Ein schönes Gedicht

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Herzchen
schrieb am 08.11.2012, 15:47 Uhr (am 08.11.2012, 15:48 Uhr geändert).
Rainer Maria Rilke

Herbst
[Das Buch der Bilder I/2; 1902]
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Herzchen
schrieb am 08.11.2012, 15:54 Uhr (am 08.11.2012, 15:55 Uhr geändert).
... und noch zwei Kurt -Tucholsky-Gedichte:

Mutters Hände

Hast uns Stulln jeschnitten
un Kaffe jekocht
un de Töppe rübajeschohm -
un jewischt un jenäht
un jemacht un jedreht...
alles mit deine Hände.

Hast de Milch zujedeckt,
uns bonbongs zujesteckt
un Zeitungen ausjetragen -
hast die Hemden jezählt
und Kartoffeln jeschält...
alles mit deine Hände.

Hast uns manches Mal
bei jroßem Schkandal
auch'n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht.
Wir wahn Sticker acht,
sechse sind noch am Leben...
Alles mit deine Hände.

Heiß warn se un kalt.
Nu sind se alt.
Nu bist du bald am Ende.
Da stehn wir nu hier,
und denn komm wir bei dir
und streicheln deine Hände.



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Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast's gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
@ grumpes
schrieb am 08.11.2012, 16:50 Uhr
Herzchen
schrieb am 08.11.2012, 17:41 Uhr
Haiduc
schrieb am 19.12.2012, 21:35 Uhr
Großmutter

Schon dämmert’s draußen und wandelt fein
Den Zwielichtschimmer zum Vollmondschein –
„Ach könntest erzählen du immerzu,
Ach stürbst du uns nimmer, Großmütterchen du!“
Der Mond durchschimmert ihr Greisenhaar,
Die Alte ist heute so sonderbar,
Sie wischt sich die Wimpern, lächelt, spricht:
„Noch eines erzähl ich – vergesst es nicht!

Einst lebt‘ eine Frau, wie ich war die:
Die Kinder und Enkel liebten sie,
Sah alles herrlich rings gedeihn
Und sollte scheiden doch bald allein.
Ach, als er – erschreckt nicht – drohte der Tod,
Wie bracht ihrs Herzeleid und Not! . . .
Sie hat ihn verflucht in gellem Schrei –
Da nickte der Tod – und ging vorbei.

Ei, jubelte die Frau dazu:
„Nun lässt er mich bei Euch in Ruh“ –
Schon lag der Schnee auf ihrem Haupt,
Noch hat sie sich benedeit geglaubt.
Von Kind und Kindeskinde trank
Das Lachen sie mit Glück und Dank,
Bis eines Tages sie verstört
Unterm Lachen rings auch Gelächter hört.

Bis gar so kühl die Welt ihr ward –
Was da war, schien ihr fremder Art, -
Was einst so voll war, jetzt ward’s leer, -
Müd ward der Leib, der Geist ward schwer.
Die Sonne stieg, die Sonne sank,
Die Alte saß kalt auf der Ofenbank:
Bald konnt sie schlecht nur gehn und stehn,
Schön war sie nicht mehr anzusehn.

Dann starben die Kinder, - die Alte säumt,
Dann starben die Enkel, - die Alte träumt.
Die Neuen fragen: was soll das hier?
Die Kleinsten, sie fürchten sich schon vor ihr.
Runzel an Runzel ihr Angesicht,
Kauert sie da und rührt sich nicht –
Nur in den roten Äuglein doch
Glimmt’s wie ein Funken immer noch.

Geschlecht auf Geschlecht vorübergeht –
Das Hutzelgespenstchen sie übersteht,
Vertrocknet – wer sie sieht, der bebt –
Zu einem Alräunchen, aber lebt.
In einer Schachtel, mit Glas darauf,
Stellt man sie endlich im Dome auf.
Am Totensonntag nur regt sich drin
Und seufzt, kaum hört mans, vor sich hin.“

„Großmutter, erzähl uns was andres – uns graut!“
Großmutter streichelt die Kleinste und schaut
Von einer zu andern: „und denkt nur gar:
Die dumme Geschichte ist gar nicht wahr!“
Draußen steht einer in Mondenlicht,
Sie sieht ihn, die Kindern sehen ihn nicht.
Sie grüßt mit den Augen ihm hinaus,
Er zeichnet mit einem Kreuzlein das Haus.

