgesängen und Feiertagsritualen für Partei und Vaterland, als mitten in die Kindheit gelegte Einübung ins bedingungslose Gehorchen und als Verhinderung des eigenen Denkens und aller individueller Eigenschaften. Andererseits begegnete mir die verordnete Sprache als von zu Hause mitgegebene Mahnung, in der Schule vor anderen über alles zu schweigen, was zu Hause in der Familie gesprochen wurde. (…)
Auch in Demokratien ist die Sprache kein unpolitisches Gehege. Sprache ist nicht außerhalb des Lebens. Man muss ihr ablauschen, was sie mit den Menschen tut. In jedem Kontext trägt sie ihre Absichten vor sich her. Wenn man hinhört, kann sie nicht verbergen, was sie mit Menschen im Sinn hat. Und was sie mit Menschen tut, war und bleibt das einzige und für jeden von uns unabdingbare Kriterium, Sprache zu beurteilen.“ (aus: „ Heimat ist das, was gesprochen wird“)

getkiss
schrieb am 08.07.2009, 00:05 Uhr
@Herta Müller:
"Wenn am Leben nichts mehr stimmt, stürzen auch die Wörter ab. Hinzu kommt noch, dass alle Diktaturen, die rechten und die linken, die atheistischen wie die göttlichen, die Sprache in ihren Dienst nehmen."

Eigentlich falsch, wie auch später im Zitat ersichtlich.
Die Diktaturen nehmen die Sprache nicht in ihren Dienst, sondern mißbrauchen und vergewaltigen Sie. Die Wörter werden aus ihrem ursprünglichen Kontext und ihrer eigentlichen Bedeutung herausgerissen und in einem Kontext mißbraucht der dem ursprünglichen widerspricht.
Dies geschah sogar in dem Slang der Straße, z. Bsp. wenn die Rede über einen Flüchtling war, nicht nur in der Sprache der Flüchtlinge, sondern sogar im rumänischen.
Der Flüchtling wurde mit "a fugit" (ist weggelaufen) bezeichnet, weil dieses Wort verschleiert, dass nur aus Gefangenschaft geflüchtet wird.

"In meinem ersten Buch über eine Kindheit im banatschwäbischen Dorf zensierte der rumänische Verlag neben all dem anderen sogar das Wort Koffer. Es war zum Reizwort geworden, weil die Auswanderung der deutschen Minderheit tabuisiert werden sollte. (…)"

Auch (mindestens) unvollständig. Das Wort Koffer wurde gestrichen, nicht weil die "Auswanderung tabuisiert" werden sollte, sondern weil in der ersten Zeit den Auswanderern die Ausreise nur mit einem Koffer erlaubt wurde - sie mussten ALLES zurücklassen, die Ausreise per Flugzeug war "Pflicht"....Der Koffer war nicht das Symbol der Auswanderung, sondern der AUSPLÜNDERUNG.

Lavinia möchte mit dem wiederholten Zitieren von Originaltexten die Ehrung von Herta Müller erreichen.
Obwohl Lavinia andere kritisiert, sich nicht mit dem Oeuvre der Schriftstellerin bzw.dem Thema des Threads zu befassen, tut Sie es selbst auch nicht, bzw. kaum. Möglicherweise tut Sie es weil Ihr die Art von Gibson´s schreibe über HM nicht gefällt.
Es reicht aber nicht Originaltexte zu zitieren.
Zur Ehrung gehört sowohl das Lob, wie auch die Kritik.
Denn wenn HM die Diktatur und ihren Einfluss auf die Sprache und Denke nicht vollständig beschreibt, dient das in gewisser Weise auch der Verschleierung des Wesens der Diktatur.
Lavinia
schrieb am 08.07.2009, 00:38 Uhr
Ganz absichtlich stelle ich die Texte Herta Müllers unkommentiert rein, gebe keine eigenen Lese- oder Deutungshinweise - in bewußter Abgrenzung zu der unsäglichen Manipulation, Missdeutung und Mutilation, die sie/ihre Texte erfahren haben... Ganz absichtlich stelle ich keine Auszüge aus ihrem literarischen Werk rein, sondern nur Auszüge aus Interviews, Artikeln, Festschriften...
Nicht meine Meinung steht im Vordergrund,sondern die Meinung jedes Einzelnen ist wichtig. Meine Meinung, die ich ggf. auch äußern werde, ist nur eine von vielen, vielleicht sehr unterschiedlichen Meinungen...so sehe ich das.
Johann
schrieb am 08.07.2009, 11:43 Uhr (am 08.07.2009, 11:50 Uhr geändert).
Schiwwer schrieb:
Sollte man Hermann Hesse nicht mehr mögen, nur weil er seine ersten beiden Ehefrauen ruiniert hat?

