Vom Frühling beseelt, jeden Tag aufs Neue

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Kurt Binder
schrieb am 06.08.2020, 11:40 Uhr
Solitär

Eilige Sohlen auf trocknem Asphalt,
dem Bierduft entgegen, jung und alt -
Ich sitze, gucke ...

Blecherne Töne in rauchigem Duft,
sie dringen zu mir durch würzige Luft -
Ich sitze, schnuppere ...

Froher Gesang, dazwischen Gelache,
„Komm, lieber Mai, oh komm und mache ..."
Ich sitze, lausche ...

Dunkle Wolken im schaumigen Weiß,
sie schwimmen dahin, unhörbar, leis' -
Ich sitze, erschauere ...

Von Amor begleitet, zwei zu zwein,
kehren Sohlen zurück ins traute Heim -
Ich sitze, allein ...
Kurt Binder
schrieb am 11.08.2020, 12:41 Uhr
Silver Surfer

Warmer Südwind kämmt meine Brauen,
Haare flattern ins Gesicht;
mein neues Surfbrett, bestes Buchholz,
mehrfach verleimt,
testet mein Gewicht im Sand -
morgen, im Baggersee!

Verträumt fallen meine Lider zu -
Wind trägt mich hoch,
schwindelnd im Mehrfach-Salto,
höher ... höher ... weiter
auf meinem silbernen Surfbrett
durch den schrumpfenden Raum,
wo die Zeit endlos ist -
im Rausch durch Tag und Nacht,
graue, goldene, rote Wolken
fetzen vorbei, vom Wind gepeitscht;
Flügelschaukeln -
die Kraniche auf ihrem Flug
über den Everest grüßen mich,
Elefanten trompeten tief unter mir,
suchen Wasser im heißen Sand;
Eskimos erlegen ein Kegelrobbe,
lebenshungrig pfeilen sich Delphine
durch grüne Wellen,
der gleißenden Sonne entgegen ...

Zeit zum Umkehren!
In kühnem Bogen
umfliege ich eine Boeiing 747,
spirale mich im warmen Aufwind
sanft in die Tiefe -
butterweich die Landung im Sand.
Langsam öffne ich die Augen;
warm ist das Buchholz
unter meinen nackten Sohlen -

morgen also, im Baggersee!

Tarimona
schrieb am 11.08.2020, 19:58 Uhr
Sowohl Solitär als auch dein Silver Surfer, überaus ansprechende Lyrik lieber Kurt.
Kurt Binder
schrieb am 17.08.2020, 08:55 Uhr
Der Kult am Zweifeln

Vielleicht irre ich mich
im Glauben an einen Gott,
vielleicht täusche ich mich
in meinen Freunden,
vielleicht verhalte ich mich
manchmal unsozial,
vielleicht diffamiere ich
jemanden aus Rachsucht,
vielleicht lüge ich,
um eine Lüge zu tarnen,
vielleicht gewahre ich
statt des Seins bloß den Schein,
vielleicht verwechsle ich
Kult mit Wertschätzung,
vielleicht huldige ich
leichtgläubig Unwerten,
vielleicht fahre ich
kein standesgemäßes Auto,
vielleicht könnte ich
die Versicherung wechseln,
vielleicht sollte ich
mehr Obst und Gemüse essen,
vielleicht sehe ich
zu viele Horrorfilme,
vielleicht müsste ich
dem Paketboten Trinkgeld geben,
vielleicht könnte ich ...

Oder wäre mein Leben
ohne diese Zweifel
vielleicht - viel leichter?

Vielleicht ...
Tarimona
schrieb am 18.08.2020, 20:44 Uhr
Ich muss schon sagen Kurt, deine Zeilen haben mich wirklich berührt nicht nur vielleicht!

Vor einiger Zeit sah ich in meinem Garten eine Amsel. Sie hüpfte so seltsam. Ich folgte ihr und wurde Zeugin, wie sie starb. Das hat mich sehr berührt und daher schrieb ich dieses Märchen..

