Ein schönes Gedicht

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bankban
schrieb am 25.03.2013, 22:42 Uhr
q seberg: wo Latzina begraben ist, weiß ich nicht. Habe aber gerade die beiden Wikiartikel über sie auf Ung. und Rum. gelesen (Schande, dass es keinen deutschen Art. gibt!). Interessanter ist der Unterschied bei der Beschreibung ihrer Todesumstände: während es der rum. Artikel als einen Unfall darstellt, behauptet der ung. Artikel einen Selbstmord ("warf sich vor die Straßenbahn").
Kurios.
seberg
schrieb am 25.03.2013, 23:11 Uhr (am 25.03.2013, 23:20 Uhr geändert).
Das war ich...

Ein Stoß Papierbögen war es früher,
feine, weiße Schreibpapierbögen.
Ein Windsstoß
(der Gewitter ansagte)
fegte sie hoch und in alle Richtungen,
langsam schaukelnd und wirbelnd senkten sie sich
auf die nasse Stadt.
Sie schwebten, fielen und fingen sich,
auf Hochhäusern
tiefer,
am Boden
(überall nass)...
Da schwebte und taumelte einer noch
lange danach,
das war ich...

Unbekannt, Bukarest 1966 ;-)
Hia-Nela
schrieb am 28.03.2013, 21:50 Uhr
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Gründonnerstag - Jesu´ Fußwaschung
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AM GRÜNDONNERSTAGE

O Wundernacht, ich grüße!
Herr Jesus wäscht die Füße.
Die Luft ganz stille stand;
Man hört den Atem hallen
Und wie die Tropfen fallen
Von seiner heil'gen Hand.

Da Jesus sich tut beugen,
Ins tiefe Meer sich neigen
Wohl Inseln diesem Gruß.
Ist er so tief gestiegen,
So muß ich ewig liegen
Vor meines Nächsten Fuß.

Herr, ob sich gleich betöret
Die Seele mein empöret
Vor aller Niedrigkeit,
Daß ich vielmehr mein Leben
In Qualen aufzugeben
Für deinen Ruhm bereit:

So gib, daß ich nicht klage,
Wenn du in meine Tage
Hast alle Schmach gebannt;
Laß brennen meine Wunden,
So du mich stark befunden
Zu solchem harten Stand!

O Gott, ich kann nicht bergen,
Wie angst mir von den Schergen,
Die du vielleicht gesandt
In Krankheit oder Grämen
Die Sinne mir zu nehmen,
Zu töten den Verstand!

Es ist mir oft zu Sinnen,
Als wolle schon beginnen
Dein schweres Strafgericht;
Als dämmre eine Wolke,
Doch unbewußt dem Volke,
Um meines Geistes Licht.

Doch wie die Schmerzen schwinden,
Die mein Gehirn entzünden,
So flieht der Nebelduft,
Und mit geheimem Glühen
Fühl' ich mich neu umziehen
Die frische starke Luft.

Mein Jesu, darf ich wählen,
Ich will mich lieber quälen
In aller Schmach und Leid,
Als daß mir so benommen,
Ob auch zu meinem Frommen,
Die Menschenherrlichkeit.

Doch ist er so vergiftet,
Daß es Vernichtung stiftet,
Wenn er mein Herz umfleußt:
So laß mich ihn verlieren,
Die Seele heimzuführen,
Den reichbegabten Geist.

Hast du es denn beschlossen,
Daß ich soll ausgegossen
Ein tot Gewässer stehn
Für dieses ganze Leben:
So will ich denn mit Beben
An deine Prüfung gehn.

Annette von Droste-Hülshoff
Haiduc
schrieb am 29.03.2013, 10:53 Uhr
Die Passionsblume

Grimm durchbohrt von spitzen Nägeln, dorngekrönt das hehre Haupt,
Hing der Heiland an dem Kreuze, schmerzdurchzuckt und trostberaubt;
Höhnend lächeln nur die Juden, wie er leidet heiße Qual,
Einzig eine liebe Blume blickt voll Leid zum Kreuzespfahl.

Und sie rankt sich kühlend, lindernd hoch empor am blut`gen Pfahl,
Rührt Hände, rührt die Lippen ihres Schöpfers voller Qual,
Daß sie länger nicht mehr brennen in des heißen Durstes Pein,
Daß der Heiland sei am Kreuze nicht so ganz und gar allein.

