Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Kurt Binder
schrieb am 14.04.2021, 10:59 Uhr (am 14.04.2021, 11:03 Uhr geändert).
Und wieder schreite ich über eine Brücke in die Vergangenheit zurück, zu einer Stelle, die fast jeder Siebenbürger bestens kennt:

Stolperstein Grenze

In den ersten Jahren nach unsrer Übersiedlung in die Bundesrepublik fuhren wir noch einige Male nach Hermannstadt, teils um Verwandte und Bekannte zu besuchen, oder aber einen Urlaub am Schwarzen Meer zu verbringen. Wie es so üblich war, brachten wir immer auch Geschenke mit, die man gerne entgegen nahm, weil es ja gegen Ende der 70ger Jahre an vielen notwendigen Dingen mangelte.
Die Fahrt mit dem Auto war etwa knapp 1500 km, und erstreckte sich in der Regel über zwei Tage, mit einer Übernachtung in Nickelsdorf, Österreich, nahe der ungarischen Grenze. Dennoch waren die zeitweiligen Strapazen dieser Fahrten das reinste Vergnügen, verglichen mit dem Unbehagen und dem Herzklpofen, das mit jedem Kilometer zunahm, den wir uns der rumänischen Grenze näherten, Von unsren Erlebnissen hier erzähle ich zwei, die nicht kontrastreicher sein konnten!
Schon der Anblick des Grenzers, ein Milizmann, reichte aus, um unsren Puls in die Höhe schnellen zu lassen. Auch diesmal näherte er sich in einer überheblichen Pose, aus welcher uns das volle Bewusstsein seiner patriotischen Funktion entgegendrohte. In der rechten Hand drehte er vielsagend einen Schraubenzieher herum, und ließ ihn durch die Luft wirbeln. Leider schaffte er es nicht, ihn wieder zu fangen – und das Werkzeug knallte auf den Boden. Der Milizer hob es verlegen auf, und kommentierte den Misserfolg seiner Zirkusnummer mit der üblichen Empfehlung (in der dritten Person), sofort in den maternen Ursprung zurückzukehren. Dann stand er vor uns und herrschte mich an:
“Mach den Kofferraum auf!“ Als er nach gründlichem Wühlen nichts Gesetzwidriges gefunden hatte, öffnete er die Fahrertür, und begann genüsslich, die Abdeckung innen abzuschrauben. Da er auch zwischen den Doppelwänden nichts entdeckte, haute er die Tür unmutig zu, und sah mich fragend an. Ich lächelte ihn verliebt an und reichte ihm ein paar Pixe. Er warf einen flüchtigen Blick darauf und meinte:
“Jetzt pass mal auf – ich brauch keine Pixe; ich hab genug davon. Du steckst mir jetzt eine LUX-Seife, ein Paar Nylon-Strumpfhosen, einen Tinten-Killer und zwei Päckchen KENT-Zigaretten in einen Beutel, und legst ihn auf den Beifahrersitz – ich komm gleich wieder!“ Nach einer Viertelstunde kam er, griff durch die offene Befahrertür hinein, langte sich den Beutel und ging zum Grenzhäuschen. Fünf Minuten später waren wir in Rumänien!
Richtig wohltuend war ein Jahr darauf die Begegnung mit einem andern Grenzer. Das Päckchen mit den Sachen für den „miliţianul binevoitor“, den wohlwollenden Milizmann, lag bereit auf dem Beifahrersitz. Der Mann, diesmal ein junger Leutnant, kam mit flotten Schritten auf unsren Opel zu. Erika und ich zauberten das gewohnte einnehmende Bajazzo-Lächeln in unsre Gesichter, unterdrückten das Herzklopfen, welches jedes Mal angesichts der Ungewissheit der kommenden Augenblicke die gekünstelte Gelassenheit auf unsren Fassaden Lügen strafte - und warteten. Die Kinder waren ausgestiegen und tobten fröhlich um das Auto herum, froh, etwas Bewegung machen zu können.
Der Leutnant lächelte, als er das Auto umrundete. Das schien zwar ein gutes Zeichen zu sein, doch hatte uns die Erfahrung gelehrt, dass es auch nur die Maske seiner Unberechenbarkeit sein könnte. Doch diesmal kam es anders.
„Ist es den Kindern nicht zu heiß da drin?“, fragte er und blickte mit gerunzelter Stirn in das Durcheinander im Wagen. Ich bejahte und erklärte ihm, dass wir kein Geld für einen größeren Wagen hätten.
„Und - Sie schlafen auch hier?“, erkundigte er sich weiter, als er die zerknüllten Wolldecken sah. Ich nickte nur, und muss wohl sehr verlegen dreingesehen haben, denn er sagte tröstend zu uns:
„Halten Sie durch! Ich bin sicher, dass es Ihnen in ein paar Jahren besser gehen wird!“ Und als ich ihm das Päckchen geben wollte, erlebte ich die wohl größte Überraschung in meinen Grenzerlebnissen: Er lehnte entschieden ab mit den Worten:
„Păstraţi-le! Noi luăm numai de la cei avuţi; dumneavoastră sînteţi nevoiaşi!“ Und zu Erika gewand: „Sărut mîna, stimată doamnă, şi drum bun!“
„Behalten Sie das! Wir nehmen nur von den Wohlhabenden; Sie sind Bedürftige! Küss die Hand, geehrte Dame, und gute Fahrt!“
Ich sage euch, dies war einer jener Momente, in denen ich mich für jede ablehnende Haltung zu unseren rumänischen Mitbürgern schämte, die ich im Laufe meines Lebens in verschiedenen Situationen empfunden hatte - wenn diese manchmal auch, besonders in der Nachkriegszeit berechtigt war.

Kurt Binder
schrieb am 26.04.2021, 10:30 Uhr
Unsre erste Wohnung in der Bundesrepublik

Im Ländle hatten wir gelegentlich Schwierigkeiten, den schwäbischen Dialekt zu verstehen. Im Großen und Ganzen kamen wir schon damit klar, doch wenn dann ortsübliche Redewendungen in breitem Schwäbisch in unsre Ohren drangen, oder deutsche Wörter zu sehr verschwäbelt wurden, mussten wir oft mit einer Gegenfrage antworten, was damit gemeint sei. Diese kleinen Stolpersteine in der Verständigung wurden meistens unter beiderseitigem Schmunzeln aus dem Weg geräumt.
Nicht so bei Frau Schäberle! Kaum im Städtchen Herrenberg angekommen, gingen Erika und ich zum Wohnungsamt, um uns nach einer Zweizimmerwohnung zu erkundigen. Wir traten ein und grüßten höflich:
„Guten Morgen!“ Die besagte Dame saß mit dem Rücken zu uns an der Schreibmaschine. Sie drehte sich nicht um, antwortete auch nicht auf unsren Gruß, sondern tippte ruhig weiter. Wir standen wohlerzogen da und warteten, dass unsre Gegenwart zur Kenntnis genommen werden sollte. Als dies längere Zeit nicht geschah, räusperte ich mich dezent. Ohne sich uns zuzuwenden, fragte sie unwirsch, was wir denn wollten. Ich erklärte dem Rücken, dass wir eine Wohnung bräuchten, und fragte ihn, welche Chancen wir hätten, in diesem reizenden Städtchen eine Sozialwohnung zu bekommen. Der Rücken antwortete diesmal sofort und sehr deutlich:
„Keine!“ Da ich mit dieser Antwort nichts anfangen konnte, bat ich Frau Schäberle, mir zu erklären, wie ich dennoch eine Wohnung finden könne; ich befände mich hier ja beim Wohnungsamt, oder? Es folgte eine Tirade in einem ziemlich ungehaltenen Ton, die ich nicht wiedergeben kann, weil ich nicht alles verstanden hatte. Als ich ihr das erklärte - ihr glaubt es kaum -, drehte sie sich tatsächlich um, und ich konnte ihr freundliches Gesicht sehen. Es entsprach in allen Einzelheiten ihrem Verhalten uns gegenüber. Sodann wehte sie uns mit Windstärke 5 die Frage entgegen, die mich ein für alle Mal über die Bedeutung und die Rangordnung dieser Mundart im deutschen Sprachraum aufklärte:
„Sia verschtanded mi net, gell? Ja morom kommetse no här, wenn sia net amol Deidsch kennad?"
Ein Paradebeispiel von lobenswertem Nationalbewusstsein, das uns aber leider keine Wohnung einbrachte. Auf meine höfliche, allerdings entsprechend dosierte Antwort hin erschien aus dem Nebenzimmer der Chef dieses Amtes und erkundigte sich nach der Ursache des erhobenen Klangpegels unsres Stimmenduells. Ich erklärte ihm den gesamten Hergang unserer Begegnung, betonte auch, dass wir unbedingt eine Wohnung bräuchten, weil meine Frau eine Stelle als Mathe-Lehrerein am Schickhardt-Gymnasium bekommen hätte. Er nickte verstehend, ging zu Frau Schäberle, flüsterte ihr ärgerlich etwas ins Öhrchen - und iin zehn Minuten waren wir neue Mieter im Hochhaus am Rande Herrenbergs, mit herrlichem Ausblick auf den Naturpark Schönbuch. Den Verdruss über ihre Niederlage vor uns, der deutschen Sprache unkundigen Ausländern äußerte die kämpferische Dame, indem sie uns zum Abschied erneut mit ihrer dorsalen Fassade erfreute.