Die Amsel und das Mädchen


In einem winzig kleinen Dorf, mit winzig kleinen Häusern und winzig kleinen Gärten, lebte ein Mädchn mit ihrer Familie. Sie war ein Mädchen wie alle Mädchen. Na ja, fast.
Sie hatte lange Haare, sie hatte rote Lippen, und der Rock wippte um ihre hübschen Beine. Aber sie hatte noch etwas, etwas was die anderen Mädchen nicht hatten. In ihr wohnten das allergrößte Glück und das allergrößte Leid. Und wer ganz genau hinsah, der konnte es auch erkennen. Denn ihre Lippen lächelten, verzückt im größten Glück. Doch durch ihre Augen zogen die dunkelsten Woken des Leides.

Ein winzig kleiner Garten grenzte an ihr winzig kleines Haus. Und an den winzig kleinen Garten, grenzte ein winzig kleiner Wald.

Manchmal fühlte sich das Mädchen ziemlich alleine. Es wusste nicht so recht warum. Denn es war ja so glücklich. Aber es war auch so traurig. Und niemand verstand.
Es war ein Morgen wie jeder Morgen und das Mädchen ging in den Garten, um Sonnenblumenkerne in das winzige Vogelhaus zu streuen. Dann setzte sie sich vor das Fenster und sah dem unbeschwerten, bunten Treiben der winzigen Vögel zu. Wie putzig sie doch waren. Ein tiefes Glück machte sich in ihr breit.

Langsam ging die Sonne unter und ein winziges Vögelchen nach dem anderen suchte seine winzige Schlafstatt auf. Die Wolken zogen sich wieder in ihren Augen zusammen, da horchte sie auf. Ein Vogel saß auf dem winzigen Vogelhaus, und er war gar nicht so winzig. Pechschwarz war er und hatte einen gelben Schnabel. Eine Amsel, dachte das Mädchen und ein Blitz fuhr durch ihre wolkenverhangenen Augen. Sie rückte näher ans Fenster heran.

Da begann die Amsel zu singen. Die Töne hingen in der Luft, wurden vom Abendhauch herumgewirbelt und von den letzten Sonnestrahlen direkt zu ihrem Fenster gebracht.
Die Amsel legte ihr Köpfchen schief, sah zu ihr hinüber und wartete. Sie stand auf, öffnete die Türe zum Garten und ging hinaus. Immer noch saß die Amsel auf dem winzigen Vogelhaus und sah sie an. Das Mädchen setzte sich auf einen winzigen Gartenstuhl und wartete.

Kaum saß sie, fing die Amsel wieder an zu singen. Und das Mädchen fühlte zwischen all diesen Tönen, das tiefste Glück und das tiefste Leid, so nahe zusammen.
Es wurde kühl und sie ging rein. Die Amsel sang und sang und sang unaufhörlich weiter.

Das alles wiederholte sich am nächsten Tag, und am Tag darauf und wieder am nächsten Tag und dann..
Als das Mädchen wie gewohnt in den Garten ging und die Sonnenblumenkerne in das winzige Vogelhaus streuen wollte, erstarrte sie. Unter dem Vogelhaus lag die Amsel. Kein Ton stieg aus ihrer Kehle empor. Sie war verstummt, verstummt für immer. Oder etwa nicht?

Sie horchte tief in sich hinein. Und da hörte sie es, das Lied der Amsel. Und es erklang in den reinsten Tönen, erzählte vom tiefsten Glück und vom tiefsten Leid. Von diesem Tag an, trug sie das Lied der Amsel immer mit sich. Und wenn sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, das Lied der Amsel hörte, so war es immer ein Echo ihrer Amsel. Jenes Liedes, das nie aufhörte in ihr zu erklingen.