Wurde Hesse von irgendeiner Institution geehrt, weil er ein besonders einfühlsamer Ehemann war?

Um welche Ehrungen geht es denn?

1. Literarische Preise.
Manche behaupten, dass es eine Inflation von literarischen Preisen gibt und so auch zweit- und drittklassige Autoren prämiert werden.
Ich bin anderer Meinung. Warum sollen nicht auch drittklassige Schriftsteller Geld bekommen? Auch drittklassige Fußballspieler bekommen enorme Summen. Hinzu kommt: Masse bedingt Klasse. Die höchste Anzahl und die besten Fußballer findet man in Brasilien, dasselbe gilt beim Schach, da führt sowohl quantitativ als auch qualitativ Rußland.
Frau Müller hat meiner Meinung nach zu recht literarische Preise bekommen!

2. Nobelpreis.

Ich bin Laie, würde aber sagen, dass Hesse eine andere Liga ist wie Müller. Das Nobelpreiskomitee hat ja auch in der Vergangenheit drittklassige Schriftsteller prämiert.
Wenn nun eine Landsmäninnen das Glück hat, unberechtigterweise eine so hohe Auszeichnung zu bekommen, dann ärgert mich das nicht besonders.

3. Dissidenz
Ganz anders sieht es aus, wenn sie unberechtigt einen Preis erhält, der Charakterstärke hervorhebt.
Mein Hauptgrund Rumänien zu verlassen, war die Umwertung aller Werte. Da wurden Verbrecher als Humanisten geehrt.

Es war keine große Leistung, der Kommunistischen Partei nicht beizutreten. C. 90 % der Bürger waren KEINE Parteimitglieder.
Im Gegenteil war es eine besondere Charakterschwäche sich freiwillig, ohne Druck einer bekannten Verbrecherorganisation beizutreten.
Die Parteimitgliedschaft ist keine Privatangelegenheit mehr, wenn man als Dissidentin geehrt wird. Im Gegenteil aufgrund des politischen und sozialen Engagements kann man erst entscheiden, ob jemand solch eine Ehre gebührt.

Es sollen ja nicht die literarischen Figuren prämiert werden, sondern Frau Müller als Person und da kann man solch konkrete Fragen nicht mit fiktionalen Antworten begegnen. Bevor Sie die vielen Fragen nicht beantwortet, finde ich Sie als sogenannte Dissidentin untragbar.
Schiwwer
schrieb am 08.07.2009, 14:54 Uhr (am 08.07.2009, 15:15 Uhr geändert).
@Getkiss:
"Zur Ehrung gehört sowohl das Lob, wie auch die Kritik."
Richtig. Soweit ich Lavinia recht verstanden habe, setzt sie Texte von HM hierher, dass auch die Originalsprache von HM zu hören ist; in den Diskussionsforen davor hatte ich den Eindruck, dass HM oft von solchen verurteilt wurde, die ihre Werke gar nicht gelesen hatten. Natürlich kann Lavinia nur Bruchstücke hier anführen...

"Denn wenn HM die Diktatur und ihren Einfluss auf die Sprache und Denke nicht vollständig beschreibt, dient das in gewisser Weise auch der Verschleierung des Wesens der Diktatur."
Wer kann so etwas vollständig beschreiben?
Getkiss nimmt das Beispiel "Koffer".Dass es bei Getkiss mehrere Assoziationen auslöst, ist gewollt. Das geschieht bei denen, die diese oder ähnliche Erfahrungen hatten. Um völlig Ahnungslosen die Diktatur zu erklären, braucht es solche kleinen konkreten Beispiele, die zeigen, wie etwas Selbstverständliches wie Reisen zu einem Staatsakt wurde.
Dann wird das konkrete Wort "Koffer" zur Metapher für all das, was es bei Getkiss ausgelöst hat.

HM kann doch wohl nicht alles auswalzen - nur ihre eigenen Erfahrungen in ihrer eigenen Sprache. Alle Erfahrungen von allen zu decken, das ist unmöglich!
Somit finde ich den Vorwurf der Verschleierung unberechtigt; das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.