Sie durchflicht die Dornenkrone sacht mit saftigdunklem Grün,
Daß die herben, scharfen Dornen wie im Maienglanze blüh`n,
Weich die Blätter legt sie leise auf des Dulders bleiche Stirn,
Wunden hüllend, Wunden stillend, die zerquälen Stirn und Hirn.

Und da von dem Kreuz erklungen jenes süße Wort: "Vollbracht",
Wie das Weh, so die Erlösung! — sank auch sie in Todesnacht.
Treue Blume, schließ` das Auge, welke nur, der Frühling lacht,
Der Karfreitag ist zu Grabe, und der Ostertag erwacht!

Als der Herr vom Grab erstanden, auch die Blume neu erblüht;
Wie sie frühlingssonnig duftet, wie sie frühlingsbunt erglüht!
Christi Schmerzen, Dornen, Nägel, die fünf Wunden trägt sie zwar,
Aber gleich des Heiland`s Wunden lichtverkläret wunderbar.

Franz Alfred Muth (1839-1890)

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Passionsblume
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bankban
schrieb am 31.03.2013, 08:29 Uhr
Elizabeth Barrett Browning


Sonette aus dem Portugiesischen Nr. 6

Geh fort von mir. So werd ich fürderhin
in deinem Schatten stehn. Und niemals mehr
die Schwelle alles dessen, was ich bin,
allein betreten. Niemals wie vorher

verfügen meine Seele. Und die Hand
nicht so wie früher in Gelassenheit
aufheben in das Licht der Sonne, seit
die deine drinnen fehlt. Mag Land um Land

anwachsen zwischen uns, so muss doch dein
Herz in dem meinen bleiben, doppelt schlagend.
Und was ich tu und träume, schließt dich ein:

so sind die Trauben überall im Wein.
Und ruf ich Gott zu mir: Er kommt zu Zwein
und sieht mein Auge Zweier Tränen tragend.

(aus dem Englischen von Rainer Maria Rilke)

bankban
schrieb am 01.04.2013, 15:43 Uhr
Thomas Brasch

Aus: Der Papierflieger

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen,aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Hia-Nela
schrieb am 02.04.2013, 17:32 Uhr (am 02.04.2013, 17:34 Uhr geändert).
Ihr unausgesprochenen Worte, schwer liegt ihr im Magen,
wälzt euch, unruhige Steine, in tausend Gewissen,
die euch ausspucken wollten, wenn sie es könnten,
gefesselt an Ohnmacht, Feigheit, Taktgefühl, Feinsinn,
Anstand, Falschheit, Würde und andere Menschlichkeiten.

Ihr unausgesprochenen Worte, macht es uns nicht leichter,
tragen wir euch, manchmal ein Leben lang, mit uns herum,
schleppen euch von Vorsatz zu Vorsatz, werden krank an euch,

ihr Unvergänglichen, ach, wollten wir euch doch aussprechen,
wie ausgesprochen leicht wäret ihr dann, wäre uns …

(Magdalena Braun)
Hia-Nela
schrieb am 02.04.2013, 18:06 Uhr (am 02.04.2013, 18:09 Uhr geändert).
Ignoranten sind blinde Augen, taube Ohren, sind
stumme Münder, die grinsen, Fratzen schneidend
dem Leben begegnen, es als Bedrohung fliehen,
scheinen gefühllose Steine, schlagen sich wund
an sich selbst, spüren es nicht, spüren es noch nicht.


Wollen es nicht, können es nicht, - verdrängen alles,
was zu ihnen selbst führen könnte, stolpern blind über Bitten und Leid,
irgendwann werden sie müde sein ihrer Gleichgültigkeit,
Verdruss und Feigheit regieren sie,
ziehen an ihnen, den Marionetten des Lebens,
Ignoranten, arme Wesen.

M.B.
Hia-Nela
schrieb am 02.04.2013, 23:23 Uhr
Nacht für Nacht

Wie helle Raupen kriechen die Chausseen
Aus Wäldern über Berge in die Tale.
Gestrandet liegen Wolken, groß wie Wale,
Still in der Abendröte blanken Seen.

Der Tag versiegt. Bis ihn die Frühen speisen,
Quillt schwarze Nacht aus allen Himmelsbronnen.
Die Sterne scheinen, kleine, ferne Sonnen.
Der Teich im Hofe glänzt wie dunkles Eisen.

Der Mond steht, wie ein Junge in der Pfütze,
Hell über jedem Garten. Und wie Gaze
Schimmert der Wald, des Berges blaue Mütze.

Aus einer Kleinstadt ragt des Kirchturms Vase
Verschnörkelt aus der Giebeldächer Nippes. —
Schlaf hält die Menschen fest, steif, wie in Gips.

