Herta Müller . Ehrung

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Lavinia
schrieb am 11.08.2009, 21:32 Uhr (am 11.08.2009, 21:51 Uhr geändert).
Seberg schrieb:
"Habe das Buch inzwischen gelesen. In der Tat: nicht leicht zu geniessen! Fuer manche vielleicht ungeniessbar. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob schwer geniessbar eher wegen dem Inhalt (Lagerleben in "Russland") oder wegen der Form der Mueller-Prosa."

Ganz in diesem Sinne schließt Hajo Steinert seinen Artikel über "Atemschaukel" im Focus von gestern: "Wer es schafft, Herta Müllers bestürzenden, bedrückenden und - wegen seiner sprachlichen Kraft - beglückenden Roman zu Ende zu lesen, wird dieses Buch nie wieder vergessen."

Und weiter oben: "Bei allem historischen Schwergewicht, das der Veröffentlichung zu Grunde liegt -, bei aller subjektiv verbürgten Authentizität, die das Buch Seite
für Seite ausstrahlt - bei "Atemschaukel" handelt es sich nicht um ein dokumentariasches Werk, sondern um einen Roman, der vor allem durch seine literarische Qualität beeindruckt."
seberg
schrieb am 11.08.2009, 22:42 Uhr
Ich merke nur, dass ich das Buch, auch Tage nachem ich es gelesen haben, nicht ganz aus der Hand legen kann, dass ich jeweils das eine oder andere der z.T. auch sehr kurzen "Kapitel" wieder lese, oft wie ein Gedicht, aber oft auch extrem bedrueckend und beeindruckend zugleich.
Irgendwo sagte ich es schon: Wie Pastiors Literatur ist auch jene von Herta Mueller nicht etwas zum schnellen Herunterlesen, schon gar nicht beim Thema der Atemschaukel.
Schiwwer
schrieb am 12.08.2009, 14:35 Uhr (am 12.08.2009, 14:43 Uhr geändert).
Interview mit HM u.a. zum Thema "Übersetzungen" und ihre ersten rumänischen Collagen
www.romlit.ro/cu_herta_mller_despre_colaje
Lavinia
schrieb am 17.08.2009, 20:11 Uhr (am 17.08.2009, 20:48 Uhr geändert).
Heute ist das neue Buch von Herta Müller in die Buchhandlungen gekommen. Ein vielbeachtetes Buch, welches nur positive Kritiken bekommen hat.

Die Siebenbürger Zeitung bringt heute einen Artikel über ein Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch, beseitigt die Sorgen um die kleine Orgel in der Hermannstädter Kirche und läßt seine Leser teilhaben am ersten Kronenfest in Berlin.

Ich denke derweil an den Spruch einer zufälligen Reisebekanntschaft, der bekannte, dass seine Frau einen großen Freiraum genieße, weil sie in allen Fragen des alltäglichen Lebens entscheiden könne und er nur für die wirklich wichtigen Sachen zuständig sei: die Vermeidung eines Atomkrieges, das ökologische Gleichgewicht....

Und ich frage mich, ob diese Frau die Siebenbürger Zeitung gerne lesen würde.
Und ich denke, dass ihr Ehemann eigentlich auch derjenige sein könnte, der in auf der online-Seite der Siebenbürger Zeitung die 'Freiheit' genießen darf, "seine Kritik" (sprich: dumpfe, haltlose Beschuldigungen)auch heute, wie fast täglich, im Forum abzusetzen...