So geschehen in Herrenberg im Gäu, im Sommer des Jahres 1976.




Kurt Binder
schrieb am 06.05.2021, 22:50 Uhr
Ein Fisch namens Tilbud

Wir befanden uns auf unsrer ersten Norwegen-Reise. Von Hirtshals, dem nördlichsten Hafen Dänemarks, waren wir mit der Fähre über den Skagerrak geschippert, und nach einer etwa 4-stündigen Überfahrt in Kristiansand, der südlichst gelegenen Hafenstadt Norwegens gelandet. Durch das Setesdal fuhren wir an einem stellenweise stürmisch brausenden Fluss, der Otra entlang nordwärts. Wir wollten das fremde, kühle Wesen Norwegens und seiner Einwohner kennenlernen, und das herbe landschaftliche, typisch nordische Kolorit dieses Landes der Fjorde und der Wasserfälle hautnah erleben.
In Bygland tätigten wir unsren ersten Einkauf. Wir waren neugierig auf die norwegischen Lebensmittel, und obwohl wir von zu Hause eine große Menge Grundnahrungsmittel mitgebracht hatten, brannten wir darauf, einen Fisch zu kaufen, um ihn frisch gebraten zu verspeisen.
Wir kamen zu einem kleinen Laden, über dem ein Schild mit der Aufschrift „Dagligvarer“ hing, was etwa „Tägliche Waren“ bedeutet. In einer Tiefkühltruhe lagen mehrere Arten von Fischen, ganze oder in große Scheiben geschnitten. Ein dicker, weißlicher Fisch schien uns besonders lecker zu sein.
„Dieser Fisch heißt Tilbud“, sagte Erika. „Wir sollten uns seinen Namen für den nächsten Einkauf merken, falls er gut schmeckt.“ Ich sah auf den Preis und stellte fest: „Und er ist außerdem billig!“
„Dem Namen nach ist das sicher so eine Art Butt, so wie unsre Scholle“, spekulierte Erika, „obwohl er gar nicht so aussieht.“ Nein, platt war er nicht, und so münzten wir sein unbuttiges Aussehen auf die norwegischen Witterungsverhältnisse, und kauften ihn. Im Camping-Bus briet Erika den Tilbud in Öl kurz an, und dünstete ihn dann langsam mit ein wenig Wasser und einem Esslöffel Essig, mit Lorbeerbeerblättern und Pfefferkörnern gewürzt. Währenddessen rührte ich einen Püree an, und - weiter ist nichts zu sagen. Es mundete, und wir tranken dazu einen von uns importierten Trollinger Rotwein. Dies war unser erstes selbstgekochtes Mittagessen in diesen Breiten. Ansonsten verlief der Auftakt zum Kochen eines Mahles etwa so:
„Schatz, was sollen wir heute essen?“ So ich.
„Weiß ich noch nicht. Ich bin noch nicht hungrig!“ So Erika.
„Alles klar. Dann schneid ich schon mal Zwiebeln und Knoblauch!“ In der Wildnis begannen alle unsre Speisen mit gerösteten Zwiebeln und Knoblauch. Sie unterschieden sich dann nur durch das, was noch dazukam.
Auf Grund unserer Ersterfahrung mit nordischem Fisch beschlossen wir, am nächsten Tag den gleichen zu kaufen. Unser Weg führte uns weiter zu der an der Westküste gelegenen Hafenstadt Bergen. Die Stadt liegt am inneren Byfjord. Nach einen ausgiebigen Bummel durch die Altstadt kamen wir auch, immer dem Geruch nachgehend, zum Fischmarkt. Unsre Augen glänzten wie Fischaugen ob der vielen herrlichen Meeresfrüchte, aber trotz eifrigen Suchens fanden wir keinen Tilbud. Erst in einem kleinen Laden entdeckten wir ihn wieder, tiefgekühlt zwischen anderen Artgenossen. Erika betrachtete den Fisch skeptisch.
„Der sieht aber ganz anders aus“, stellte sie fest. Ich sah mir den Burschen genauer an. Ja, er war viel kleiner als der vom Vortag.
„Vielleicht ist es sehr ein junger Tilbud“, mutmaßte ich. „Oder eine Abart.“ Aber auch der schmeckte, zwar ganz anders, aber nicht weniger köstlich. Zwei Tage später. Während eines Rundganges durch Alesund deutete Erika auf eine Vitrine.
„Sieh mal“, sagte sie erstaunt, „hier gibt es Fischwurst!“ Tatsächlich, sie hatte Recht. Auf einer dicken, roten Wurst, offensichtlich eine Kochsalami, stand laut und deutlich „Tilbud“. Wir gingen hinein und kauften gleich eine ganze Wurst. Sie wog etwa ein Pfund. Doch zu Hause - zu unsrem Camping-Bus gingen wir immer „nach Hause" - wurden unsere Gesichter länger und röter als die Wurst, denn diese schmeckte nicht im Entferntesten nach Fisch, geschweige denn nach unsrem Tilbud. Entrüstet gingen wir zurück zu dem Laden. Auf dem Weg dorthin kauften wir ein Wörterbuch, um dem Wurstverkäufer gehörig unsre Meinung übersetzen zu können. Als wir an einem Laden vorbeikamen, hielt Erika mich plötzlich am Ärmel fest.
„Was ist denn, Schatz“, fragte ich ungehalten, denn von dem Ruck hätte ich mich beinahe hingesetzt. Sie deutete nur stumm auf die Auslage im Schaufenster. Ich folgte der unsichtbaren Verlängerungslinie ihres Zeigefingers, sah aber nichts Besonderes.
„Was ... was soll denn dort sein?“ Sie wackelte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf und ab und deutete weiter auf einen Punkt. Jetzt sah ich es. Auf dem Preisschildchen eines Artikels stand doch wahrhaftig direkt neben dem Preis „Tilbud“! Ich guckte in alle Ecken der Vitrine, in der Annahme, ein Windstoß hätte das Preisschild von seinem Platz geweht, doch konnte ich keinen Fisch entdecken.
„Vielleicht ist sie aus Fischbein vom Tilbud gefertigt“, versuchte es Erika mit einer Erklärung. Das glaubte ich kaum, denn welcher Hersteller würde heute im Zeitalter der Kunststoffe eine Toilettenbürste aus teurem Fischbein fertigen. Doch schon wenige Meter weiter stockten unsere Schritte erneut - und wir sahen uns verstört an.
Wenn eine Wurst aus Fischfleisch gepantscht, und für die Hygiene einer qualitätsbewussten Toilette eine Bürste aus Fischbein gefertigt wird, hätten wir dafür ein gewisses Verständnis aufbringen können. Aber was eine – Garnitur Herrenunterwäsche mit Fisch zu tun haben sollte, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Ein leiser Verdacht keimte auf. Wir holten langsam das Wörterbuch aus der Tasche, und schlugen es noch langsamer auf. Tja, das hätten wir gleich tun sollen, denn hier stand es:
„Tilbud“: soviel wie - Sonderangebot.