Meine kleinen Beispiele für das was Diktatur war:
- dass ich keine Schreibmaschine hatte und dass mein Vater meine Diplomarbeit mit zwei Fingern auf einer alten ramponierten Schreibmaschine im 2-Finger-System tippte.
- dass ich IMMER NOCH, jedes Mal auf der Autobahn zusammenzucke, wenn ich die Polizei hinter mir sehe und sofort meine Antworten überlege, wohin ich fahre, wo meine Papiere sind
- an jeder Grenze der EU kriege ich, IMMER NOCH, einen leichten Koller und sagen allen meinen Mitfahrern feierlich, "hier ist die Grenze von Österreich, Italien etc". Anfangs war ich enttäuscht, dass meine Kinder das zum Gähnen fanden und nichts wissen wollten. Jetzt sage ich "die Glücklichen".

Getkiss, ist es Ihnen gelungen, Ihrem Nachwuchs zu erklären, was Diktatur ist, ohne dass sie es zum Gähnen finden oder "Nicht schon wieder" signalisieren?

Da finde ich die knappen Texte der Herta Müller geeigneter, ob es ihre Reden oder literarischen Texte sind.

@ Johann, es gab eine Zeit in RU, da musste die Zusammensetztung z.B. der großen Nationalversammlung prozentmäßig die "Gesellschaft" widerspiegeln. Soviel Prozent Männer, Frauen, soviel Prozent Ungarn, Deutsche, soviel Prozent Arbeiter, Bauern, Intellektuelle, soviel Prozent UTC, Parteimitglieder, Nichtparteimitglieder. Ja, und da gab es Fälle (ich persönlich kenne 3 davon, machen Sie eine Hochrechnung), da brauchte man noch Delegierte für irgendeinen Kongressschmarrn und hatte in der Kategorie: Deutscher, Mann, Intellektueller blabla Parteimitglied blabla noch Kandidaten nötig. Und die wurden - in diesen konkreten Fällen so "gemacht": "Nu-i aşa, toţi de aici sînteţi de acord, în unanimitate, ca tovarăşul XY este demn să fie membru de partid. Ia Carnetul, plăteşte cotizaţia şi luni te duci la Congres." Und dort, beim Congres, war es auch schon ganz genau festgelegt, neben wem der deutsche Delegierte zu sitzen hatte und mit wem er ins Hotelzimmer zugeteilt wurde.
Mit den Prozenten wurde aufgehört, als Ceusescu in den 80-ger Jahren vom Westen nichts mehr erreichte, über den ungarischen Revisionismus schimpfte und von da an wurden in seinen öffentlichen Reden die MITWOHNENDEN NATIONALITÄTEN nicht mehr erwähnt. Die Lyzeen wurden zu "Speziallyzeen" umgewandelt und in den rein ungarischen und auch deutschen Lyzeen rumänische Klassen (wieder) gegründet. Mit der Behauptung, dass es nicht genug Schüler gäbe.
So kam es, dass an der renommierten Bolyai-Schule in Tg. Mureş in der sogenannten rumänischen Klasse nur ungarisch gesprochen wurde.... Ob das die meisten von euch noch erlebt haben? Und nicht vorher schon ausgewandert waren?

Ja, Getkiss, mir fallen diese Sachen auch alle ein, wenn von der rumänischen Diktatur die Rede ist.
Und die vielen Witze noch dazu, die keiner meiner Sprösslinge verstehen kann. Soll HM ein Witzbuch herausgeben, damit der Bereich der Verarbeitung von Diktatur gedeckt ist? Oder wie soll man das erklären, dass man sich vor einer Verkäuferin, einem Tankwart zum Affen machte, um ein Glas Yoghurt, ein Stückchen Butter, einige Windeln(!) oder ein Liter Benzin zu ergattern. Ich habe eine meiner Lebensmittelkartellen mitgebracht, einmal im Jahr sehe ich sie mir an, wie viele Grundnahrungsmittel ich nicht abholen konnte, damt ICH nicht vergesse, wie gut es mir geht und dass 10 Euro im Quartal in der Arztpraxis angemessen sind!

Das ist das besondere an Herta Müllers Schreibstil: Was ich nicht gut so rüberbringen kann, das schafft sie mit ihren knappen, prägnanten Texten. Sie schafft es Menschen, die das Glück hatten, nicht in einer Diktatur zu leben, nahe zu bringen, wie so ein Mechanismus der Unterdrückung funktioniert.
Carl Gibson
schrieb am 08.07.2009, 15:04 Uhr
der Ijel schrieb: Lavinia zitiert:
„Sätze sagen immer etwas, was sie nicht sagen. Sonst ist es ja keine Literatur.--- hiermit bin ich einverstanden
selbst habe ich Lyrik mal so versucht zu beschreiben:
Lyrik besitzt die Kraft das ungesagte auszusprechen.-----

wenn ich jedoch diesen Begriff richtig zu deuten vermag: "holzig realistisch" dann glaube ich dass dieses, gerade dieses mit der "Symphonie der Freiheit" ihrem Autor gelungen ist.