Paul Boldt, 1914
Hia-Nela
schrieb am 03.04.2013, 18:16 Uhr (am 03.04.2013, 18:35 Uhr geändert).
Alfred Lichtenstein
Rückkehr des Dorfjungen

In meiner Jugend war die Welt ein kleiner Teich,
Großmutterchen und rotes Dach, Gebrüll
Von Ochsen und ein Busch aus Bäumen.
Und ringsherum die große grüne Wiese.

Wie schön war dieses In-die-Weite-Träumen.
Dies Garnichtssein als helle Luft und Wind
Und Vogelruf und Feenmärchenbuch.
Fern pfiff die fabelhafte Eisenschlange. –




Georg Heym
Frühjahr

Die Winde bringen einen schwarzen Abend.
Die Wege zittern mit den kalten Bäumen
Und in der leeren Flächen später Öde
Die Wolken rollen auf die Horizonte.

Der Wind und Sturm ist ewig in der Weite,
Nur spärlich, daß ein Sämann schon beschreitet
Das ferne Land, und schwer den Samen streuet,
Den keine Frucht in toten Sommern freuet.

Die Wälder aber müssen sich zerbrechen
Mit grauen Wipfeln in den Wind gehoben,
Die quellenlosen, in der langen Schwäche
Und nicht mehr steigt das Blut in ihren Ästen.

Der März ist traurig. Und die Tage schwanken
Voll Licht und Dunkel auf der stummen Erde.
Die Ströme aber und die Berge decket
Der Regenschild. Und alles ist verhangen.

Die Vögel aber werden nicht mehr kommen.
Leer wird das Schilf und seine Ufer bleiben,
Und große Kähne in der Sommerstille
In grüner Hügel toten Schatten treiben.

Oktober 1911
Struwwelpeter
schrieb am 03.04.2013, 20:48 Uhr
Gelebt

Ich lieb ein pulsierendes Leben,
das prickelt und schwellet und quillt,
ein ewiges Senken und Heben,
ein Sehnen, das niemals sich stillt.

Ein stetiges Wogen und Wagen
auf schwanker, gefährlicher Bahn,
von den Wellen des Glücks getragen
im leichten, gebrechlichen Kahn.

Und senkt einst die Göttin die Waage,
zerreißt sie, was mild sie gewebt,
ich schließe die Augen und sage:
Ich habe geliebt und gelebt!

(R. M. Rilke)
bankban
schrieb am 04.04.2013, 18:51 Uhr
Wladimir Wyssozki

Wolfsjagd

Ich reiß aus voller Kraft, ohne Fessel.
Aber heut ist ein anderer Tag.
Bin umringt schon und wird durch den Kessel
Fröhlich hin zu den Nummern gejagt.
Und die Flinten im Tannenwald krachen.
Dort versteckt stehn die Jäger bereit.
Übern Schnee rolln die Wölfe; sie machen
Uns zu lebenden Zielscheiben heut.

Das ist die Jagd aufs graue Wild. Das ist die Wolfsjagd.
Die Alten hingestreckt! Die Jungen hingestreckt!
Die Treiber schreien und zum Kotzen belln die Hunde.
Der Schnee ist blutig und von Wimpeln rot gefleckt.

Schnell die Beine und scharf unsre Bisse.
Mein Leittier, so antworte jetzt!
Wir rennen gehetzt in die Schüsse.
Warum wird das Verbrot nicht verletzt?
Das Tabu darf der Wolf nicht umgehen.
Meine Zeit läuft schon ab.
Dort steht der, dessen Kugel für mich vorgesehen,
steht und lächelt und hebt das Gewehr.

Das ist die Jagd aufs graue Wild. Das ist die Wolfsjagd.
Die Alten hingestreckt! Die Jungen hingestreckt!
Die Treiber schreien und zum Kotzen belln die Hunde.
Der Schnee ist blutig und von Wimpeln rot gefleckt.

Kein sauberes Spiel. Doch die Hände
Der Jäger sind ruhig. Man kann
Uns mit Fähnchen die Freiheit beenden
Und trifft um so sicherer dann.
Denn dem Wolf ist die Grenze gezogen.
Als wir Wolfskinder blind warn und jung
Haben wir mit der Milch eingesogen
Das Verbot für den rettenden Sprung.

Das ist die Jagd aufs graue Wild. Das ist die Wolfsjagd.
Die Alten hingestreckt! Die Jungen hingestreckt!
Die Treiber schreien und zum Kotzen belln die Hunde.
Der Schnee ist blutig und von Wimpeln rot gefleckt.