Kurt Binder
schrieb am 18.05.2021, 09:44 Uhr
Diese sketchverdächtige Begebenheit ist authentisch, und hat sich 1973 in Hermannstadt zugetragen. Na ja - einige würzende Attribute sind allerdings nicht ganz auszuschließen!

Das Lächeln der Penaten*


„Schach dem Koffein!“.
Mit diesen überdimensionalen Schlagzeilen wurde in der heutigen Ausgabe der Hermannstädter Zeitung „Die Woche“ dem zweitgrößten Laster der Gegenwart der frontale Krieg erklärt.
„Da siehst du es!“, sagte meine Frau Erika, als ich auch an diesem Morgen meinen Kaffee schlürfte, und tippte mit ihrem zwiebelduftenden Zeigefinger auf die offensive Druckerschwärze. Und ob ich es sah. Von der Steinschleuder bis zum Marschflugkörper wurde hier so ziemlich alles gegen diesen ungekrönten König der Genussmittel mobilisiert:
„Sind Sie lebensmüde?“, „Schleichender Tod“, „Der sicherste Weg zum Herzinfarkt“ usw. Es wimmelte nur so von Argumenten, die den Kaffeefans diese Gaumenfreude um jeden Preis vergällen wollten. Weil ich aber seit mehr als zwanzig Jahren zweimal täglich Kaffee trinke und gemäß der zynischen Prognosen in der Presse das Zeitliche schon längst gesegnet haben müsste, kümmerte ich mich nicht weiter um meine Todesursache, sondern blätterte weiter.
„Du siehst es!“, wiederholte der zwiebelduftende Finger und verkündete das Urteil: „Ab morgen trinkst du Surrogatkaffee!“
„Was ist das?“, erkundigte ich mich genießerisch schlürfend.
„Das ist ein Ersatzkaffee, der eigentlich kein Kaffee ist, aber wie Kaffee schmeckt und an Stelle des Bohnenkaffees getrunken wird“, erklärte Erika. „Ich kauf ihn beim Meinl in der Heltauergasse!“
„Warum?“
„Darum!“ Damit beendete sie ihren aufschlussreichen Bescheid. „Hast du nun verstanden?“
„Nein“, gestand ich schlürfend. Sie ging zum Bücherregal und holte ein gelbes Buch.
„Was ist da nicht zu verstehen?“, fragte sie mich unwillig, und blätterte suchend in dem Buch herum.
„Wenn der Ersatzkaffee wie Bohnenkaffee schmeckt, warum darf ich dann nicht Bohnenkaffee trinken?“
„Mein Gott!“, rief sie und griff sich an den Kopf. „Deine Begriffsstutzigkeit tut richtig weh. Hier, im neuen Gesundheitsratgeber steht alles über diese Zeitbombe. Außerdem wird Kaffee nicht so vulgär geschlürft, sondern laut Knigge schluckweise getrunken!“
„Mach ich, Schatz“, trank ich folgsam laut Knigge einen Schluck, „aber ich ... “
„Kein aber“, unterbrach mich Erika ungeduldig. Ich hätte gerne noch mehr über dieses putschfreudige Getränk erfahren, doch wurde unsre Polemik durch nach verbrannten Zwiebeln riechende Schwaden aus der Küche leider unterbrochen.
Am nächsten Tag zur Stunde des Schwarzen Rituals fragte mich Erika zwar lächelnd, aber mit suggestivem Unterton:
„Ich darf dir heute doch sicher den Kaffee zubereiten?“ Ob dieses unerwarteten Dienstleistungsangebotes schwante mir nichts Gutes, denn bis zu unsrer gestrigen Unterhaltung hatte ich ihn mir immer selbst gebrüht. Doch weil ich ihre diesbezügliche Zuwendung nicht schon im Keim erdrosseln wollte, gestattete ich es ihr.
„Hättest du gerne einen einfachen Kathreiner Malzkaffe mit einem Schuss gerösteter Zichorienwurzel“, fragte sie immer noch lächelnd weiter, „oder lieber einen doppelten Frank-Kaffee ohne Schuss?“ Für alle Fälle antwortete ich:
„Ja.“
„Was heißt ‘ja’?“
„Nun, ich würde gerne einen dreifachen Kathreiner mit einem gemalzten, ungeschossenen Franky trinken.“ Erika warf mir einen vielsagenden Blick zu und ging in die Küche. Bald darauf drangen neue, undefinierbare Düfte in meine Nüstern.
Fünf Minuten später. Unter meiner Nase dräute ein schwarzer Sud. Ich schnupperte misstrauisch daran, während Erika mit einem mehr als neugierigen Ausdruck im Gesicht zu mir herunter sah.
„Hm“, sagte ich, nachdem ich genug daran misstrauisch geschnuppert hatte, „das duftet aber herrlich.“ Sie sah weiter mit unveränderter Miene auf mich. Bloß lag jetzt zusätzlich noch so etwas wie Erwartung darin, die nicht enttäuscht werden wollte. Anscheinend gab es kein Entrinnen. So musste sich Sokrates gefühlt haben, als man ihm den Giftbecher gereicht hatte. Also leistete ich seufzend der Anweisung „sich vor Gebrauch schütteln“ Folge, schob die Augenlider schonend vor die Pupillen, hob unter Verachtung alles Irdischen die Tasse an die Lippen - und kostete.
„Nuuun?“ Ich war ehrlich verblüfft, denn diese Tunke schmeckte trotz angeschossener, waidwunder Zichorienwurzel gar nicht so übel. Anerkennend lächelte ich meiner Frau zu und trank die Tasse, wie ich gestern gelernt hatte, lautlos und schluckweise leer.
„Kann ich bitte noch eine Tasse haben?“, fragte ich artig.
„Siehst du“, strahlte Erika, „man kann sich an alles gewöhnen, wenn man nur will.“ Ich gönnte ihr diesen Triumph von Herzen, denn sie war in allen Lebenslagen wirklich ein prima Kerlchen.
Am folgenden Tag gab es einen doppelt erschossenen Kathreiner ohne Röstwurzeln mit gemalztem Frank-Ersatz, dem folgte ein heiler, unverletzter Mohren-Surrogat-Cocktail mit ohne nichts, sodann eine Zichorien-Wurzel-Soße mit Verbrennungen dritten Grades und einer Prise Muskat, dann ein akademischer Kathreiner solo mit Franky zum Quadrat, hernach ein koffeinamputierter Corino hoch drei mal Wurzel aus Pimpinellas invalider Potenzmischung, dann ...
„Auf - hööö - ren!“, brüllte ich nach zwei Wochen völlig entnervt, so dass James Bond sofort blank zog und hinter das Sofa hechtete. Ich aber hechtete an meiner erschrockenen Frau vorbei in meine vertraute Küche. Herrgott nochmal, wie das siedende Wasser vor Begeisterung schäumte, wie sich die braunen Bohnen in der Schlagmühle vor Ekstase kreischend wie irrsinnig im Kreise drehten und zu Staub zerfielen - und dann folgte das herrlich beruhigende und alles lindernde Gurgeln und Plätschern des aromatischsten Wasserfalles aller Zeiten, dessen betörender Duft die Sinne verwirrte.
Wenige Minuten später saß ich selig in meinem Sessel und frönte unter den resignierenden Augen meiner lieben Frau wieder dem guten, alten Heiligen Bohnefatius. Meine Dissertation über die zerstörerische Wirkung des Koffeins schreibe ich in fünfzig Jahren - bei einem echten Schwarzen, versteht sich doch!