Kurt Binder
schrieb am 20.08.2020, 17:02 Uhr
Es gibt Märchen, für die es eine Sünde wäre, sie zu zerreden und um jeden Preis eine Botschaft darin aufstöbern zu wollen. Tarimonas Romanze ist ein solches Märchen! Es bietet sich uns wie eine Allegorie der Akzeptanz zweier gegensätzlicher seelischer Zustände, die (ach) in einer Brust wohnen, die immer da sind, und eine unendlich weite Gefühlswelt einschließen.
In ihre reizend geschilderte Miniaturwelt hinein, die man gerne als fiktive Kulisse für ein bitter-süßes Geschehen betrachten kann, bringt das Lied der Amsel mittels ihres Gesangs etwas herein, das über ihren Tod hinaus dem Mädchen neuen, immerwährenden Lebensmut spendet.
Also - entspannt zurücklehnen, mit Empathie lesen, und einfach nur wirken lassen!
Lybelle
schrieb am 20.08.2020, 19:04 Uhr
Sehr schönes Märchen, hat mich auch berührt.
Tarimona
schrieb am 22.08.2020, 13:25 Uhr
Vielen Dank die Herren, wünsche ein schönes Wochenende und noch viel zu lesen von euch!
Maikind
schrieb am 22.08.2020, 18:35 Uhr
Ihr Lieben
ich habe nun einiges aufgeholt
im Lesen eurer wunderbaren Texte!!
einfach ohne viele Worte
sehr schön!

wie schon erwähnt, war ich die letzten 4 Tage auf dem Jakobsweg von München Richtung Lindau unterwegs
verzaubert von der Landschaft und der Wanderung an sich
dem Pilz bin ich wirklich begegnet

und das ist eine andere Variante zum Bild

Der einsame Weißling

als weißer König im Reich der Schatten
der tausend Lichtblicke, die
das stille Grün mit dem Ton
der Lebendigkeit besprenkeln
grüßt du den Wanderer
mit deiner Festtagskrone.

Bist gewiss, dass einer
das reine Lächeln weiter bewegt
von dem dein Weiß
in sein Licht hinein flüstert.

Maikind
schrieb am 22.08.2020, 18:39 Uhr (am 22.08.2020, 18:40 Uhr geändert).
[bild]null[/bild]

leider kann ich kein Bild einfügen
Tarimona
schrieb am 22.08.2020, 19:36 Uhr
Wie wunderschön Maikind, deine Wanderung und dein Gedicht. Ein Bild ist nicht nötig. Das zauberst du mit deinen Worten vor unsere Augen.
Kurt Binder
schrieb am 23.08.2020, 09:44 Uhr
Liebe Ute,
wie Tarimona treffend meint, tauchen bei solchen Erlebnissen wie dem Deinen ganz von selbst die schönsten Bilder vor unsren Augen auf.
Vielleicht hast Du auf Deiner Wanderung über den Jakobsweg (um die ich Dich beneide ;-(( ) einmal auch etwas ähnliches empfunden:

Und ewig blüht der Frühling

In der Zeit des Erwachens,
der Wiedergeburt
aus der Starre des Winters,
wenn junges Leben erblüht,
und im Frühling
in der Sehnsucht nach Liebe
Hoffnung auf Erfüllung keimt,
empfinde auch ich,
berauscht von dem Blütenflimmern
den Sinn meines irdischen Daseins.

Doch nicht allein das Edelweiß
auf dem Kalkfelsen,
der Enzian auf den Bergwiesen,
oder die edle Rose in deinem Garten
verklären dein Gemüt.
Es ist das immerwährende Leuchten
in der Tiefe deiner Seele,
das dir, wiewohl von den Mühen
des Tages überschattet,
die Schönheit deines Ichs offenbart.


Lybelle
schrieb am 23.08.2020, 10:02 Uhr
Sehr schönes Gedicht Kurt, lädt zum Nachdenken und innehalten ein
Maikind
schrieb am 23.08.2020, 14:15 Uhr (am 23.08.2020, 14:24 Uhr geändert).
wie der Frühling beseelt!

mit Blütenflimmern!! wie schön
man kanns förmlich spüren
und die Schönheit des Ichs die durch die Gedankenverse zutage kommt!

ein Jahr mit Frühlingsgefühlen durch und durch...
wer hätte das gedacht!
Kurt Binder
schrieb am 27.08.2020, 11:53 Uhr
Kontemplation

Leben – der Puls der Zeit,
wo Jahrmillionen
zu Sekunden schrumpfen,
im eisigen Hauch der Vergänglichkeit -
eine Rapsodie
des Entstehens und Sterbens
im ewigen Kreislauf
des ewigen Seins ...

Im Karneval
vergeblicher Hoffnungen
auf ein besseres Morgen
wirbeln wir im betörenden Duft
verwirrender Täuschungen -
blind, bedeutungslos,
Tag für Tag,
Jahr für Jahr ...

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