Ein schönes Gedicht

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Frechmund
schrieb am 17.03.2013, 11:00 Uhr
Mein Leben

Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,
darin du mich so eilen siehst.
Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,
ich bin nur einer meiner vielen Munde
und jener, welcher sich am frühsten schließt.

Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,
die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:
denn der Ton Tod will sich erhöhn-

Aber im dunklen Intervall versöhnen
sich beide zitternd.
Und das Lied bleibt schön.

Rainer Maria Rilke
Aus dem Stundenbuch, 1905
Frechmund
schrieb am 17.03.2013, 11:01 Uhr
Der Hund

Da oben wird das Bild von einer Welt
aus Blicken immerfort erneut und gilt.
Nur manchmal, heimlich, kommt ein Ding und stellt
sich neben ihn, wenn er durch dieses Bild

sich drängt, ganz unten, anders, wie er ist;
nicht ausgestoßen und nicht eingereiht,
und wie im Zweifel seine Wirklichkeit
weggebend an das Bild, das er vergißt,

um dennoch immer wieder sein Gesicht
hineinzuhalten, fast mit einem Flehen,
beinah begreifend, nah am Einverstehen
und doch verzichtend: denn er wäre nicht.

Rainer Maria Rilke
nixe
schrieb am 17.03.2013, 12:27 Uhr
Vor dem Tor

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden:
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:

Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!

(Goethe - Osterspaziergang - Faust I)
Struwwelpeter
schrieb am 19.03.2013, 00:28 Uhr
Atmosphärische Konflikte

Die Bäume schielen nach dem Wetter.
Sie prüfen es. Dann murmeln sie:
"Man weiß in diesem Jahre nie,
ob nun raus mit die Blätter
oder rin mit die Blätter
oder wie?"

Aus Wärme wurde wieder Kühle.
Die Oberkellner werden blaß
und fragen ohne Unterlaß:
"Also, raus mit die Stühle
oder rin mit die Stühle
oder was?"

Die Pärchen meiden nachts das Licht.
Sie hocken Probe auf den Bänken
in den Alleen, wobei sie denken:
"Raus mit die Gefühle
oder rin mit die Gefühle
oder nicht?"

Der Lenz geht diesmal auf die Nerven
und gar nicht, wie es heißt, ins Blut.
Wer liefert Sonne in Konserven?
Na, günstigen Falles
wird doch noch alles
gut.

Es ist schon warm. Wird es so bleiben?
Die Knospen springen im Galopp.
Und auch das Herz will Blüten treiben.
Drum, raus mit die Stühle
und rin mit die Gefühle,
als ob!
(Erich Kästner)


Zur Zeit sieht es eher nach "rin mit die Stühle" aus,
ob rin oder raus mit die Gefühle - bleibt jedem selbst überlassen.


bankban
schrieb am 19.03.2013, 20:49 Uhr
dein kommen war in teilen,
die bald überwogen, ein gehen,
weil das kommen, deines, nur einen
teil seiner selbst, seiner bedeutung
hatte, dieses, von vornherein, kommen
in teilen, was aber nicht zu erkennen war,
nicht gleich, nicht für mich,

doch kam, als du kamst, nur ein teil
deiner selbst, weil es von vornherein
teil der bedeutung deines kommens
war, was heißt, daß dieses in
geteilten teilen kommen teil
der bedeutung dessen war, daß
du kamst und wieder gingst,
weil die bedeutung deines kommens
von anfang an ungeteilt war, nämlich
dieses, dein gehen, in teilen.


ulrike draesner
Frechmund
schrieb am 19.03.2013, 21:06 Uhr
Wege zum Gehen ( auch: zu gehen… )


Wenn man weiß, dass etwas (so) nicht geht und man versucht,
diesem auszuweichen, geht am Ende möglicherweise gar nichts.

Manchmal geht etwas (man) (doch), obwohl man glaubt, dass nichts ginge, wenn man ginge.

Manchmal wäre vielleicht etwas gegangen, obschon man sicher gewesen war, dass nichts gegangen sein würde.

Und manchmal ist nichts gegangen, obwohl man zu wissen geglaubt hatte, es würde gegangen sein können.

Wenn man wünscht, dass etwas gehen solle, tue man etwas, was dieses nicht hindert, so zu gehen, wie man wünscht, dass es zu gehen habe.

Oftmals geht einiges, wiewohl man hofft, dass vieles so gehen möge und dies, ohne dass selbst gehen zu müssen, man zu befürchten hätte.

Magdalena Braun



Mynona
schrieb am 19.03.2013, 22:52 Uhr
L´accusé

Il disait vrai
L´accusé
Mais les faits
L´accusaient
Le mensonge
L´avait emporté
Le songe
L´a alors emmené

Jacques Bechdolff
Mynona
schrieb am 19.03.2013, 22:52 Uhr
Greift zum Becher und laßt das Schelten!
Die Welt ist blind.
Sie frägt, was die Menschen gelten,
Nicht, was sie sind!
Uns aber laßt zechen und krönen
Mit Laubgewind
Die Stirnen, die noch dem Schönen
Ergeben sind!
Und bei den Posaunenstößen,
Die eitel Wind,
Laßt uns lachen über Größen,
Die keine sind!

Heinrich Leuthold
Frechmund
schrieb am 20.03.2013, 18:27 Uhr
Meine Verurteilung

Sie haben mich vor den Blumen gerichtet
die Blumen haben sich zerstört
die Tage haben gesprochen...
eine Beschuldigung hat meine Augen durchdrungen
ich habe meine Unschuld hinausgeschrien
sie haben nicht zugehört...

Ich weiss
die Blumen haben an etwas anderes gedacht
die Nächte sind meine Zeugen
ich habe sie angefleht mir zuzuhören
die Erklärung der Sterne
sie haben nicht zugehört.

