Ein schönes Gedicht

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Sari
schrieb am 07.09.2012, 21:46 Uhr (am 07.09.2012, 21:48 Uhr geändert).
Struwwelpeter
schrieb am 11.09.2012, 13:33 Uhr
Die gestutzte Eiche

Wie haben sie dich, Baum, verschnitten,
Wie stehst du fremd und sonderbar,
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nur noch Trotz und Wille in dir war!
Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Verquälten Leben brech ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Rohheiten neu die Stirn ans Licht.
Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt geknickt, verhöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt.
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt.
Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in diese tolle Welt.

(Hermann Hesse)
Sibyl
schrieb am 12.09.2012, 19:18 Uhr (am 12.09.2012, 19:19 Uhr geändert).
...und allem Weh zu Trotze bleib ich
verliebt in diese tolle Welt.


H. Hesses Gedichte berühren zutiefst in ihrer Menschlichkeit und Gedankenfülle.

Der Einsame an Gott
(aus dem Glasperlenspiel)

Einsam stehe ich, vom Wind gezerrt,
Ungeliebt und verlassen
In der feindlichen Nacht.
Schwer ist mein Gemüt und voll Bitterkeit,
Wenn ich Deiner gedenke,
Blinder Gott, der voll Grausamkeit
Immer das Unbegreifliche tut.
Warum lässest Du, wenn Du die Macht hast,
Warum lässest Du Hunde und Säue
Eines Glückes genießen, das nie
Dem verschmachtenden Edleren wird?
Warum peitschest Du mich, der Dich liebte,
Jagst mich alleine durch die Nacht,
Warum raubst Du mir alles,
Was Du doch jedem Erbärmlichen gönnst?
Selten hab ich geklagt, und seltener
Dir im Unmut geflucht,
Jahrelang in gläubiger Priesterschaft
Lebte ich Dir, nannte Dich Herr und Gott,
Sah in Dir meines Daseins Kron und Sinn;
Immer ging ich, ob auch im Dunkeln oft,
Tastend dem Guten nach, immer war Liebe,
Immer Güte und Reinheit mein hohes Ziel.
Dennoch hast Du, der meinen Feinden schmeichelt,
Niemals mir einen einzigen Traum,
Eine einzige Bitte erfüllt!
Niemals kannte ich andres als Kampf und Arbeit,
Während drüben im Hause der Fröhlichen
Laute und Tanz und süßer Gesang erscholl.
O und wie hast Du, mein Peiniger,
Wenn ich einmal in blinder Hoffnung
Zärtlicher Liebe mein Herz voll Vertrauen bot,
Wie hast Du mit Spott und Verachtung mich überschüttet,
Daß ich grimmig entfloh, vom Gelächter der Frauen verfolgt!
Einsam nun und ohne Glauben an Glück,
Schlaflos bei Nacht und am Tag voller Zweifel
Geh ich gottlos durch diese Welt,
Mir zur Qual und Dir zur traurigen Schande.
Trotzdem, o Gott, wenn auch Dein Finger tief
Und voll blinder Wollust in meiner Wunde wühlt,
Trotzdem sollst Du mich nicht verzagen,
Nicht im Staube knien und weinen sehen.
Denn Dein heimlicher Wunsch, Grausamer,
Tönt ja doch unbesiegbar im Herzen mir,
Und das Leben zu lieben,
Und das sinnlose Leben wild und sinnlos zu lieben
Hab ich in aller Verfolgung
Aller Versuchung niemals völlig verlernt.
Dich auch und Deine launischen Wege
Liebt mein Herz, indem es Dich trotzdem höhnt.
Ja, ich liebe Dich, Gott, und ich liebe
Heiß die verworrene Welt, die Du schlecht regierst.
...Horch! Von drüben, wo die Fröhlichen sind,
Weht mir Lied und Gelächter,
Weiberschrei und silbernes Bechergeläut.
Aber mit tiefer Wollust,
Süßer und trunkener glüht als diesen Genügsamen
Mir die Liebe zum Leben
In der glücklos hungernden Brust.
Und ich schütte zornig
Aus den schlaflosen Augen die Müdigkeit,
Trinke Nacht und Wind, Sternschein und Wolkengebirg
Gierig mit atmenden Sinnen
In die unersättlich Seele ein.
(Hermann Hesse)

Sibyl
schrieb am 17.09.2012, 20:04 Uhr
Wunsch

Seh ich jene blauen Hügel
blicken fernher bis zu mir.
Teure Heimat, hätt ich Flügel,
o wie gern flög ich zu dir!

Gönntest du dem armen Müden
nur ein Hüttlein still und klein,
ach! er fände seinen Frieden,
ach! er würde glücklich sein!

Deine Fluren, deine Auen,
deiner Ströme Silberband
nur noch einmal wieder schauen,
mein geliebtes Heimatland!

Einmal noch in Lenzesfülle
deine schattgen Wälder sehn
und im Dörflein, schlicht und stille,
nur noch einmal mich ergehn!

Muss dies alles schon entbehren
ach so lang - unendlich lang.
Lass mich einmal nur noch hören
deiner Kirchenglocke Klang,

wenn den letzten Gruß sie nieder
sendet in die finstre Gruft
oder wenn sie sonntags wieder
in die Kirche alle ruft.

Lass mich wieder, traute Hütte,
lass mich dich auch wieder sehn,
lass mich glücklich in der Mitte
meiner Lieben wieder stehn.

Nur noch einmal lass dich grüßen,
nur für einen Augenblick;
nur noch einmal mich genießen
dieses himmlisch schöne Glück.