Ich muss leben! Was schert das Verbot mich?
Ich brech aus, an den Wimpeln vorbei.
Hör voll Spaß noch die Menschen. Sie drehn sich
Nach mir um mit erschrecktem Geschrei.
Ich reiß aus voller Kraft, ohne Fessel.
Aber heut ist ein anderer Tag.
Bin umringt schon und spring aus dem Kessel.
Ohne Beute bleibt heute die Jagd.



Übers. Henry-Martin Klemt
Hia-Nela
schrieb am 06.04.2013, 13:58 Uhr
An die Trauerweide

Trauerweide, erster Baum,
Der die grünen Wimpel schwingt,
Dem zuerst die Lebenslust
Frisch aus Ast und Zweige dringt, –

Warum nennen sie dich so,
Den die Blätterfülle biegt,
Der zuerst im Frühlingswind
Sich im Frühlingstanze wiegt?

Schlecht verstehen sie die Kraft,
Die sich spielend niederneigt,
Mit der Hand die Erde kost,
Mit dem Haupt den Himmel zeigt.

(Otto Julius Bierbaum)
Hia-Nela
schrieb am 06.04.2013, 16:27 Uhr (am 06.04.2013, 16:42 Uhr geändert).
Rainer Maria Rilke

Der Wahnsinn

Sie muss immer sinnen: Ich bin... ich bin...
Wer bist du denn, Marie?
Eine Königin, eine Königin!
In die Kniee vor mir, in die Knie!

Sie muss immer weinen: Ich war... ich war...
Wer warst du denn, Marie?
Ein Niemandskind, ganz arm und bar,
und ich kann dir nicht sagen wie.

Und wurdest aus einem solchen Kind
eine Fürstin, vor der man kniet?
Weil die Dinge alle anders sind,
als man sie beim Betteln sieht.

So haben die Dinge dich groß gemacht,
und kannst du noch sagen wann?
Eine Nacht, eine Nacht, über eine Nacht, -
und sie sprachen mich anders an.
Ich trat in die Gasse hinaus und sieh:
die ist wie mit Saiten bespannt;
da wurde Marie Melodie, Melodie...
und tanzte von Rand zu Rand.
Die Leute schlichen so ängstlich hin,
wie hart an die Häuser gepflanzt, -
denn das darf doch nur eine Königin,
dass sie tanzt in den Gassen: tanzt!...

Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Aus: Das Buch der Bilder / Des ersten Buches erster Teil (1902)




Rainer Maria Rilke

Die Blinde

DER FREMDE:
Du bist nicht bang, davon zu sprechen?

DIE BLINDE:
Nein.
Es ist so ferne. Das war eine andre.
Die damals sah, die laut und schauend lebte,
die starb.

DER FREMDE:
Und hatte einen schweren Tod?

DIE BLINDE:
Sterben ist Grausamkeit an Ahnungslosen.
Stark muss man sein, sogar wenn Fremdes stirbt.

DER FREMDE:
Sie war dir fremd?

