Ein schönes Gedicht

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bankban
schrieb am 25.02.2013, 17:15 Uhr
An sie, die allzufroh

Dein Haupt, dein Blick, dein Gang
Sind schön wie die schönsten Auen,
Wie frischer Wind im Blauen
Spielt Lachen dir um Augen, Mund und Wang

Der Gram, der dein Auge feuchtet,
An jener Kraft zerbricht,
Die hell wie klares Licht
Von deinen Armen, deinen Schultern leuchtet.

Die Farben in grellem Glanz,
Die dein Gewand bedecken,
In Dichters Geist erwecken.
Ein Bild von lieblich leichtem Blumentanz.

Die tollen Kleider passen
Zur Tollheit, deren Macht
Mich so zum Narren macht,
Dass ich dich glühend lieben muss und hassen.

Oft wenn im lichten Park
Ich schleppe meine Qualen,
Fühl' ich die Sonnenstrahlen
Wie Hohn mir brennen tief in Hirn und Mark.

So schwer ins Herz mich trafen
Des Frühlings Glanz und Glut,
Dass ich in heisser Wut
Auf Blumen schlug, um die Natur zu strafen.

So möcht' ich einst zur Nacht,
Wenn der Wollust Stunden klingen,
Zu deinen Schätzen dringen,
Ein Feigling zu dir kriechen stumm und sacht.

Dich züchtigen, du Gesunde,
Zerpressen deine Brust,
Ins blühende Fleisch voll Lust
Dir schlagen eine breite, tiefe Wunde.

Und – Wollust unerhört! –
Durch dieser Lippen Reine
Giess' ich das süsse, feine,
Mein schändlich Gift, das, Schwester, dich zerstört.


Charles Baudelaire
Aus der Sammlung Die Blumen des Bösen
Mynona
schrieb am 25.02.2013, 21:07 Uhr
De ma vie je fais un poème, du poème une vie,
Le poème est la manière de vivre, et l’unique manière de mourir,
indifféremment, d’une extatique :
glisser dans l’infini, flotter
au fil de Dieu léger instant d’élection.
Au fil des yeux glacés de Dieu

qui ne pleurent pas, ne veillent pas, ne formulent pas d’opinions,
qui regardent sans se fixer, et en approuvant tout,
pratiquent l’ordonnancement et les instants précis,
protègent le scorpion, le serpent, la seiche
(détestés par les humains qui mêlent ces formes à leurs passions):

confesser une seule foi : la Curiosité.
parcourir les maisons du capricorne, du scorpion et des poissons,
emprunter à l’oiseau la fantaisie et le parcours
et voleter vers le bas
comme une aile enroulée de vent,
liberté véloce, en forme d’oiseau.


Eeva-Liisa MANNER Finnland(1921-1992)

hab leider keine Übersetzung gefunden...:-(
Kichermaus
schrieb am 26.02.2013, 10:20 Uhr (am 26.02.2013, 10:25 Uhr geändert).
Niemals wieder habe ich behutsamere und eindringlichere Lyrik zur bitteren Thematik der Massenvernichtung von Menschen in KZs während der Zeit des Nationalsozialismus gelesen.
Das folgende Gedicht bzw. Ballade von Johannes R.Becher stand in der DDR im Lesebuch der 8.Klasse. Es hat mich erschüttert, aufgewühlt und im Herzen berührt, besonders aufgrund der fast lieblichen Symbolik im scharfen Kontrast zum Geschehenen - Kinderschuhchen als Stellvertreter ihrer vergasten Besitzer - als Zeugen der Anklage vor dem Richter in Nürnberg.

Kinderschuhe aus Lublin

Von all den Zeugen, die geladen,
vergess ich auch die Zeugen nicht.
Als sie in Reihn den Saal betraten,
erhob sich schweigend das Gericht.

Wir blickten auf die Kleinen nieder,
ein Zug zog paarweis durch den Saal.
Es war, als tönten Kinderlieder,
ganz leise, fern, wie ein Choral.

Es war ein langer bunter Reigen,
der durch den ganzen Saal sich schlang.
Und immer tiefer ward das Schweigen
bei diesem Gang und Kindersang.