*Penaten: Kleine römische Hausgötter
Kurt Binder
schrieb am 25.05.2021, 11:54 Uhr
Als die Gipfelstürmer baden gingen

An ein Erlebnis erinnere ich mich besonders gerne. Es hatte sich im Jahre 1952 zugetragen, als ich im dritten Jahr meiner Ausbildung zum Elektriker mit unsrer Klasse in einem Erholungsurlaub in Căciulata bei Călimăneşti im Alttal weilte. Călimăneşti, heute eine Stadt mit regem Touristenverkehr, liegt am Ufer des Flusses Alt in dem etwa 17.000 Hektar großen Nationalpark Cozia. Ganz in der Nähe der Stadt befindet sich auch das Kloster Cozia, Mitten in dem Nationalpark erhebt sich auf der linken Seite des Alt das wuchtige Cozia-Massiv, das in einer 1677 Meter hohen Spitze, der „Ciuha Neamţului“ gipfelt. Aus dem Tal konnten wir die Spitze nicht sehen, hingegen aber die „Colţii Foarfecii“, die Zacken der Schere. Dies waren zwei riesige Felsen, welche wie die leicht geöffneten Schneiden einer Schere nach oben hin auseinanderklafften. Und da sie uns zum Greifen nahe schienen, beschlossen wir, einfach mal hinaufzugehen. Wir - das war eine Gruppe von Schülern, die sich schon in Hermannstadt in lockerer Freundschaft zusammengeschlossen hatte, und die sogar ein zeitgemäßes internationales Gepräge aufwies. Dietrich Müller, Günter Lapschansky und ich waren Deutsche, Erwin Strahl war Jude, Remus Necula Rumäne und Geza Szegedi Ungar. Unser Plan war, durch den Fluss zu schwimmen und zu den Felsen zu spazieren – in der Badehose! Die Sache hatte allerdings einen winzigen Haken: Remus konnte nicht schwimmen! Doch da alle anderen echte Wasserratten waren, schlug ich vor, Remus in die Mitte zu nehmen und ihn mit geeinten Kräften schwimmend an das andere Ufer zu bugsieren. Der bekundete zwar erhebliche Bedenken, willigte dann aber doch ein, zumal wir alle lautstark auf ihn einredeten, um ihn von unseren Schwimmkünsten zu überzeugen. Schließlich nickte uns Remus am ganzen Körper zitternd, mit der Miene eines zum Tode Verurteilten einwilligend zu.
Dietrich und Geza stiegen zuerst ins Wasser, dann wurde Remus von Erwin mit leichtem Druck hinterhergeschoben, bis er mit den Füßen im Wasser stand. Dazu fielen mir einige Verse aus der Ballade „Der Fischer“ ein, und ich musste laut auflachen:
„Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
netzt' ihm den nackten Fuß ...“ – hier frei nach Goethe.
Doch als ihm dann das kalte Wasser an den Hüften hochstieg, schrie er entsetzt auf und wollte, wild um sich schlagend, das bedrohliche Element sofort wieder verlassen. Doch Günter und ich standen wie eine Mauer da, verwehrten Remus das rettende Ufer und stießen ihn zurück in die nach ihm grabschenden und zerrenden Hände Dietrichs und Gezas. Endlich hatten wir ihn überwältigt, frei nach den Versen:
„Halb zogen wir ihn, halb stießen wir ihn -
da war er endlich drin!“
Remus sackte zunächst wie ein Stein ab, und nur mit Mühe konnten wir ihn so weit heben, dass nur noch sein in Todesangst verzerrtes Gesicht aus dem Wasser ragte und uns flehend anstarrte. Und dann paddelten wir los: Remus in der Mitte, umgeben von vier Rettungsschwimmern, die nicht so recht wussten, wie sie eigentlich sowohl schwimmen als auch gleichzeitig den stocksteifen Kameraden über Wasser halten sollten. Wir stießen uns ständig gegenseitig die Füße sowohl in den Bauch, als auch in die weitaus empfindlicheren Weichteile, erreichten dann aber doch das andere Ufer, wo wir unser keuchendes, spuckendes Opfer zur Wiederbelebung erst einmal in das Gras legten.
Dann brachen wir auf - einfach so, ohne Essen, nur in der Badehose, um auf die Cozia zu steigen! Der Anstieg war anfangs leicht, und der Weg schlängelte sich durch lichte Wäldchen und über Wiesen sanft bergan, unserem felsigen Ziel entgegen. Dies verschwand öfters hinter Bäumen, tauchte dann wieder auf - kam aber keinen Zentimeter näher. Dann wurde der Pfad steiler.
Nach einer guten Marschstunde waren wir alle derart hungrig, dass wir kaum weitergehen konnten. Wir setzten uns auf einen Baumstamm und blickten zu der Foarfeca hinauf, die nach wie vor zum Greifen nahe zu sein schien. Da kam von dem oben gelegenen Kloster Stănişoara ein Mönch herunter. Wir fragten ihn, ob es noch weit sei bis „dort hinauf“? Er betrachtete uns maßlos erstaunt, nickte dann und sagte:
„Parta ... parta!“ Dies waren keine rumänischen Worte, sondern wahrscheinlich ein archaischer Dialekt, der sich unter den Mönchen erhalten hatte. Da sie an das rumänische „departe“ erinnerte, beschlossen wir einmütig, umzukehren. Somit war die Aktion „Foarfeca“ geplatzt.
Von der heißen Mittagssonne geschlaucht, zum Umfallen hungrig und müde, erreichten wir nach einer weiteren Stunde wieder den Fluss. Nun mussten wir nur noch Remus heil zurückflößen, doch das war jetzt weit schwieriger, weil wir alle total entkräftet waren. Wir rieten Remus, sich wie ein Brett steif auf das Wasser zu legen; so konnten wir ihn leichter zwischen uns herschieben. Er hielt das auch tapfer aus, bloß als eine kleine Welle sein Gesicht überspülte, fing er in Panik an zu zappeln, entglitt unseren Händen, trieb ein paar Meter ab und wäre beihahe abgesoffen. Dietrich und ich kraulten ihm schnell nach und hoben im letzten Moment seinen Kopf aus dem Wasser.
Zuletzt war dann doch alles glimpflich zu Ende gegangen. Remus lebte, die Pädagogen schimpften und schüttelten die Köpfe, die Mädchen sahen uns bewundernd an, und wir aßen erst mal tüchtig und sanken dann in die Betten, wo wir sofort einschliefen.
Jahre später war ich noch mehrere Male mit Freunden oder mit meinen Schülern auf der Cozia, welche auch eines der beliebtsten Ausflugsziele für Wochenenden war. Allerdings hatte ich nie wieder den Ehrgeiz, nur in der Badehose und ohne Wegzehrung hinaufzusteigen, aber - einen Versuch war es schon wert!


Kurt Binder
schrieb am 30.05.2021, 10:17 Uhr (am 30.05.2021, 10:23 Uhr geändert).
Freunde, ich habe mich bemüht, aber – noch weiter in noch mehr Vergangenheit zu gehen ist unmöglich!