Ich finde die Situation unheimlich traurig und beschämend.
Hier eine Rezension, für all jene, die ähnlich empfinden:

www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1017577/
Schiwwer
schrieb am 17.08.2009, 20:36 Uhr (am 17.08.2009, 20:38 Uhr geändert).
Heute früh das Buch "Atemschaukel" abgeholt. Im Café nebenan mich festgelesen. Bis zu der Stelle:

"Es gibt keine passenden Wörter fürs Hungerleiden. Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. Ich esse buchstäblich das Leben selbst, seit ich nicht mehr hungern muss. Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimreise aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern"

Und dann sah ich vor meinem inneren Auge meinen Vater, Jahrgang 1928, wie er jeden Abend in die Speisekammer ging, alle Töpfe mit Resten sammelte, alle Brotkrusten, und alles aufaß, egal ob es schimmlig war oder gegärt hatte.
Und ich sehe meinen Schwiegervater (*1925), der nicht aufhören kann zu essen, jetzt im Alter kommt ihm der Hunger hoch und wenn er, übergewichtig und schweratmig, auf Drängen der Angehörigen, aufhört mit dem Essen, dann hat er immer noch Hunger.
Weil uns Kindern das Gemüse nicht schmeckte, höre ich meine Mutter (*1926) verbittert sagen: "Zwëi Wochen Russland uch er frësst (nein: "frrrëëïßßßt") ålles." Immer hatte ich als Kind ein schlechtes Gewissen, als ob ich eine Schuld hätte, dass meine Eltern ihre Jugend in Russland verbringen mussten.

Es hat mich umgehauen. Ich konnte heute nicht mehr weiterlesen.
bankban
schrieb am 17.08.2009, 20:48 Uhr
Muss gestehen: hab mir heute auch "Atemschaukel" gekauft.
Bin erschüttert und überwältigt von der Sprachgewalt, dem Rhythmus und der Bilderdichte ("Hungerengel" usw.). Unglaublich! Tatsächlich und zweifellos ein großer Roman!

Übrigens: auf www.kulturraum-banat.de zitiert die Betreiberin der Seite (E. Packi) aus einer E-Mail,
die sie bekommen hat von einem Freund, der mit Herta Müller
ge-e-mailt hat. Müller brachte dabei erneut zum Ausdruck,
dass jene in der Tat unglückselige Überschrift und eine Reihe von anderen Einzelheiten in ihrem Artikel nicht von ihr stammen, sondern von der Redaktion, die ihren Text stark bearbeitet hat.
Nach meinem Gerechtigkeitsempfinden wäre jetzt eine Entschuldigung von CG an die Adresse von Herta Müller das Mindeste, was man erwarten kann. Aber, wie ich fürchte, das Warten wird vergeblich sein.
Euch/Ihnen schönes und spannendes Lesen!
Schiwwer
schrieb am 17.08.2009, 22:18 Uhr
Noch ein Kommentar von heute aus der FAZ:
"Ein überwältigender, ergreifender, demütig machender Roman, die vielleicht nachhaltigste Leseerfahrung dieses Herbstes." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Schreiber
schrieb am 17.08.2009, 22:39 Uhr (am 17.08.2009, 22:44 Uhr geändert).
Zitat von Perlentaucher:

Herta Müllers Roman "Atemschaukel" erzählt atemberaubend poetisch vom Schicksal der Deportierten aus Siebenbürgen in sowjetische Arbeitslager nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Lyriker Oskar Pastior (1927-2006) gehörte zu ihnen und seine Berichte aus dem Lageralltag bilden die Grundlage dieses Buchs, das gemeinsam geschrieben werden sollte.


Mich würde interessieren, was aus "Atemschaukel" Herta Müller und was Oskar Pastior ist. Hat Müller die gesamten Manuskripte Pastiors übernommen und das im Buch auch offengelegt? Müller war nie deportiert, Pastior schon. Also wohl eher ein echter Pastior.

Oder ist es ein "aus Pastior wird Müller"?

oder bekommt gar der bekannte Werbeslogan "alles Müller oder was?" - wobei es dort bekanntlich um Buttermilch geht - eine neue Bedeutung?

Werde mir das Buch ausleihen und lesen und bin schon neugierig.

(kaufen werde ich es nicht, schon um nicht dem genialen wie gigantischen Werbeschachzug mit der Zeitdebatte unkritisch auf dem Leim zu gehen).

Grüße
Schiwwer
schrieb am 17.08.2009, 23:21 Uhr (am 17.08.2009, 23:21 Uhr geändert).
Ach Schreiber,ist ja lustig, dass ein anderer für Sie dem Werbeschachzug der "Zeitdebatte" auf den Leim gehen soll.