(Ferdinand Ernst Albert Avenarius)
Haiduc
schrieb am 07.01.2013, 22:59 Uhr
Wolf von Aichelburg (* 3. Januar 1912 in Pula, Istrien; † 24. August 1994 vor Mallorca) war ein siebenbürgisch-deutscher Schriftsteller und Dichter.

Auf dieser Höhe

Auf dieser Höhe trifft der Wind nur Stein.
Schafe haben wandernd eine Heimat.
Sollte dir, dem Wanderer im Grün,
Frühling täuschen einen Aufenthalt?

Auf dieser Höhe hält die Sonne Rast.
Tiere wissen nicht von Glück, sie wandern.
Käferwege, Vogelflugmäander
schläfern ein, doch du bist nicht zu Gast.

War diese Höhe jemals Wurzelgrund?
Der Baum wär nur ein Schatten. Du bist wach.
Und wär es Schuld, wenn du hier Hütten bautest
im Frühling, Herbergen aus Glück und Wind?

(Wolf von Aichelburg)
Struwwelpeter
schrieb am 08.01.2013, 17:59 Uhr
Am Anfang sind die Vorsätze.

Es folgen:
Hauptsätze mit ihrer Überheblichkeit.
Nebensätze mit wenig Selbstbewusstsein,
Fragesätze, die auf Antworten warten,
Grundsätze, die keine Beachtung finden,
Notensätze in allen Tonarten,
Absätze aus Leder und Hartgummi,
Ansätze ohne Ende,
Aufsätze ohne Zahl,
Zusätze, ganz nach Geschmack,
Untersätze auf Tischen und Straßen,
Einsätze ohne Gewinn,
Merksätze, die sich niemand merkt,
Steuersätze, immer zu hoch,
Umsätze, immer zu niedrig,
Zinssätze, die von Prozenten leben,
Gegensätze mit ihrer Streitlust,
Sprengsätze, die zu explodieren drohen,
Lehrsätze, die auf taube Ohren stoßen,
und der in die Zukunft weisende Kaffeesatz.
Am Ende geraten die Vorsätze in Vergessenheit.

(nach Unbekannt)

Haiduc
schrieb am 08.01.2013, 21:30 Uhr
Klage
(aus dem Glasperlenspiel)

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir zu Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wir, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauen,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.

(Hermann Hesse)
seberg
schrieb am 08.01.2013, 22:31 Uhr
Ein Gedicht zur rechten Zeit!
Und eins von Hermann Hesse ist immer mit Vergügen zu lesen! Er ist einer jener Dicher, bei denen mich das Wort Gott nicht stört, ich weiß, wie er es meint. Etwa so wie Albert Einstein die kosmischen Religiosiät meint...Ganz menschlich...
bankban
schrieb am 08.01.2013, 22:34 Uhr
Sorry, aber Hesse ist für mich Kitsch für Oberstufeneleven. (V.a. "Stufen").
seberg
schrieb am 08.01.2013, 22:40 Uhr (am 08.01.2013, 22:40 Uhr geändert).
Na ja, "Stufen" wird ja auch bis zum Gehtnichtmehr immer wieder und überall zitiert. Vielleicht braucht man aber für einige seiner Erzälungen einen gewissen Zugang, der nicht jedem unbedingt möglich ist ...will das hier nicht weiter ausführen...
Lilith
schrieb am 09.01.2013, 00:04 Uhr (am 09.01.2013, 00:04 Uhr geändert).
jetzt sag bloss du hättest nicht mal hierfür den benötigten "Zugang"
Das Beste daran war aber nicht das Küssen und nicht das abendliche Zusammenpromenieren und Heimlichtun. Das Beste war die Kraft, die mir aus jener Liebe floß, die fröhliche Kraft, für sie zu leben, zu streiten, durch Feuer und Wasser zu gehen. Sich wegwerfen können für einen Augenblick
Haiduc
schrieb am 09.01.2013, 09:40 Uhr
Heimat für Heimatlose

So nah dem Strand ein stiller Raum,
Ein eingehegter Garten:
Will man bei Sturm und Wogenschaum
Hier noch der Blumen warten?
Ich trete ein. Zwei Gräberreih'n
In Heidekraut und Moose.
Es sagt der Schrift erloschner Schein:
"Heimat für Heimatlose!"

Die mitleidslos das Meer geraubt
Und die das Meer gab wieder,
Hier legten sie ihr bleiches Haupt
Von Wellen triefend nieder.
Schiffbrüchige — man kennt sie nicht,
Ob Schiffsherrn, ob Matrosen,
Nun träumen von der Heimat Acht
Die armen Heimatlosen.