Voran die Kleinsten von den Kleinen,
sie lernten jetzt erst richtig gehn
- auch Schuhchen können lachen, weinen -,
ward je ein solcher Zug gesehn?

Es tritt ein winzig Paar zur Seite,
um sich ein wenig auszuruhn,
und weiter zieht es in die Weite -
es war ein Zug von Kinderschuhn.

Man sieht, wie sie den Füßchen passten -
sie haben niemals weh getan,
und Händchen spielten mit den Quasten,
das Kind zog gern die Schuhchen an.

Ein Paar aus Samt, ein Paar aus Seiden,
und eines war bestickt sogar
mit Blumen, wie sie ziehn, die beiden,
sind sie ein schmuckes Hochzeitspaar.

Mit Bändchen, Schnallen und mit Spangen,
zwerghafte Wesen, federleicht -
und viel sind viel zu lang gegangen
und sind vom Regen durchgeweicht.

Man sieht die Mutter, auf den Armen
das Kind, vor einem Laden stehn:
"Die Schuhchen, die, die weichen, warmen,
ach Mutter, sind die Schuhchen schön!"

"Wie soll ich nur die Schuhchen zahlen.
Wo nehm das Geld ich dafür her...."
Es naht ein Paar von Holzsandalen,
es ist schon müd und schleppt sich schwer.

Es muss ein Strümpfchen mit sich schleifen,
das wund gescheuert ist am Knie....
Was soll der Zug? Wer kann `s begreifen?
Und diese ferne Melodie....

Auch Schuhchen können weinen, lachen....
Da fährt in einem leeren Schuh
ein Püppchen wie in einem Nachen
und winkt uns wie im Märchen zu.

Hier geht ein Paar von einem Jungen,
das hat sich schon als Schuh gefühlt,
das ist gelaufen und gesprungen
und hat auch wohl schon Ball gespielt.

Ein Stiefelchen hat sich verloren
und findet den Gefährten nicht,
vielleicht ist der am Weg erfroren -
ach, damals fiel der Schnee so dicht....

Zum Schluss ein Paar, ganz abgetragen,
das macht noch immer mit, wozu?
Als hätte es noch was zu sagen,
ein Paar zerrissener Kinderschuh.

Ihr heimatlosen, kinderlosen,
wer schickte euch? Wer zog euch aus?
Wo sind die Füßchen all, die bloßen?
Ließt ihr sie ohne Schuh zu Haus?

Der Richter kann die Frage deuten.
Er nennt der toten Kinder Zahl.
....ein Kinderchor. Ein Totenläuten.
Die Zeugen gehen durch den Saal.

Die Deutschen waren schon vertrieben,
da fand man diesen schlimmen Fund.
Wo sind die Kinder nur geblieben?
Die Schuhe tun die Wahrheit kund:

Es war ein harter dunkler Wagen.
Wir fuhren mit der Eisenbahn.
Und wie wir in dem Dunkel lagen,
so kamen wir im Dunkel an.

Es kamen aus den Ländern allen
viel Schuhchen an in einem fort,
und manche stolpern schon und fallen,
bevor sie treffen ein am Ort.

Die Mutter sagte: "Wie viel Wochen
wir hatten schon nichts Warmes mehr?
Nun werd ich uns ein Süppchen kochen."
Ein Mann mit Hund ging nebenher:

"Es wird sich schon ein Plätzchen finden",
so lachte er, "und warm ist`s auch,
hier braucht sich keiner abzuschinden...."
bis in den Himmel kroch ein Rauch.

"Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
wir heizen immer tüchtig ein.
Ich kann Lublin nur warm empfehlen,
bei uns herrscht ewiger Sonnenschein."

Und es war eine deutsche Tante,
die uns im Lager von Lublin
empfing und "Engelspüppchen" nannte,
um uns die Schuhchen auszuziehn,

und als wir fingen an zu weinen,
da sprach die Tante: "Sollt mal sehn,
gleich wird die Sonne prächtig scheinen,
und drum dürft ihr jetzt barfuss gehn....

Stellt euch mal auf und lasst euch zählen,
so, seid ihr auch hübsch unbeschuht?
Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
dafür sorgt unsere Sonnenglut....