Herta Müllers Mutter war in Russland, also ist sie (auch) ein Russland-geschädigtes Kind. Denn es ist wahrlich ein Unterschied, ob man ein Kind z. B. "zum Essen erziehen" will mit dem Satz "die armen Kinder in Afrika haben nichts zu essen" oder ständig die Russlandkeule hervorholt, um zu demonstrieren, wie gut das Kind es hat, wo die Mutter/Eltern doch fast geopfert wurden. Ich hoffe für Sie, das Ihre Eltern in der Nachkriegszeit noch nicht erwachsen waren. Dann haben Sie die Chance von sich zu behaupten, dass Ihre Eltern weniger verkorkst/gebrochen/gedemütigt waren als die der heute Ü50!

Und natürlich ist es Müllers Roman. Pastior hat seine Biographie zur Verfügung gestellt. Jetzt erst verstehe ich seine Freude an Wortexperimenten und -spielen. Dahinter kann man ein ganzes Leben verstecken, um nicht zu sagen ein Scheiß-Leben. Er hat etwas überaus Freundliches und Verschmitztes daraus gemacht.
"Sarmale nach Sarmalutze-Art sind nicht gleich Sarmalutze nach Sarmale-Art"... in der Art hätte er wohl keinen Roman schreiben können.

Lavinia
schrieb am 17.08.2009, 23:30 Uhr (am 18.08.2009, 08:24 Uhr geändert).
Wie kommt es zu dieser Verwechslung? Warum hält sich einer, der bloß plump flapsig ist, für...geistreich?

"Mit dem Geist ist es wie mit dem Magen: Man kann ihm nur Dinge zumuten, die er verdauen kann."
Winston Churchill

Also Schreiber, wenn Sie zu "sparsam" sind, um das Buch zu kaufen, lesen sie doch einfach nur eine Rezension: dann sparen sie sich auch die vielen Worte des Buches!

www.welt.de/kultur/literarischewelt/article4321411/Volksdeutsche-vom-Heimweh-gefressen.html

Adine
schrieb am 18.08.2009, 01:57 Uhr
@Bankban,nach Ihrem Gerechtigkeitsempfinden...
Aber nicht nach Ihrer Erfahrung mit CG.
Soll er nach all dieser - für uns beschwerliche - Tour, zugeben, sich geirrt zu haben?
Soll er in die Knie gehen vor einer Frau, die er unglaublich fies in allen möglichen Foren angegriffen und beleidigt hat?
Soll er sein liebstes Hobby oder gar seine tägliche Hauptbeschäftigung ganz plötzlich aufgeben?
Bankban, Sie und alle hier Schreibende wissen es, CG ist nicht der Typ, der ein mea culpa ausspricht.
Ich bin mir sicher, Herta Müller läßt diese täglichen Steinwürfe nicht an sich ran. Sie ist gewappnet.
Es ist ein Zeichen von Grösse über die Unzulänglichkeiten und Boshaftigkeiten anderer hinwegsehen zu können.
bankban
schrieb am 18.08.2009, 07:10 Uhr (am 18.08.2009, 07:21 Uhr geändert).
Schreiber schreibt:

"Werde mir das Buch ausleihen und lesen und bin schon neugierig.

(kaufen werde ich es nicht, schon um nicht dem genialen wie gigantischen Werbeschachzug mit der Zeitdebatte unkritisch auf dem Leim zu gehen)."

Leider kann ich in dem Geschehen der letzten 12 Monate um Herta Müller, die auf dieser Plattform als Dichterin und als Zeitzeugin arg in Misskredit gebracht wurde, keinerlei "genialen Werbeschachzug" erkennen. Vielmehr erachte ich es als Mitwisser und Beobachter dieses Feldzuges als unsere moralische Pflicht, jetzt erst recht für sie einzustehen und, jawoll, das Buch zu kaufen. Jubiläen, Geburtstage usw. werden unsere Freunde und Kollegen Zuhause oder am Arbeitsplatz demnächst bestimmt haben. Wie wäre es, anstatt einen Wein oder einen Gutschein lieber diesen Roman zu verschenken? Schließlich bringen wir damit bloss etwas ins Bewusstsein der einheimischen Öffentlichkeit, wovon sie bislang keine Ahnung hatte. Und nebenbei leisten wir etwas moralische Widergutmachung an Herta Müller und stellen uns damit der Schmutzkampagne eines vermeintlich moralisch integren Philosophen entgegen.