Zitiert von unterwegs.

Carl Gibson
schrieb am 08.07.2009, 15:05 Uhr
Johann schrieb: Schiwwer schrieb:
Sollte man Hermann Hesse nicht mehr mögen, nur weil er seine ersten beiden Ehefrauen ruiniert hat?

Wurde Hesse von irgendeiner Institution geehrt, weil er ein besonders einfühlsamer Ehemann war?

Um welche Ehrungen geht es denn?

Titiert von unterwegs - Kommentar vielleicht später.

1. Literarische Preise.
Manche behaupten, dass es eine Inflation von literarischen Preisen gibt und so auch zweit- und drittklassige Autoren prämiert werden.
Ich bin anderer Meinung. Warum sollen nicht auch drittklassige Schriftsteller Geld bekommen? Auch drittklassige Fußballspieler bekommen enorme Summen. Hinzu kommt: Masse bedingt Klasse. Die höchste Anzahl und die besten Fußballer findet man in Brasilien, dasselbe gilt beim Schach, da führt sowohl quantitativ als auch qualitativ Rußland.
Frau Müller hat meiner Meinung nach zu recht literarische Preise bekommen!

2. Nobelpreis.

Ich bin Laie, würde aber sagen, dass Hesse eine andere Liga ist wie Müller. Das Nobelpreiskomitee hat ja auch in der Vergangenheit drittklassige Schriftsteller prämiert.
Wenn nun eine Landsmäninnen das Glück hat, unberechtigterweise eine so hohe Auszeichnung zu bekommen, dann ärgert mich das nicht besonders.

3. Dissidenz
Ganz anders sieht es aus, wenn sie unberechtigt einen Preis erhält, der Charakterstärke hervorhebt.
Mein Hauptgrund Rumänien zu verlassen, war die Umwertung aller Werte. Da wurden Verbrecher als Humanisten geehrt.

Es war keine große Leistung, der Kommunistischen Partei nicht beizutreten. C. 90 % der Bürger waren KEINE Parteimitglieder.
Im Gegenteil war es eine besondere Charakterschwäche sich freiwillig, ohne Druck einer bekannten Verbrecherorganisation beizutreten.
Die Parteimitgliedschaft ist keine Privatangelegenheit mehr, wenn man als Dissidentin geehrt wird. Im Gegenteil aufgrund des politischen und sozialen Engagements kann man erst entscheiden, ob jemand solch eine Ehre gebührt.

Es sollen ja nicht die literarischen Figuren prämiert werden, sondern Frau Müller als Person und da kann man solch konkrete Fragen nicht mit fiktionalen Antworten begegnen. Bevor Sie die vielen Fragen nicht beantwortet, finde ich Sie als sogenannte Dissidentin untragbar.

raimar1935
schrieb am 08.07.2009, 15:29 Uhr
Johann schrieb
Schiwwer schrieb
Gibson.............wiederholt !
???????????????????????????????????
Schiwwer
schrieb am 08.07.2009, 15:40 Uhr (am 08.07.2009, 15:41 Uhr geändert).
Das nennt er "Speichern für die Geschichte".
Er schien begriffen zu haben, dass das öde ist.
Hat er nicht. Leider.

Lavinia
schrieb am 08.07.2009, 15:51 Uhr (am 08.07.2009, 16:09 Uhr geändert).
Johann, ich hätte noch ein paar Fragen/Kritikpunkte zu deinem Beitrag.

Du sagtest:
„2. Nobelpreis.
Ich bin Laie, würde aber sagen, dass Hesse eine andere Liga ist wie Müller. Das Nobelpreiskomitee hat ja auch in der Vergangenheit drittklassige Schriftsteller prämiert.
Wenn nun eine Landsmäninnen das Glück hat, unberechtigterweise eine so hohe Auszeichnung zu bekommen, dann ärgert mich das nicht besonders.“

Da hast du schon recht - Hesse ist vor allem eine andere Liga ist ALS Herta Müller …;-)! Beide verbindet jedoch ein literarisches Werk, welches zur ersten Klasse gehört – meiner Meinung nach.(Ich stelle meine Meinung einfach neben deine, weil so formuliert, hat deine Meinung den Anspruch allgemeingültig zu sein. Wenn du das nicht so meinst, kannst du (Psychologen-Binsenweisheit) evtl. Missverständliches dadurch vermeiden, indem du sie als ‚eigene Meinung‘ bezeichnest.