Der Traum - der ein Traum geblieben ist

Frei nach der Genesis (1. Buch Mose)

Gestern Nacht hatte ich einen gar seltsamen Traum. Ich war bei der Schöpfumg zugegen, und beriet Gott zu seinen bevorstehenden Taten in allen Dingen des kommenden Seins, indem ich ihn auf Vorteile und Risiken aufmerksam machte. Und Gott hörte mir jedesmal geduldig und interessiert zu, nickte behäbig - und machte dann was ich vorgeschlagen hatte – na ja, gelegentlich mit kleinen, unbedeutenden Änderungen.
Mein erster Rat war, zunächst einmal anständig Licht zu machern, denn wir tappten beide im Dunkeln und stießen während unsrer im Umherwandeln stattfindenden Diskussionen immer wieder mit den Köpfen zusammen. Nach diesem ersten 'erleuchtenden' Akt gingen wir erstmal schlafen.
Nun, was in den kommenden sechs Tagen geschah, könnt ihr in der Genesis nachlesen. Es hat alles geklappt, und Gott sah, dass es gut war – bis jetzt. Doch am Ende des 6. Tages versank er in Grübeln, kraulte sich den Bart, murmelte so Zeug, kratzte sich den Kopf, schaute nachdenklich zum Himmel – ach nein, er war ja schon drin -, also zu den Sternen, doch er sah nur den Mars, dann ... also kurz gesagt, er tat noch dies, und a pissel jenes, bis er mir mitteilte, dass seines Erachtens in seiner Schöpfung noch etwas fehle.
Ich blickte hinunter: Mein Gott, war die Welt schön. Sie grünte und blühte, die Tiere sprangen vor Freude meterhoch und machten Saltos und drehten Piruetten, die Vögel zwitscherten und flöteten intuitiv die Ode an die Freude, die Schlangen umschlängelten sich in Ekstase, bis sie total verknotet waren, die Fische im Wasser sangen fröhliche Lieder (dreistimmig) und freuten sich, bald gegrillt zu werden, und die Affen tobten in den Ästen und Zweigen der höchsten Bäume, beketzten sich, trieben nur Unfug, und plapperten und keckerten nur wirres, unverständliches Zeug. Bei diesen meinen letzten Eindrücken, die Gott per Telepathie mitbekommen hatte, rief er begeistert aus:
“Das ist es – jawohl, das ist es! Ich werde heute noch – den Menschen schöpfen, und zwar nach dem Vorbild dieser skurilen Affenbande – jawohl! Und morgen am 7. Tag werde ich mich gehörig ausschlafen!“ Ich war entsetzt und rief:
“Neeein, Herr, um Euret Willen – tut das nicht! Seht doch, die Krone Eurer Schöpfung ist die Natur selbst, wie Ihr sie geschaffen habt – ohne den Menschen!" Und ich hub an, Gott meine Bedenken zu diesem fatalen Fehltritt auszumalen, der seine Unfehlbarkeit schon jetzt bedenklich in Frage stellen würde. Er hörte wie immer aufmerksam zu, und seine Stirn faltete sich sorgenvoll. Dann holte er sein Smartphone aus der Bauchtasche, googelte: 21. Jahrhundert post Chistum natum – und wurde käsebleich.
"Du hast Recht", stotterte er, "bei Mir, du hast Recht, und ich werde sofort ...“
Doch dann – klingelte ein Wecker, mein Wecker – schrill, höhnisch, häßlich - und ich erwachte.
Verdammt, hätte ich ihn bloß für ein paar Minuten später eingestellt, wäre die Welt jetzt gerettet!

Kurt Binder
schrieb am 13.06.2021, 12:59 Uhr
Es geschah an einem kühlen Vormittag im März 1946, als in Hermannstadt in der Elisabethgasse Nr. 53 drei mit Werkzeugen bewaffnete Männer in das Büro unsrer Firma für Papierartikel „Thermographia“ traten, und meiner Mutter mitteilten, dass sie im Namen der Regierung Dr. Petru Groza alle unsre Maschinen abmontieren und sie dem rechtmäßigen Eigentum des Staates zuführen sollten – was auch geschehen ist!
Infolge dieses erneuten Schicksalschlages, der unsrer Familie die Ernährungsgrundlage geraubt hatte, und dem noch andre folgen sollten, hatte Mama dies Gedicht verfasst, in dem sich in Kürze, aber in aller Deutlichkeit die ganze Tragik unsres Volkes spiegelt – der Beginn des Völkermordes an den Siebenbürger Sachsen infolge des Zweiten Weltkriegs.
Vielleicht erinnern sich einige von euch noch an diese unsre Schicksalsstunden ...

Blau und Rot

von Maria Margarete Binder, geb. Kröger

Es blühen im weiten Felde
zwei Blumen blau und rot,
die eine bedeutet Liebe,
die andere die Treu bis zum Tod.

Solange die Farben wir hatten,
da war es uns niemals bang,
die Farben unseres Volkes,
das manch einen Feind bezwang.

Da plötzlich wurde es anders,
wir waren voll Übermut -
die Farben unseres Volkes,
die waren uns nicht mehr gut.

Wir hörten von weitem ein Klingen
mit Trommeln und Pfeifenklang,
und Pimpfe hörten wir singen -
da warteten wir auch nicht mehr lang.

Wir zogen in langen Reihen
mit in das Treiben hinein;
wir wollten nur mit und mit,
und ja nicht die Letzten sein.

Das Lied war rasch verklungen,
wir blieben alleine zurück,
und nun ist alles verloren -
die Liebe, die Hoffnung und Glück.

Nun sind wir verlassen und einsam,
kein Mensch hilft uns aus der Not,
der Übermut, der uns einst freute,
er brachte für viele den Tod.

Wir denken mit wehem Herzen
an all das Vergangene zurück;
wo seid ihr dahin geschwunden -
Freude, Hoffung und Glück?

So blicken wir auf zum Himmel,
in unserer großen Not -
Allmächtiger, gib uns doch wieder
die Zeit unsres Blau und Rot!

Kurt Binder
schrieb am 25.06.2021, 10:49 Uhr
Lausbubenstückel
Eine bis aufs I-Tüpfelchen reale Begebenheit

Um in Hermannstadt den andauernden Einquartierungen mit russischen Soldaten zu entkommen, zogen wir im Oktober 1944 von der Neustift, dem Hillchen, in die Salzgasse um. Es waren bereits zwei Monate vergangen, seit Tata als SS-Soldat aus seinem kurzen Urlaub zurück an die Front musste, und wir nichts mehr von ihm gehört haben. Hinter unsrem großen Hof lag ein schöner Garten, der Mitzitante und Hermannonkel gehörte, dem Bruder meiner Mutter. Und in diesem Garten gab es allerhand gute Sachen, die uns gar bald in die hungrigen Augen stachen. Im Hof gegenüber wohnte die Familie Drotleff. Fritz, der älteste Sohn, war durch seine schmetcheröse Art sofort das perfekte Vorbild für uns, umso mehr, da er uns schon bald zu einigen Lausbubenstückeln angeleitet hatte.
Eines Tages teilte er uns mit, dass wir heute Abend „rekognoszieren" gehen würden. Fritz war sehr gebildet, und so erfuhren wir, dass „rekognoszieren“ bedeutet, in Hermannonkles Garten nachzusehen, welches Obst für den Verzehr schon geeignet sei. Dies geschah tagsüber mittels unauffälliger Spaziergänge durch den Garten, wobei wir einzeln durchbummelten, in einem Buch lasen, oder mal auch etwas Unkraut aus Mitzitantes Beeten jäteten und dem Geflügel in den Hühnerhof warfen. Dabei schielten wir zu ihren Fenstern, ob sie diese Zuwendung ihrer braven Neffen auch bemerke. Währenddessen schweiften unsere Augen flink durch die Baumkronen, Himbeersträucher und Tomatenstauden, und wenn sich irgendwo nur ein rötlicher Schimmer einer sich anbahnenden Reifung andeutete, war das der Früchte Todesurteil. Logischerweise konnten wir nicht bis zur vollständigen Reifung warten, weil uns der Onkel sonst zuvorgekommen wäre.
Da es im Spätsommer erst nach 22 Uhr richtig dunkel wurde, pirschten Fritz, mein Bruder und ich erst mal zum Gartentürchen. Dies war wie immer geschlossen, doch ein Griff von Fritz - und Sesam öffnete sich. Diesmal hatten wir die Pfirsiche aufs Korn genommen, die bereits in attraktiver, saftiger Halbreife lockten. So schlichen wir einzeln, geduckt auf allen Vieren mucksmäuschenstill nach rückwärts in den Garten, so wie wir es von Winnetou, dem großen Häuptling der Apachen gelernt hatten. Ob der auch Obst geklaut hatte, wussten wir nicht, aber für uns war jetzt nur die Anschleichtechnik überlebenswichtig. Die Veranda, auf der Hermannonkel und Mitzitante abends gerne saßen, lag im Dunkeln, und nur die Fenster vom Schlafzimmer waren noch beleuchtet. Nachdem somit alle Voraussetzungen gegeben waren, die unsrem Vorhaben einen realen Erfolg garantierten, richteten wir uns unter dem Baum auf und Fritz flüsterte uns zu:
„Jetzt fresst, Puben!“ Dies klang wie ein Befehl, den wir uns nicht zweimal sagen ließen. Wir langten in die Baumkrone, holten alles herunter, was wir in die Finger bekommen konnten, und fraßen - pardon, schlangen heißhungrig das halbreife Obst in uns hinein. Plötzlich ging das Licht auf der Veranda an. Wir erstarrten. Der Onkel und die Tante traten im Pyjama heraus, lehnten sich an das Geländer und spähten aufmerksam zu uns herüber. Da wir im Dunkeln standen, konnten sie uns auf keinen Fall sehen. Trotzdem standen wir starr wie Ölgötzen da, und Friz raunte:
„Keine Bewegung!“ Nach kurzer Zeit schon gingen die beiden wieder hinein, und wir hörten Hermannonkel sagen:
„Das war sicher nur eine Katze!“ Uff, das war ja noch einmal gut gegangen. Nachdem die „Katzen“ sowieso schon total überfressen waren, warteten sie noch eine Weile, und schlichen dann wieder aus dem Garten hinaus. Als wir am Schlafzimmerfenster vorbeihuschten, juckte mich der Hafer, und ich rief laut:
„Miau!“ Sofort haute Fritz mir eine hinter die Ohren und zischte:
„Blöder Hund!“ Dann zog er mich schnell fort und wir rannten über den Hof in unsre Wohnungen. Für meine Erklärung nachher, dass ich damit nur den Verdacht auf eine Katze bestätigen wollte, um in der nächsten Nacht wieder Obst klauen zu können, hatte er leider kein Verständnis. Ich schmollte, denn Winnetou hätte es genauso gemacht; allerdings hätte er keine Katze, sondern das heisere Bellen eine Schakals nachgeahmt.
Unsere Raubzüge mehrten sich, und der Onkel schien Verdacht zu schöpfen. Er kam zu Mama und erzählte ihr von dem andauernden Verschwinden des Obstes, und auch von den Geräuschen, die er in den letzten Nächten im Garten gehört hatte.
„Vielleicht war es nur eine Katze“, vermutete ich frech. Er sah mich durchdringend an, beugte sich drohend vor und sagte scharf:
„Jetzt hör mal zu, Kurti - Katzen fressen keine Pfirsiche!“
Da hatte er allerdings Recht, doch weil er keine Beweise für unsere Raubzüge hatte, zog er verärgert wieder ab. Mama stellte keine Fragen, und wir nahmen uns feierlich vor, uns auch künftig - nicht erwischen zu lassen.