Was, weint ihr noch? `s ist eine Schande!
Was tut euch denn, ihr Püppchen, weh?
Ich bin die deutsche Märchentante!
Die gute deutsche Puppenfee.

`s ist Zeit, ihr Püppchen, angetreten!
Was fällt euch ein denn, hinzuknien.
Auf, lasst uns singen und nicht beten!
Es scheint die Sonne in Lublin!"

Es sang ein Lied die deutsche Tante.
Strafft sich den Rock und geht voraus,
und dort, wo heiß die Sonne brannte,
zählt sie uns nochmals vor dem Haus.

Zu hundert, nackt in einer Zelle,
ein letzter Kinderschrei erstickt....
Dann wurden von der Sammelstelle
die Schuhchen in das Reich geschickt.

Es schien sich das Geschäft zu lohnen,
das Todeslager von Lublin.
Gefangenenzüge, Prozessionen.
Und - eine deutsche Sonne schien....



Wenn Tote einst als Rächer schreiten
und über Deutschland hallt ihr Schritt
und weithin sich die Schatten breiten -
dann ziehen auch die Schuhchen mit.

Ein Zug von aber tausend Zwergen,
so ziehen sie dahin in Reihn,
und wo die Schergen sich verbergen,
dort treten sie unheimlich ein.

Sie schleichen sich herauf in Stiegen,
sie treten in die Zimmer leis.
Die Henker wie gefesselt liegen
und zittern vor dem Schuldbeweis.

Es wird die Sonne brennend scheinen.
Die Wahrheit tut sich allen kund.
Es ist ein großes Kinderweinen,
ein Grabgesang aus Kindermund....

Der Kindermord ist klar erwiesen.
Die Zeugen all bekunden ihn.
Und nie vergess ich unter diesen
die Kinderschuhe aus Lublin.

Johannes R. Becher




gerri
schrieb am 26.02.2013, 14:53 Uhr
@ Wir mussten "Lidice" auswendig lernen.
bankban
schrieb am 26.02.2013, 17:49 Uhr (am 26.02.2013, 18:15 Uhr geändert).
In dem Band "Dein Aschenes Haar Sulamith" (hg. von Dieter Lamping, München 1992) sind eine Reihe einschlägiger Gedichte zur Thematik versammelt. Darunter folgendes.

Miklós Radnóti (1909-1944)

SIEBENTE EKLOGE

Siehst du, der Abend naht, und der Stacheldraht rings und der wilde
Eichzaun und die Baracke, sie schweben hinein in sein Dämmern.
Langsam löst sich der Blick von unsrer Gefangenschaft Rahmen,
und der Verstand nur allein weiß noch um die Ladung des Drahtes.
Sieh, auch die Phantasie gewinnt hier nur so ihre Freiheit,
unsern gebrochenen Leib löst der Schlaf, der schöne Befreier,
und das Gefangenenlager schwebt nun, da die Nacht naht, nach Hause.
Schnarchend, in Lumpen gehüllt und kahl fliegt von Serbiens blinder
Höhe der Häftlinge Schar in die Heimat, die schweigend geduckte.
Schweigend geduckte Heimat! Oh, gibt es denn noch ein Zuhause?
Wurde es nicht schon zerbombt? Und ist's so noch, wie einst wir's verließen?
Und ob, wer rechts von mir stöhnt und links hingestreckt liegt, einst wohl heimkehrt?
Sag, gibt's dort noch einen Ort, wo man den Hexameter verstehn kann?


Ungefähr, ohne Sicht, nur Zeile um Zeile abtastend,
schreibe ich hier in der Dämmerung Verse, schreib so, wie ich lebe,
wie ein Regenwurm blind den glatten Papiergrund befühlend.
Taschenlampe und Bücher nahmen die Wächter des Lagers,
und statt der Post, der ersehnten, dringt Nebel in unsre Baracke.
Unter Gerücht- und Gewürmen leben hier Polen, Franzosen,
Römer, verträumte Bergjuden, separatistische Serben,
Stücke nur fiebernden Leibs und dennoch ein Leben hier lebend,
wartend auf frohe Botschaft, aufs Wort einer Frau, auf die Freiheit,
auf das in dichte Dämmerung stürzende Ende, auf Wunder.