Du Fremdling mit dem flüchtigen Sinn,
Zieh lachend nicht von hinnen,
Auf dein Woher, auf dein Wohin
Sollst du dich hier besinnen.
Noch eh' der Abend niedersinkt,
Zerflattert Ruh und Rose,
Weh dem, dem nicht beim Scheiden winkt
Heimat für Heimatlose.

Du andrer Gast mit müdem Fuß,
Voll Schwermut und voll Sorgen,
Denk' nicht bei diesem Kirchhofsgruß:
"Hier wär' ich wohlgeborgen!
Was treib' ich noch von Ort zu Ort,
Ein Blatt im Sturmgetose?"
Ist wirklich Tod ein Ruheport,
Heimat für Heimatlose?

Wir sind ein Volk, vom Strom der Zeit
Gespült zum Erdeneiland,
Voll Unfall und voll Herzeleid,
Bis heim uns holt der Heiland.
Das Vaterhaus ist immer nah,
Wie wechselnd auch die Lose —
Es ist das Kreuz von Golgatha
Heimat für Heimatlose.

(Rudolf Kögel)

Der letzte Vers dieses Gedichtes ist auf Veranlassung von Carmen Sylva auf dem Kirchhof von Westerland in Stein gegraben.
Der Friedhof der Heimatlosen liegt an der Elisabethstraße, welche nach "Carmen Sylva", der "Königin Elisabeth von Rumänien", benannt wurde; denn sie war im Sommer 1888 täglich diesen Weg entlang am Friedhof vorbei zum Strand gegangen.

Link
Haiduc
schrieb am 09.01.2013, 09:58 Uhr
Heimatlose Flügel

Hast dus schon gesehen,
- Wenn die Schwalbe wiederkehrt
Aus des Südens Sonne,
Und sie sieht ihr Nest verheert:
Wie sie einer armen
Seele gleich ums Plätzchen schwirrt
Und mit heimatlosem
Flügel an der Stätte irrt?

Heimatlose Flügel -
Giebts ein Leiden noch so gross?
Mögst du, Menschenkind, nie fühlen,
Dass du heimkehrst heimatlos!

Karl Ernst Knodt
Herzchen
schrieb am 09.01.2013, 11:27 Uhr (am 09.01.2013, 11:32 Uhr geändert).
@haiduc
Danke für deine mit Bedacht, so scheint mir, ausgesuchten Beiträge.
Wer liest heute schon noch W.v.Aichelburg, wer kennt diesen siebenbürgischen Dichter noch, der heuer 100 Jahre geworden wäre?
Auch dein letztes posting mit dem Gedicht von Knoth hat mich sehr berührt.
Diese Gedichtseite scheint mir momentan um vieles mehr an "Heimat" zu bergen, im Sinne von Heimat als Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, diese wiederum voraussetzen Respekt, Achtung, Empathie, als der Thread "Was ist Heimat?".
Dort werden wieder, wie in fast jedem Thread, Federn gerupft, Vorhalte und Vorwürfe hin und her gestellt, wird wieder, wie immer und wie stets von Denselben, beleidigt und beschimpft und werden diese Leute auch wieder noch dafür hofiert, bestätigt.

Dann lieber hier.
Dann lieber so.
Dass "Heimat" in uns, frei von allem Negativem, erstehen kann insofern, dass wir achtsam über die zweifelsohne große und sich als kompliziert darstellen könnende Vielfalt von "Heimat" nachdenken können und uns, auch wie immer wieder betont, unserer Sprache als Heimat würdig, zu dieser äußern und austauschen mögen.

Meine Heimat

Meine Heimat liegt im Blauen,
fern und doch nicht allzu weit,
und ich hoffe sie zu schauen
nach dem Traum der Endlichkeit
Wenn der Tag schon im Versinken
und sein letztes Rot erbleicht,
will es manchmal mich bedünken,
daß mein Blick sie schon erreicht.

Martin Greif (Friedrich Hermann Frey)




In der Heimat war ich wieder...

In der Heimat war ich wieder,
alles hab ich mir besehn,
als ein Fremder auf und nieder
mußt ich durch die Straßen gehn.

Nur im Friedhof fern alleine
hab´ich manchen Freund erkannt,
und bei einem Leichenstein
fühl´ich eine leise Hand.

Martin Greif (Friedrich Hermann Frey)

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