Kurt Binder
schrieb am 05.07.2021, 16:12 Uhr
Mein erstes Mal

Wir lernten uns auf einer Tanzunterhaltung kennen, wie das in den Jugendkreisen Hermannstadts seit ehedem an den Wochenenden üblich war. Sie hieß Angela, und wir fanden uns schon nach dem ersten Tango interessant, um nicht zu sagen – sympathisch. Auch die darauf folgenden, damals neuen Rock-and-Roll-Rhythmen konnten unsre gegenseitige Zuwendung trotz des fehlenden Körperkontaktes nicht beeinträchtigen.
Ich war damals gerade 22 Jahre alt, und in einigen Dingen des Lebens noch unerfahren. Angela aber hatte das reife Alter von 30 Jahren bereits überschritten, was uns auch in den folgenden Tagen und Wochen nicht davon abhielt, uns gelegentlich zu treffen und zu plaudern. Es war merkwürdig, dass mich der Altersunterschied nicht im Geringsten störte. Ganz im Gegenteil - ich empfand es als wohltuend, von Angela so manches über Dinge zu erfahren, die, wie sie sagte, zu den wichtigen Erfahrungen im Leben gehörten. Da war ich freilich immer ganz Ohr, obwohl ich vermeinte, aus ihren Worten manchmal meine Mutter herauszuhören. Es ist verständlich, dass sich in solchen Augenblicken der Ödipuskomplex einstellte, was mich ziemlich irritierte.
Eines Tages teilte Angela mir mit, dass sie mich abholen und mit mir eine Spazierfahrt machen wolle. Sie hatte schon den Führerschein, und fuhr einen alten Ford, den sie von ihrem Vater bekommen hatte. Von einem Auto konnte ich damals freilich nur träumen. Wir fuhren also aus der Stadt hinaus in Richtung Răşinari. Während sie schaltete, Gas gab oder bremste, und dabei aufmerksam den Wagen steuerte, schaute ich genau zu. Vielleicht konnte ich mir in ein paar Jahren auch ein Auto leisten.
Von Zeit zu Zeit guckte sie mit einem merkwürdigen Lächeln zu mir herüber. Ich vermutete, was sie vorhatte, und mein unschuldiges Herz begann heftig zu klopfen. Angela verstand, was in mir vorging. Sie legte ihre rechte Hand beruhigend auf meine Schulter und sagte:
“Ich weiß, was jetzt in dir vorgeht, aber du musst keine Angst haben; jeder Mensch macht es irgendwann zum ersten Mal!" Offensichtlich hatte sie meine sehnsüchtigen Blicke bemerkt, denn sie schwenkte links auf einen alten, unbefahrenen Waldweg ein. Schon nach kurzer Zeit blieb sie stehen, sah sich aufmerksam um und stellte sachlich fest:
“Kein Mensch kommt hier vorbei; hier können wir es wagen."
Freunde, was soll ich noch sagen. Wir taten es einfach, und ich muss gestehen, dass Angela mich Anfänger mit Empatie in jeder Phase dieses himmlischen Geschehens anleitete. Schon nach wenigen Minuten erreichte ich eine beängstigende Routine, so dass sie mich bremsen musste.
“Nicht so hastig - lass es doch langsamer, umso länger dauert es.“ Sie hatte Recht, und als es dann nach etwa 10 Minuten vorbei war, zeigte sich Angela tiefatmend über mein Debüt auf dieser Erfahrungsebene äußerst zufrieden:
„Also dafür, dass es dein erstes Mal war, ist es bestens gelaufen – das muss ich dir zugestehen. Du bist ein wahres Naturtalent!" Und wir beschlossen, es noch mehrere Male zu wagen, in diesem Waldstück, wo uns niemand erwischen würde.
Dann wechselten wir die Plätze: Angela setzte sich wieder auf den Fahrersitz und wir fuhren in die Stadt zurück. Ich aber genoss das höchste der Gefühle, zum allerersten Mal - hinter einem Steuerrad gesessen zu haben, wenn es auch nur ein paar hundert Meter auf einem holprigen Waldweg waren!

Kurt Binder
schrieb am 11.07.2021, 11:24 Uhr
Und irgendwo liegt Siebenbürgen

Als wir 1975 noch im Übergangslager in Stadeln bei Fürth wohnten, streifte ich mit Erika oft duch die Stadt, einfach nur so, um uns nach und nach mit all den neuen Dingen vetraut zu machen, die uns hier in unsrer neuen Heimat erwarteten. So betraten wir auch einen kleinen Buchladen, um eventuell ein Buch zu finden, das uns in dieser Hinsicht hilfreich sein könnte. Gleich nach unsrem Eintreten kam uns eine junge Frau lächelnd entgegen, begleitet von einem etwa 10-jährigen Mädchen, das sich schüchtern an ihrem Rock festhielt.
“Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte sie höflich. Ich konnte ihr ungefähr verständlich machen, was wir suchten. Die Frau sah sich unschlüssig um, und stöberte dann mal hier, mal dort in den Regalen. Zwischendurch erkundigte sie sich verlegen, woher wir denn kämen; sie hätte noch andere Menschen mit solch einer Aussprache bedient. Als sie hörte, dass wir aus Rumänien stammten, meinte sie:
„Aha, kenne ich!“ Erfreut erkundigte ich mich, ob sie denn schon mal dort war?
„Nein, nein!“, wehrte sie ab. „Ich weiß bloß, dass es irgendwo auf dem Balkan liegt!“ Froh, dass sie wenigsten annähernd von der Irgendwo-Gegend unsrer Wiege gehört hatte, erklärte ich, dass ich genau gesagt aus Siebenbürgen käme. Siebenbürgen? Nein, davon habe sie noch nie gehört. Ich gab ihr bereitwillig Hilfestellung:
„Siebenbürgen, im Herzen Rumäniens! Man nennt es auch Transilvanien, das Land hinter den Wäldern!“ Ich glaube, dass Bram Stoker seine helle Freude an einem so freimütig seine Herkunft gestehenden Nachfahren seiner Romanfigur gehabt hätte. Sofort hellte sich ihr Gesicht auf.
„Aber natürlich - Transilvanien, die Heimat der Vampire!“ Als sie das, begeistert ob ihrer Kenntnis von Siebenbürgen ausrief, sah uns das kleine Mädchen zu Tode erschreckt mit aufgerissenen Augen an - und flüchtete hastig hinter die breite, schutzgewährende Silhouette ihrer Mutter.