Bettenlos lieg ich, gefangenes Tier zwischen Würmern; der Flöhe
Ansturm hebt neu wieder an, da die Heere der Fliegen nun ruhen.
Sieh, es ist Abend, Geliebte: ein Tag der Gefangenschaft wen'ger
und ein Lebenstag auch. Das Lager schläft. Auf die Landschaft
scheint nun der Mond und macht den Stacheldraht wieder erglänzen,
und man sieht durch das Fenster die Schatten bewaffneter Wächter
an die kalkige Wand projiziert unter nächtlichen Stimmen.


Siehst du, Geliebte, das Lager schläft, und es rauschen die Träume,
einer, aufgeweckt, schnauft, dreht sich um auf dem engen Fleck, und schon
schläft er wieder, und sein Gesicht strahlt. Nur ich allein wache,
schmeckend den halb aufgerauchten Stummel im Munde anstelle
deines Kusses Geschmack, und es naht mir der Schlaf nicht, der milde,
denn nicht sterben, nicht leben kann ich nunmehr ohne Dich.

Lager Heidenau
oberhalb Zagubica in den Bergen
Juli 1944
Übersetzt von Franz Fühmann

P.s. Fühmann, dem eher unbekannten DDR-Schriftsteller, ist für eine Reihe von Übersetzungen aus dem Ungarischen zu danken (u.a. auch Attila József). Mir persönlich hat außerdem auch noch sein Buch über Trakl hervorragend gefallen, das ich jedem empfehlen kann.
Kichermaus
schrieb am 26.02.2013, 18:12 Uhr
In der DDR war Franz Fühmann ein sehr bekannter Dichter und Schriftsteller, der auch in der Schule behandelt wurde.

Aber kein Kerker...

Aber kein Kerker ist härter
als der in die Seele gesenkt,
was sind Schlösser und Schwerter,
wenn der Geist ein Bild nicht mehr denkt,
sich versagt ihm, versargt es für immer
in des Hirns versiegeltes Fort,
keine Schauer, keine Schimmer
kommen je wieder von dort.

Freilich: Auch alle die Blitze
und Blicke, die uns entzückt,
die blanke, blendende Spitze
des Witzes: sie sind entrückt
mit den Plänen und Plagen, den bösen,
zusammen geht es ins Grab,
da ist nichts herauszulösen,
alles muß hinab,

das Ganze zugemauert,
daß nichts mehr deutbar sei,
kein Trost, keine Trauer, die dauert,
alles ist vorbei,
eine Grabeszelle
in der Seele, nicht Schmerz, nicht Lust,
eine tote Stelle,
mir schon unbewußt,

schon Legende, Lüge,
daß dies wäre geschehn.
Keine vertrauten Züge,
nichts mehr zu verstehn.
Verschlossen ein Bild für immer
im härtesten, festesten Fort,
keine Schauer, keine Schimmer
kommen je wieder von dort.

Franz Fühmann




bankban
schrieb am 26.02.2013, 18:25 Uhr (am 26.02.2013, 18:43 Uhr geändert).
Dass es in der DDR bekannt war, ist bekannt und klar. Aber außerhalb? Seien wir doch ehrlich: außerhalb der DDR war und ist er doch eher unbekannt gewesen und geblieben... (Das minder ja seine Bedeutunug und Relevanz nicht, ist lediglich eine Feststellung).
Kichermaus
schrieb am 26.02.2013, 18:41 Uhr
Das kann ich weniger beurteilen als DDR-Kind.
bankban
schrieb am 27.02.2013, 22:13 Uhr
Bertolt Brecht

Die Nachtlager

Ich höre, daß in New York
An der Ecke der 26. Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft.

Die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt
Aber einige Männer haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.

Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch.

Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.
Kichermaus
schrieb am 01.03.2013, 13:38 Uhr
Wünsche

Ein Baum ich möchte sein so gern,
Mit einer Krone weit hinauf ins Firmament,
Mit Wurzeln tief im warmen Erdeleib
Und einem Stamm, der Mittigkeit,
Balance mir gibt.

Ein Vogel möcht ich sein, der sich am Abend
Müde niederlässt auf mir.
Auszuruh´n vom Wanderflug.
Ziel sucht, Schutz und Ruhe findet
auf meinem starken Arm.