Damit setzten wir uns zugleich für das Prinzip der Liebe ein und ein Zeichen gegen den Hass, auch wenn in den letzten Monaten diese Begrifflichkeiten in diesem Forum im orwellschen Sinne vertauscht gebraucht wurden (und der Feldzug gegen Herta Müller zwar im Zeichen eines wohlklingenden symphonischen Zusammenspiels, tatsächlich jedoch eher für das Prinzip der Ungeduld, der Unverschämtheit und des Hasses stand).

So sähe für mich wahre Empathie aus.
Anchen
schrieb am 18.08.2009, 09:22 Uhr

@ bankban Hä ? So sähe für mich Ware Emphatie aus.

seberg
schrieb am 18.08.2009, 10:25 Uhr
Weil es gerade um Empathie geht: ohne Empathie, also ohne sich wirklich auch gefuehlsmaeßig voll darauf einzulassen, sollte man ein Buch vielleicht gar nicht erst lesen.

Vermutlich waere mir ohne empathischem Lesen an einer bestimmten Stelle von ‚Atemschaukel’ auch nicht der Atem gestockt, an der Stelle naemlich, wo (oder ‚an der’, bankban? ) der schwule Protagonist Leo Auberg vom Nullpunkt seines Lebens spricht, an dem ihm Kaelte, Hunger, Muedigkeit, Heimweh, Wanzen und Laeuse in besonders unertraeglichen Weise zusetzen, Nullpunkt, an dem er am liebsten „ohne meinen Koerper“ existiert haette, was aber „nichts zu tun mit sterben“ hatte: „es war das Gegenteil“.
Am Nullpunkt des Lebens also will er nichts als – leben!

Aber wie? Ohne Koerper? – Im gewissen Sinne ja.
Es heißt zwar: „Der Nullpunkt ist das Unsagbare“ , man kann darueber nicht sprechen, „hoechstens drumherum“. Aber gerade das „Drumherumreden“ als trotziger Versuch, der Sprache, den Woertern, dem Schreiben das Letzte abzuverlangen. Das Letze an „koerperlos“ Geistigem vielleicht, oder besser an Poetischem mit neuem, eben "poetischem Koerper".
Wo, wenn nicht hier sollte einem der Oskar Pastior einfallen, hier der Pastior im hundertprozentigem Mueller-Buch. Poesie und Schreiben als Leben.
bankban
schrieb am 18.08.2009, 10:40 Uhr
Es heißt zwar: „Der Nullpunkt ist das Unsagbare“ , man kann darueber nicht sprechen, „hoechstens drumherum“. Aber gerade das „Drumherumreden“ als trotziger Versuch, der Sprache, den Woertern, dem Schreiben das Letzte abzuverlangen. Das Letze an „koerperlos“ Geistigem vielleicht, oder besser an Poetischem mit neuem, eben "poetischem Koerper".

Das geht ja durchaus in die Richtung jenes Unsagbaren, wovon wir laut Wittgenstein nicht reden können. Das aber laut Wittgenstein eben doch ausdrückbar ist - in der Musik bzw. (etwas weiter gefasst) in der Kunst. Eben in der Kunst, (darin,) wie Herta Müller mit der Sprache umgeht. Und Herta Müller kennt meines Erachtens jene Aussage von Wittgenstein (ist also nicht ungebildet, wie manche ihr unterstellen), denn einst (1996-1998) hab ich mir aus einem ihrer Romane eben den Satz kopiert, dass man unbedingt darüber sprechen muss, worüber man nicht sprechen will. (Würde mich freuen, wenn jemand den Satz genau zitieren könnte).

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