„3. Dissidenz“

Tismaneanu (davon war mal die Rede im Forum) hat für die Periode des Kommunismus verschiedene Arten oder Möglichkeiten von Dissidenz aufgezeigt. Mich würde interessieren, welches deine Definition von Dissidenz ist.

„Ganz anders sieht es aus, wenn sie unberechtigt einen Preis erhält, der Charakterstärke hervorhebt.“

Von „Charakterstärke „ steht in den Kriterien für die Vergabe des Nobel- Literaturpreises nichts drin. Was ist das denn genau? Wie überträgt man dies (Charakterstärke) auf Anwärter, die keinen Dissidenten- background aufweisen können? Wenn du jedoch damit Widerstand gegen Gewalt, Doppelmoral und Unterdrückung generell meinst, dann habe sehr viel, sehr Glaubwürdiges darüber in der Literatur Herta Müllers gelesen…

„Es war keine große Leistung, der Kommunistischen Partei nicht beizutreten. C. 90 % der Bürger waren KEINE Parteimitglieder.“

Ich habe keine Zahlen darüber, die sind aber auch nicht erforderlich, denn es liegt kein Beweis dafür vor, dass Herta Müller Parteimitglied war. Carl Gibson, der alle (?) seine „offensichtlichen Schwächen“ ins Netz gestellt hat, rief erfreut aus, dass er im Besitz des UTC-Ausweises der Herta Müller sei: den Beweis blieb und die Authentizität des ‚Beweises‘ blieb er schuldig. (Und so lange das sich nicht ändert, gilt Herta Müller, nach den Regeln dieses Staates, im Unterschied zu dem Unrechtsstaat , als unschuldig.) Im Gegenteil dazu, berichtet Herta Müller äußerst glaubhaft von ihrer Verfolgung.
Abgesehen davon wäre eine Stigmatisierung allein auf dieser Grundlage völlig hirnrissig. Herta Müller als „Täterin“ darzustellen wäre völlig absurd. Es ginge also um Differenzierung, um Abwägung…l Pauschal verurteilen hilft da eher gar nicht, auch wenn es gewisse...Gelüste kurzfristig befriedigen sollte.


„Im Gegenteil war es eine besondere Charakterschwäche sich freiwillig, ohne Druck einer bekannten Verbrecherorganisation beizutreten.“

Was hat dieser Satz (Charakterschwäche, freiwillig, ohne Druck, Verbrecherorganisation) mit Herta Müller zu tun? Wo wären die Beweise, wenn dies keine Unterstellungen wären?

Die Parteimitgliedschaft ist keine Privatangelegenheit mehr, wenn man als Dissidentin geehrt wird. Im Gegenteil aufgrund des politischen und sozialen Engagements kann man erst entscheiden, ob jemand solch eine Ehre gebührt.“

Entschuldigung, war nicht die Rede von dem Literatur-Nobelpreis…? Oder geht es um einen Dissidentenpreis, den sie nicht bekommen soll…??? Die Voraussetzung für den Literatur-Nobelpreis ist ein „gewisser Idealismus des Autors, bzw. seines Werkes“ (Wikipedia) …Aber ganz abgesehen davon, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand „das politische und soziale Engagement von Herta Müller in Abrede stellen könnte…“.

„Es sollen ja nicht die literarischen Figuren prämiert werden, sondern Frau Müller als Person und da kann man solch konkrete Fragen nicht mit fiktionalen Antworten begegnen. Bevor Sie die vielen Fragen nicht beantwortet, finde ich Sie als sogenannte Dissidentin untragbar.“

Frau Müller hat die Fragen beantwortet, auf der fiktionalen Ebene und auch ganz konkret in verschiedenen Stellungsnahmen. Natürlich muss man Antworten auch lesen, verstehen und akzeptieren können und nicht wie ein ungezogenes Kind immer wieder „Aber warum?“ schreien, denn Frau Müller ist Autorin und nicht die Mutter begriffsstutziger Kinder.
Über das Selbstverständnis von Herta Müller setze ich heute noch einen Text rein – vielleicht klärt er einiges auf…


Entschuldigung für den "Fettdruck" der Kommentare...sieht nicht so gut aus...

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