Der Himmel möcht ich sein, unendlich weit und klar.
Behutsam küss den Tag ich, umarm´ die Nacht,
Wölb´ schützend über Vogel mich und Baum.
Send´ lachend Wolkenbüschelgrüße
hinaus an alle, die mich mögen.

Ein Mensch bin ich und möcht´ es bleiben.
Und doch: Ich hätt´ so gern die Schwingen
Meines Vogeltraums, das ruhige Gleichmaß
Und die Kraft des Baums.
Dann flöge glücklich ich hinauf in
die Weite meines Himmeltraums.
Haiduc
schrieb am 01.03.2013, 18:01 Uhr
Ein einsam verschneites Haus,
und über ihm die Sterne –
es geht meine Sehnsucht so gerne
noch heute drin ein und aus.
Das Feuer in seinem Herde
war das Licht meiner Kinderzeit,
und die Erde war meine Erde,
von meinen Vätern geweiht.
Nun leb ich in fremden Gauen,
ein heimatloser Vagant,
und werde sie nie wieder schauen:
das Haus, den Herd und das Land.
Durch des Hauses leere Fenster
heult der nordische Wind,
und Schatten und Gespenster
seine Gesellen sind.
Nur meine Gedanken und Träume
im erloschenen Herde glühn,
und schmücken die alten Räume
mit frischem Tannengrün.
Das alles ist ferne, ferne.
Nur meine Sehnsucht geht gerne
noch heute drin ein und aus.
Ein einsam verschneites Haus –
und über ihm die Sterne…

(Manfred Kyber)
Kichermaus
schrieb am 01.03.2013, 18:10 Uhr
Schön...
So schlicht und doch so anrührend, dass es fast weh tut, die fernnahe Heimat einer Kindheit beim stillen Lesen mitzuempfinden mit dem Dichter.
Struwwelpeter
schrieb am 01.03.2013, 20:45 Uhr
Und noch ein Gedicht von Manfred Kyber (1880 - 1933)
Lyriker, Dramatiker, Übersetzer; deutschbaltischer Herkunft.
Er gehörte der antroposophischen Bewegung an
und entsprechend sind seine Gedichte geprägt.


Zwischen den Zeilen des Lebens

Nicht die Dinge, die kommen und eilen,
die Lust und Leid deiner Seele teilen,
sind deines Lebens wahrer Kern.
Er ruht ungreifbar - sinnenfern -
zwischen des Lebens Zeilen.

Tausend Gefahren, die dich umlauert
und die du nie gesehn,
zwischen den Zeilen stehn.
Verlornes, um das du nie getrauert,
Freuden und Leiden, eng verbunden,
die niemals den Weg zu dir gefunden.

Was könnte sein - was wäre gewesen -
steht zwischen den Zeilen des Lebens zu lesen.
In die Zukunft, in ferne Weiten
spinnen sich tausend Möglichkeiten.
Alles ist sinnvoll, nichts war vergebens,
alles ist ineinander gewebt.
Das wahre Leben lebt
zwischen den Zeilen des Lebens.


Haiduc
schrieb am 02.03.2013, 12:40 Uhr
Blaues Ordensband

Als ich einst an einem Wildbach ging den Berg hinauf geschritten
Und, ein Marschlied vor mich summend, maß den Weg mit festen Tritten,
Sah an einer glatten Stange, noch vom Morgentau benetzt,
Ich zwei eisengraue Flügel wie ein Dach darauf gesetzt,
Und mit fröhlichem Erstaunen unter dem bescheidnen Stahl
Merkt' ich an den untern Decken einen düstern blauen Strahl.

Aller Arten Schmetterlinge hatt' ich Jahr für Jahr gesucht,
Sämtlich waren sie versammelt, schön gezeichnet und gebucht;
Einzig drei der edlen Vögel hatten mir annoch gefehlt,
Die ein eigensinn'ger Zufall meinem Jägerblick verhehlt.

Sollen wir das Tierchen drücken? Nein, sein Kopf ist dick und breit.
Ihm die Qualen zu ersparen reut mich weder Müh' noch Zeit.