Und am Ende meiner Leiden
weih als letzte Liebesgab
mir ein Kreuzlein schlicht, bescheiden,
und ein kühles, stilles Grab.

(Rainer Maria Rilke)
Struwwelpeter
schrieb am 26.09.2012, 19:25 Uhr
Die freie Marktwirtschaft

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort, die Gruppen - sei unser Panier!
Na, ihr nicht. Aber wir.

Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen,
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn
- wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht. Aber wir.

Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge
- kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier...
Ihr nicht. Aber wir.

(Kurt Tucholsky)
kranich
schrieb am 27.09.2012, 07:22 Uhr
@ Struwwelpeter: Mit Verlaub: Wenn du dieses Gedicht als schön bezeichnest, bin ich Adonis...
seberg
schrieb am 27.09.2012, 09:41 Uhr (am 27.09.2012, 10:05 Uhr geändert).
Und weil Tucholsky so hässliche Gedichte geschrieben hat, haben die Nazis seine Bücher ja auch am Scheiterhaufen verbrannt. Vielleich war er zu - visionär?
Den zweiten, hässlichsten Teil des Gedichtes hat Struwwlepeter übrigens auch lieber weggelassen:

Was ihr macht, ist Marxismus.
Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden ...
 
Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
Komme, was da kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
»Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir.«

(geschrieben 1930!)
Struwwelpeter
schrieb am 27.09.2012, 10:56 Uhr (am 27.09.2012, 10:57 Uhr geändert).
@ Kranich
Adonis oder schönes Gedicht,
da kann man geteilter Meinung sein.
Du verstehst darunter vielleicht: Natur, Lyrik, heile Welt eben.
Für mich ist das Gedicht schön, weil es Zeitgeschichte transparent macht,
weil es gesellschaftskritisch ist, und es polarisiert.
Tucholsky ist unverwechselbar, manchmal widersprüchlich, aber auf jeden Fall lesenswert.
Struwwelpeter
schrieb am 27.09.2012, 11:38 Uhr
@ seberg
dir entgeht aber auch rein gar nichts, wie gehabt.
Ja, hätte Tucholsky 'schöne' Gedichte geschrieben, wäre er auch nicht als einer der ersten ausgebürgert worden.

Übrigens zu Adonis passt vielleicht "Rheinsberg".

seberg
schrieb am 27.09.2012, 12:29 Uhr
Richtig, "Rheinsberg", eine wunderschöne Liebesgeschichte, ich glaube es gab einen DEFA-Film, den man in den 70-er Jahren auch in Rumänien sehen konnte.
kranich
schrieb am 27.09.2012, 13:07 Uhr
Tatsächlich: Der zweite Teil ist noch schöner...
kranich
schrieb am 27.09.2012, 13:13 Uhr
Für mich ist das Gedicht schön, weil es Zeitgeschichte transparent macht

Ob die Weimarer Republik schön war? Geschmacksache, aber diesbezüglich gehen die Meinungen eben auseinander...
Sibyl
schrieb am 02.10.2012, 18:28 Uhr
Herbst

Astern blühen schon im Garten,
schwächer trifft der Sonnernstrahl.
Blumen, die den Tod erwarten
durch des Frostes Henkerbeil.
...Herbstes Freuden, Herbstes Trauer,
welke Rosen, reife Frucht.

(Detlev von Liliencron)

Wanderer
schrieb am 07.10.2012, 13:19 Uhr
Gottfried August Bürger (1747-1794)

Die Schatzgräber


Ein Winzer, der am Tode lag,
Rief seine Kinder an und sprach:
»In unserm Weinberg liegt ein Schatz,
Grabt nur darnach!« – »An welchem Platz?« –
Schrie alles laut den Vater an.
»Grabt nur!« – O weh! da starb der Mann.

Kaum war der Alte beigeschafft,
So grub man nach aus Leibeskraft.
Mit Hacke, Karst und Spaten ward
Der Weinberg um und um gescharrt.
Da war kein Kloß, der ruhig blieb;
Man warf die Erde gar durchs Sieb,
Und zog die Harken kreuz und quer
Nach jedem Steinchen hin und her.
Allein da ward kein Schatz verspürt
Und jeder hielt sich angeführt.

Doch kaum erschien das nächste Jahr,
So nahm man mit Erstaunen wahr,
Dass jede Rebe dreifach trug.
Da wurden erst die Söhne klug,
Und gruben nun Jahr ein Jahr aus
Des Schatzes immer mehr heraus
Struwwelpeter
schrieb am 08.11.2012, 14:00 Uhr (am 08.11.2012, 14:01 Uhr geändert).
Rückgedenken

Am Hang die Heidekräuter blühn,
Der Ginster starrt in braunen Besen.
Wer weiß heut noch, wie flaumiggrün
Der Wald im Mai gewesen ?

Wer weiß heut noch, wie Amselsang
Und Kuckucksruf einmal geklungen?
Schon ist, was so bezaubernd klang,
Vergessen und versungen.

Im Wald das Sommerabendfest,
Der Vollmond überm Berge droben,
Wer schrieb sie auf, wer hielt sie fest?
Ist alles schon zerstoben.

Und bald wird auch von dir und mir
Kein Mensch mehr wissen und erzählen,
Es wohnen andre Leute hier,
Wir werden keinem fehlen.

Wir wollen auf den Abendstern
Und auf die ersten Nebel warten.
Wir blühen und verblühen gern
In Gottes großem Garten.

(Hermann Hesse)

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