Inmitten der Nächte
hat sich mein Herz eingekreist gefühlt
ich habe mich hinwegtragen lassen
durch die Finsternis
die meine Augen verbunden hat...
meine Einsamkeit wurde in mein Herz gepflanzt
ich konnte nicht erklären
dass ich niemanden habe
sie haben nicht zugehört...

Sie haben mich vor den Blumen gerichtet
sie haben die Nächte
an meine Arme gebannt
und sie haben mich in die Dunkelheit verbannt
ganz allein.

Ich habe meine Unschuld hinausgeschrien
sie haben nicht zugehört.

Üzeyir Lokman Çayci
Frechmund
schrieb am 20.03.2013, 18:36 Uhr
Schönheit

Gesichtszüge, welche die Geheimnisse
unserer Seele enthüllen,
verleihen dem Gesicht Schönheit und Anmut,
selbst wenn diese seelischen Geheimnisse
schmerzlich und leidvoll sind.
Gesichter hingegen, die - Masken gleich -
verschweigen, was in ihrem Innern vorgeht,
entbehren jeglicher Schönheit, selbst wenn
ihre äußeren Formen vollkommen symmetrisch
und harmonisch sind.
Ebenso wie Gläser unsere Lippen nur anziehen,
wenn durch das kostbare Kristall die Farbe des Weines hindurchschimmert.

Khalil Gibran
nixe
schrieb am 20.03.2013, 19:23 Uhr
Von guten Mächten

Von guten Mächten treu und still umgeben,
Behütet und getröstet wunderbar,
So will ich diese Tage mit euch leben
Und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
Noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen
Das Heil, für das du uns bereitet hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
Des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
Aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
An dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
Dann wolln wir des Vergangenen gedenken
Und dann gehört dir unser Leben ganz.

Lass warm und still die Kerzen heute flammen,
Die du in unsre Dunkelheit gebracht.
Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
So lass uns hören jenen vollen Klang
Der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
All deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.


(Dietrich Bonhoeffer)
seberg
schrieb am 25.03.2013, 19:51 Uhr
Rondel

Verflossen ist das Gold der Tage,

Des Abends braun und blaue Farben:

Des Hirten sanfte Flöten starben

Des Abends blau und braune Farben

Verflossen ist das Gold der Tage.


(Georg Trakl)
seberg
schrieb am 25.03.2013, 22:18 Uhr (am 25.03.2013, 22:20 Uhr geändert).
Romanze zur Nacht


Einsamer unterm Sternenzelt

Geht durch die stille Mitternacht.

Der Knab aus Träumen wirr erwacht,

Sein Antlitz grau im Mond verfällt.



Die Närrin weint mit offnem Haar

Am Fenster, das vergittert starrt.

Im Teich vorbei auf süßer Fahrt

Ziehn Liebende sehr wunderbar.



Der Mörder lächelt bleich im Wein,

Die Kranken Todesgrausen packt.

Die Nonne betet wund und nackt

Vor des Heilands Kreuzespein.



Die Mutter leis' im Schlafe singt.

Sehr friedlich schaut zur Nacht das Kind

Mit Augen, die ganz wahrhaft sind.

Im Hurenhaus Gelächter klingt.




Beim Talglicht drunt' im Kellerloch

Der Tote malt mit weißer Hand

Ein grinsend Schweigen an die Wand.

Der Schläfer flüstert immer noch.


Georg Trakl

seberg
schrieb am 25.03.2013, 22:27 Uhr
GRAMMATIK


Logisch.
Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft.
Ich lebe, er hat gelebt, ihr werdet leben.
Er stirbt, du bist gestorben, wir werden sterben.
Immer.
Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft.
Logisch.
Ich weiß, ihr wusstet,
aber sie erst werden wissen.
mehr als wir.
Starkes Verb.


Anemone Latzina
Bukarest 1966

(weiß jemand, wo ihr Grab ist?)
Haiduc
schrieb am 25.03.2013, 22:31 Uhr
Was ist das für ein mächtig Gefühl?
Kaum wagt's mein Herz zu ergründen.
Es treibt mit mir am Tag sein Spiel,
Läßt nachts mich den Schlaf nicht finden.

Es bleibt sich Stunde um Stunde gleich
Und läßt sich durch nichts verscheuchen.
Kaum öffnet der Traumgott mir freundlich sein Reich,
Es weiß mit hinein sich zu Weichen.

Was macht mir die leichteste Arbeit so schwer,
Läßt plötzlich im Kampf mich ermatten?
Was scheuchet den Frieden vor mir her
Und folgt mir nach wie mein Schatten?

Was blickt mich an wie ein Sphinxgesicht
Mit rätselhaftem Verlangen?
Verläßt mich im heitersten Kreise nicht
Und hält mir die Lust gefangen?

Was bereitet mir unendliche Qual,
Und ich kann es Niemanden klagen?
Was entlockt mir Thränen ohne Zahl
Läßt bänger das Herz mir schlagen?

So stehst du fragend im fremden Land,
Und vergebens fließen die Thränen.
Das Gefühl, — du hast es mit Beben erkannt,
Es ist nach der Heimat das Sehnen!

Es ist des Heimwehs verzehrender Schmerz,
Aus dem es dort giebt kein Erlösen;
Von dem das arme gequälte Herz
Nur kann in der Heimat genesen.

Und hättest du's — dann laß mich immer wähnen,
Es habe dir mit seinen fremden Tönen
Das Sprachenchaos, das dich dort umschwirret,
Das Herz verwirret.

So laß' ich denn, dein starres Herz zu zwingen,
Der Muttersprache traute Weisen klingen.
Süß locken dich zum Heimatherde wieder
Der Heimat Lieder.

(Stine Andresen)

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