Wir aber versuchten krampfhaft, unsre bereits heftig keimenden Vampirzähne zurückzupfeifen.
Kurt Binder
schrieb am 17.07.2021, 10:30 Uhr
Wenn es um die Wurst geht

Die ersten Monate in der Bundesrepublik bescherten uns vielfältige Überraschungen, die oft unangenehm, meistens aber sehr informativ waren. Schon der erste Gang zum Metzger gestaltete sich zu einer sketchverdächtigen Lehrstunde.
Auch in einem kleineren Laden war das unter der gläsernen Theke hervorduftende Angebot an verwurstetem Fleisch so groß, dass ich mich jedes Mal erst gründlich umsehen musste, bevor ich mich zum Kaufen entschloss. Diese Momente meditativer Verinnerlichung wurden leider viel zu schnell von der diensteifrigen Wurstverkäuferin mit der stereotypen Frage unterbrochen:
„Was darf’s denn sein heute?“ Da ich mich gedrängelt fühlte, deutete ich auf irgendeine Wurst und sagte:
„Geben Sie mir bitte von der da 200 Gramm!“ Sie hob eine Wurst auf, die links von der von mir angevisierten lag und fragte:
„Meinen Sie diese?“ Ich verneinte und erklärte ihr, dass ich die andere rechts davon meinte.
„Ach so, Sie meinen die schonend gekochte Röstzwiebellebermettwurst?“ Natürlich, sagte ich doch. Sie schnitt ein Stück von der verwechselten Wurst ab und warf es auf die Waage.
„Darf es ein bisschen mehr sein?“ Es durfte.
„Darf es sonst noch was sein?“ Diesmal deutete ich auf eine wunderschöne, pralle, dicke rote Wurst mit großen Fleischstücken drin.
„Von der da etwa 300 Gramm - bitte!“ In der Annahme, dass ich nicht höflich genug verlangt hatte, betonte ich das „bitte“ diesmal mehr.
„Das ist eine ganz frische, in Naturdarm eingenähte Hausmacher-Fleischblutwurst nach Thüringer Art!“, belehrte sie lächelnd den armen Mann, dem in seiner Naivität und Unwissenheit alle Würste wurscht zu sein schienen, und ergänzte weise lächelnd: „So was weiß man!“ Aha!
Ich blickte verlegen um mich, doch die teilnahmslos lächelnden Gesichter der Kunden drückten weder Empörung für den Ignoranten der gehobenen Allgemeinbildung noch Bedauern ob meiner mitleiderregenden Hilflosigkeit aus. Einen dritten Anlauf wagte ich nicht, um den Rest meines angeknabberten Images nicht restlos zu vernichten. Ich begnügte mich also mit meiner recht umständlich, aber tapfer erkämpften Wurst, zahlte, dankte und wandte mich zum Gehen. Doch dann hörte ich hinter mir etwas, das mein nach Knigges Vorstellungen makelloses Vorhalten total über den Haufen warf:
„Ich krieg 200 Gramm Stockacher Zungenwarzenwurst-Brühsalami, 100 Gramm geräucherten Odenwälder-Wacholder-Edelschinken und 150 Gramm gekochten Käse-Ukrainer mit grünen Kapern und Paprika!“, orderte die nächste Kundin in einem Ton, der eher wie ein Befehl als eine Bitte klang.
„Gerne, Frau Meier, haben wir sofort alles beisammen!“, zwitscherte die Maid hinter der Theke fröhlich. Ich aber staunte Fettwürfel, und die Augen gingen mir auf wie Scheunentore. Hier bat man also nicht um die gewünschte Wurst, sondern - man „kriegte“ diese! Ich muss hierzu verschämt gestehen, dass ich mich in den kommenden Jahren nie an diese heischende Formel gewöhnen konnte, und renitenterweise heute noch um eine Ware - höflich bitte!

P.S. Zum Glück hatte ich damals keine - „Pariser“ verlangt, und bin so an der totalen Gesellschaftsunfähigkeit gerade nochmal vorbeigeschrammt – was ich mit dem Kauf einer „Wichsleinwand“ nicht behaupten kann!

Kurt Binder
schrieb am 31.07.2021, 12:02 Uhr
Der vergessene Soldat

Der schönste Tag aus der Militärzeit eines Soldaten ist zweifellos der Tag, an dem er „lăsat la vatră“ wird. Sinngemäß bedeutet das, nach zweijähriger Dienstzeit aus der rumänischen Armee an den „heimatlichen Herd entlassen“ zu werden! Der gängige Ausdruck in der rumänischen Sprache dafür war allerdings: „A scăpa din armată!“ Das bedeutet soviel wie: „Aus der Armee befreit zu werden, zu entkommen“. Wer sich so ausdrückte, riskierte es, von den höheren Graden wütend belehrt zu werden, dass man nur aus dem Gefängnis befreit werde, kapiert?
Als SS-Waise habe ich nicht unter Waffen gedient, sondern wurde der MFA-Contrucţii, dem Ministerium der Streitkräfte-Bausektor in Bukarest zugeteilt. Nun waren ja die Zustände beim rumänischen Militär in den Jahren 1955 – 1957, also elf Jahre nach dem Beginn der Sozialisierung derartig, dass sie keinen noch so engagierten Soldaten in Entzücken versetzen konnten.
Ich hatte nur zwei Monate lang am Bau der Hochhäuser im Drumul Taberii mitgeschuftet. Da ich zu dem Zeitpunkt bereits zwölf Schulklassen hatte, wurde ich bald vom Chef dieser Baustelle, Oberst Constantinescu entdeckt, der mich zunächst in sein Büro nahm. Die meisten Soldaten, die aus dem ländlichen Beriech stammten, hatten kaum mehr als vier Schulklassen. Ein weiterer Umstand half mir bald darauf noch höher. Kurz vor meiner Einberufung hatte ich in Hermannstadt einen Zeichenkurs belegt. Als die Zentrale in der Uranusstraße das spitzkriegte, wurde ich sofort dahin beordert. Zugegeben – ich hatte tatkräftig mitgeholfen, die attraktiven Informationen über mein „intellektuelles Potential“ an die richtige Stelle zu steuern; was solls – der Zweck heiligt jedes fiese Untergrundmittel! Und so verlief es weiter:
Ich hatte dort mein eigenes Büro, mit Zeichenbrett und so, im Nebenzimmer tippten zwei reizende junge Damen Tag und Nacht ihre Sehnsüchte und die Wünsche der Obrigkeit auf Papier, am Ende des Flurs logierte der Boss, der General-Major Stroescu (mit einem dicken Stern), davor lag das Ingenieurbüro – und mitten drin entfaltete der Soldat Binder Kurt seine kreative Tätigkeit.
Diese war im wahrsten Sinn des Wortes kreativ, weil ich aus den unbeholfenen, klobigen Skizzen der Ingenieure auf Phantasiebasis erst Pfadfinder, Kreuzworträtsellöser und Intuitionsakrobat spielen musste, um das Gekrakel in lesbare Zeichnungen umsetzen zu können. Berechnungskorrekturen waren auch nicht selten. Ich war trotzdem zufrieden und genoss mein kleines Reich. Beinahe täglich spazierte ich dann mit den fertigen Zeichnungen durch den damals wunderschönen Cişmigiu-Park, über Brücken, an Seen vorbei, bis zur Baustelle im Drumul Taberii.
Soweit die Vorgeschichte. Das Folgende ist kurz erzählt. Dank meiner Abgeschiedenheit war ich in mancherlei Hinsicht aus dem Blickfeld meiner Einheit gerückt. So fragte mich eines Tages General Stroescu ganz beiläufig, wie lange ich denn noch bis zu meiner Entlassung hätte? In dem Moment kam es mir dröhnend zu Bewusstsein, dass ich hier ja nur noch freiwilligen Arbeitsdienst leistete, denn am 1. August 1957 wäre mein Militärdienst zu Ende gewesen! Die Formalitäten meiner Entlassung wurden noch am selben Tag nachgeholt, und am 20. August 1957 fuhr ich heim - zwanzig Tage später, als ich verpflichtet gewesen wäre.