DIE BLINDE:
- Oder: Sie ist´s geworden.
Der Tod entfremdet selbst dem Kind die Mutter. -
Doch es war schrecklich in den ersten Tagen.
Am ganzen Leibe war ich wund. Die Welt,
die in den Dingen blüht und reift,
war mit den Wurzeln aus mir ausgerissen,
mit meinem Herzen (schien mir), und ich lag
wie aufgewühlte Erde offen da und trank
den kalten Regen meiner Tränen,
der aus den toten Augen unaufhörlich
und leise strömte, wie aus leeren Himmeln,
wenn Gott gestorben ist, die Wolken lallen.
und mein Gehör war groß und allem offen.
Ich hörte Dinge, die nicht hörbar sind:
die Zeit, die über meine Haare floss,
die Stille, die in zarten Gläsern klang, -
und fühlte: nah bei meinen Händen ging
der Atem einer großen weißen Rose.
Und immer wieder dacht ich: Nacht und: Nacht
und glaubte einen hellen Streif zu sehn,
der wachsen würde wie ein Tag;
und glaubte auf den Morgen zuzugehn,
der längst in meinen Händen lag.
Die Mutter weckt ich, wenn der Schlaf mir schwer
hinunterfiel vom dunklen Gesicht,
der Mutter rief ich: »Du, komm her!
Mach Licht!«
Und horchte. Lange, lange blieb es still,
und meine Kissen fühlte ich versteinen, -
dann wars, als säh ich etwas scheinen:
das war der Mutter wehes Weinen,
an das ich nicht mehr denken will.
Mach Licht! Mach Licht! Ich schrie es oft im Traum:
Der Raum ist eingefallen. Nimm den Raum
mir vom Gesicht und von der Brust.
Du musst ihn heben, hochheben,
musst ihn wieder den Sternen geben;
ich kann nicht leben so, mit dem Himmel auf mir.
Aber sprech ich zu dir, Mutter?
Oder zu wem denn? Wer ist denn dahinter?
Wer ist denn hinter dem Vorhang? - Winter?
Mutter: Sturm? Mutter: Nacht? Sag!
Oder: Tag?.......Tag!
Ohne mich! Wie kann es denn ohne mich Tag sein?
Fehl ich denn nirgends?
Fragt denn niemand nach mir?
Sind wir denn ganz vergessen?
Wir?.......Aber du bist ja dort;
du hast ja noch alles, nicht?
Um dein Gesicht sind noch alle Dinge bemüht,
ihm wohlzutun.
Wenn deine Augen ruhn
und wenn sie noch so müd waren,
sie können wieder steigen.
... Meine schweigen.
Meine Blumen werden die Farbe verlieren.
Meine Spiegel werden zufrieren.
In meinen Büchern werden die Zeilen verwachsen.
Meine Vögel werden in den Gassen
herumflattern und sich an fremden Fenstern verwunden.
Nichts ist mehr mit mir verbunden.
Ich bin von allem verlassen. -
Ich bin eine Insel.

DER FREMDE:
Und ich bin über das Meer gekommen.

DIE BLINDE:
Wie? Auf die Insel?... Hergekommen?

DER FREMDE:
Ich bin noch im Kahne.
Ich habe ihn leise angelegt -
an dich. Er ist bewegt:
seine Fahne weht landein.

DIE BLINDE:
Ich bin eine Insel und allein.
Ich bin reich. -
Zuerst, als die alten Wege noch waren
in meinen Nerven, ausgefahren
von vielem Gebrauch:
da litt ich auch.
Alles ging mir aus dem Herzen fort,
ich wusste erst nicht wohin;
aber dann fand ich sie alle dort,
alle Gefühle, das, was ich bin,
stand versammelt und drängte und schrie
an den vermauerten Augen, die sich nicht rührten.
Alle meine verführten Gefühle...
Ich weiß nicht, ob sie Jahre so standen,
aber ich weiß von den Wochen,
da sie alle zurückkamen gebrochen
und niemanden erkannten.

Dann wuchs der Weg zu den Augen zu.
Ich weiß ihn nicht mehr.
Jetzt geht alles in mir umher,
sicher und sorglos; wie Genesende
gehn die Gefühle, genießend das Gehn,
durch meines Leibes dunkles Haus.
Einige sind Lesende
über Erinnerungen;
aber die jungen
sehn alle hinaus.
Denn wo sie hintreten an meinen Rand,
ist mein Gewand von Glas.
Meine Stirne sieht, meine Hand las
Gedichte in anderen Händen.
Mein Fuß spricht mit den Steinen, die er betritt,
meine Stimme nimmt jeder Vogel mit
aus den täglichen Wänden.
Ich muss nichts mehr entbehren jetzt,
alle Farben sind übersetzt
in Geräusch und Geruch.
Und sie klingen unendlich schön
als Töne.
Was soll mir ein Buch?
In den Bäumen blättert der Wind;
und ich weiß, was dorten für Worte sind,
und wiederhole sie manchmal leis.
Und der Tod, der Augen wie Blumen bricht,
findet meine Augen nicht.....

DER FREMDE leise:
Ich weiß.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Aus: Das Buch der Bilder / Des zweiten Buches zweiter Teil (1906)
seberg
schrieb am 07.04.2013, 12:48 Uhr
Alt Mütterlein

In Sonnenglut, in Mittagsruh
Liegt stumm das Hospital;
Es sitzt ein altes Mütterlein,
Am Fenster bleich und fahl.

Ihr Aug' ist trüb, ihr Haar schneeweiß,
Ihr Mieder rein und schlicht,
Sie freut sich wohl und lächelt still,
Im warmen Sonnenlicht.

Am Fenster blüht ein Rosenstock
Viel Bienlein rings herum,
Stört denn die stille Alte nicht
Das emsige Gesumm?

Sie schaut in all' die Sonnenlust
So selig stumm hinein:
Noch schöner wird's im Himmel sein,
Du liebes Mütterlein!

Friedrich Nietzsche

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