"Lieber Doktor, habt Erbarmen, kocht mir ein erprobtes Gift,
Daß der Tod das arme Vöglein ohne Schmerzen plötzlich trifft."

Doch der Doktor war ein alter Homö- oder Allopath,
Der in seiner Salbenküche Gift allein für Menschen hat.
Und ich stand und mußte spüren, wie es von dem Pfuscher litt,
Mußt' auch spüren mein Gewissen, wie es strenge mit mir stritt:

"Einer ist, der einst wird richten Tier' und Menschen einerlei!"
Und ich sprach mit düstrem Mute: Gebe Gott, daß Einer sei.

Als es dann nach langem Zucken endlich vollends ausgerungen
Und aus dem gequälten Leibe sich die Seele losgezwungen,
Und ich wieder längs dem Wildbach schritt bergan dieselbe Straße,
War mein Lied von andrem Tone und mein Tritt von andrem Maße.
Vogelsang und Wald und Himmel schienen meinen Blick verdorben
Und mir war, als wäre heute mir ein lieber Freund gestorben,
Und mit gramumwölkter Seele naht' ich nochmals jenen Stangen,
Wo ich jüngst zu meinem Unglück sah das arme Tierlein hangen.
"Hätt' ich bloß an dieser Stelle mich durch Zufall links gekehrt,
Wär' mein Herz gesund und heiter, mein Gewissen unversehrt."

Und des Mittags auf dem Berge schmeckte mir nicht Fisch noch Wein,
Und am Himmelsrand die Alpen trübt' ein grauer Nebelschein,
Und im Kursaal die Sonaten klangen hart und matt und stumpf,
Und des Nachts im kühlen Zimmer war mein Kissen heiß und dumpf.

Werd' ich heut' den Schlaf nicht finden und Vergessen und Vergeben?

Sieh', da schaut' ich aus dem Winkel einen Traum sich groß erheben:

Dicht verschleiert eine Jungfrau schwebte mit getragnem Tritt
Ernst und ruhig an mein Lager, wo ich Seelenqualen litt,
Legt' auf meine heißen Schläfen eine kühle Engelshand
Und mit Singen und mit Beten sühnte sie den Höllenbrand:
"Laß das Grämen, laß das Härmen! vielgeplagter Menschensohn,
Hab's vollbracht und überstanden und bezahlt den Erdenlohn.
Ob ich schon durch dich gelitten, litt' ich's nicht durch deine Schuld.
Leiden ist des Lebens Mitgift, ist des Weltenschöpfers Huld.
Qualen jeglichem Geschöpfe schenkt die gütige Natur,
Aber Mitleid und Erbarmen blüht im Menschenherzen nur.
Habe Dank für deine Tränen, die du meinem Schmerz geweint,
Ewig bleibt das arme Vöglein dir verwandt und dir vereint.

Und wenn einst erklingt die Stunde, da auch du den Sieg erstritten
Und nach angsterfüllten Nöten hast das Sterben ausgelitten,
Wollen wir vereinten Wandels einen strengen Richter suchen
Und sein heil'ges Urteil segnen und dem Weltendichter fluchen.
Doch nun schüttle dir vom Herzen, was dir unnütz Reue schafft,
Und für deine eignen Leiden sammle Mut und neue Kraft."

Sprach's und küßte meine Stirne, betete und war verschwunden.
Bald durch ihre reine Gnade hatt' ich süßen Schlaf gefunden.
Als der Morgen schien durchs Fenster, war ich meines Kummers frei,
Doch bis heut' in meiner Sammlung fehlen mir die andern zwei.

(Carl Spitteler)
Kichermaus
schrieb am 02.03.2013, 12:54 Uhr (am 02.03.2013, 12:55 Uhr geändert).
Wieder sehr schön ausgewählt, Haiduc.
Voller Bilder und Metaphern, welche den Leser nach meiner Betrachtung vielleicht nicht nur zum Nachdenken anregen, sondern auch behutsam bewegen möchten zu dem, was manchem nicht (mehr) selbstverständlich oder auch zu wenig gegeben ist möglicherweise - Empathie mit dem Leben an sich und Empathie mit der Kreatur.

C. Spitteler erhielt 1920 übrigens den Literatur-Nobelpreis.

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