Auf diese drei Wochen freiwilliger, ehrenamtlicher Zuwendung an mein Vaterland bin ich heute noch sehr stolz!

Maikind
schrieb am 01.08.2021, 21:10 Uhr
Erinerungen und Gedanken an
einstige Lebensräume

Neue Dächer

über dem alten Haus
wird es dicht
an den Fassaden steigt
der Wein - wie jedes Jahr
treu mit jungen Trieben
und um den Tisch
Gesichter mit Geschichten.

Was erzählen ihre Seelen?
Von Verbundenheit?
über die Gräber hinweg
von Zerrissenheit?
in der Lebensmitte
Frieden suchend
offene Fragen überwindend?

Nach dem Warum fragen sie nicht.
Es ist - wie es ist.
Die Welt ist klein - manchmal
und manche Wege weit
am weitesten der Weg zu sich selbst
und braucht den Wein
an der Fassade.
Kurt Binder
schrieb am 13.08.2021, 09:44 Uhr
Liebe Ute, Dein Gedicht – ein wahres Gemälde in herben Worten, vor dem ich bedauere, dass ich nicht malen kann! Im Jetzt erstarrt, vor der zeitlosen Kulisse und im Banne des immergrünenden Weines, plaudern Seelen in schweigender Runde, in welcher Erinnerung zur Gegenwart aufrückt, ohne nach Ursachen zu fragen.
Ich meine, dass der Wein, quasi als Bedingung für die Selbsterkenntnis und Akzeptanz des Ichs in den Turbulenzen des Leben, hier auch symbolhaft zum Tragen kommt.
Kurt Binder
schrieb am 16.08.2021, 14:40 Uhr
Die Wahl des Kriteriums

Es war ein herrlicher Morgen. Die Sonne ging gerade über dem malerischen, dicht am Strand des Schwarzen Meeres gelegenen Campingplatz bei Mangalia auf, als ich mit der Papierrolle unter dem Arm den Toiletten zustrebte. Man hätte diese auch bei Nacht finden können, denn der Duftradar leitete einen zielgenau zu der Stätte der tausendfachen Ausdrücke höchstpersönlicher Noten. Obwohl zwei Kabinen ihrer Insassen harrten, hatte sich trotz der frühen Stunde schon eine beachtliche Menge von Campern zu dem allmorgendlichen Ritual versammelt, welche mir aus ihren schwer vom Bedürfnis geprägten Gesichtern entgegenstarrten. Da ich aus der geometrischen Konfiguration der ungeduldig Wartenden nicht ersehen konnte, nach welchem Gesichtspunkt man in die heiß ersehnten Kabinen gelangen konnte, wandte ich mich höflich an einen von Unterleibskonvulsionen gebeutelten Mann.
„Verzeihung, aber - wie kommt man hier in die Toilette?“ Er starrte mich mit umflorten Augen an, als hätte ich mich nach den Affären seiner Frau erkundigt.
„Durch die Tür natürlich!“ Natürlich. Die Frage war wohl etwas doof formuliert. So wagte ich einen zweiten Anlauf:
„Ich meine, was hat man zu tun, um da hinein zu gelangen?“
„Warten!“ Ich begriff, dass der gute Mann nicht begriff.
„Hören Sie, lieber Freund, ich hätte gerne gewusst, ob es dabei ein bestimmtes System gibt, nach dem sich ein Eintrittswilliger, um die Ordnung zu bewahren, orientieren muss?“
„Oh Mann!“, sagte der gebeutelte Mann verärgert und rückte etwas zur Seite. „Wenn das hier eine Anmache sein soll, dann ist das der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort!“ Und fügte kategorisch hinzu: „Und der falsche Mann!!“ Ich verstand, und beruhigte ihn:
„Oh nein, ich bin nicht, was Sie denken! Ich will ja nur wissen, ob hier jeder vor einer bestimmten Tür wartet, oder ob man in der Reihenfolge, in der man hier ankommt, durch die Tür hineingeht, die sich zuerst öffnet?“
„Jetzt hören Sie mal zu“, stöhnte er und hielt sich den Bauch. „Ich weiß kaum noch, wie ich meine verdammten Schließmuskeln dicht halten soll, und Sie labern mir hier die Theorie von der ultimativen Stoffwechselphase in die Ohren! Haben Sie nichts anderes zu tun?“
„Doch doch, aber im Augenblick bin ich daran gehindert.“
„Sehen Sie - ich auch!“ Nachdem wir uns nun gewissermaßen als Kollegen entpuppt hatten, wollte ich vorschlagen, im Camping einen Klub der verhinderten Stuhlgänger zu gründen, die morgens zu den Tempeln der maßvollen Erleichterung den Vortritt bekommen sollten. Doch der spasmisch zuckende Mann sah mich so gereizt an, dass ich diesen kreativen Gedanken auf morgen verschob. Dann aber schien ihn meine Problemstellung doch zu interessieren.
„Wie ... wie meinten Sie das vorhin?“, fragte er misstrauisch. „War doch nur ein Scherz, oder?“
„Keineswegs. Passen Sie auf.“ Ich ging in die Knie, griff mir ein Ästchen und skizzierte im Sand den Grundriss des Tatortes. Der Mann ließ sich ächzend neben mir in die Hocke nieder und verfolgte gespannt meine Ausführungen.
„Hier also sind die beiden Toiletten. Und davor stehen wir.“ Er nickte verstehend. Ich zeichnete vor jede Toilette fünf kleine Kreise.
„Wenn jeder unsrer Kameraden sich vor eine bestimmte Tür stellt, weiß er mit Sicherheit, wie viele noch vor ihm hineingehen und in welche der beiden Kabinen er gelangen wird. Alles klar bis jetzt?“
„Ich bin doch nicht blöd. Weiter!“ Jetzt zeichnete ich zehn Kreise, alle in eine Reihe.
„Wenn wir nun so stünden, also alle hintereinander, könnte jeweils der Erste zu der Tür hinein, die sich gerade öffnet.“
„Und - wo ist der Unterschied?“, interessierte sich die Hocke neben mir und massierte sich den Bauch. „Ist das nicht das Gleiche?“
„Nicht ganz“, erklärte ich weiter, „denn wenn Sie in einer von zwei Reihen warten, aus der nun jemand drinnen sitzt, der sich viel Zeit lässt, dann sind Sie an diese Tür gebunden und dem Marathon-Scheißer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.“ Hocke nickte.
„Verstehe! So könnte also einer, der nach mir gekommen ist, dennoch vor mir hinein, wenn er in der anderen Reihe wartet?“ Er hatte kapiert.
„Sie sagen es. Aus diesem System könnte also nur ein guter Mimikologe einen zeitlichen Vorteil erzielen. Bevor er sich nämlich anstellt, könnte er kurz die Gesichtsausdrücke der Wartenden studieren, daraus zutreffende Prognosen auf die mutmaßliche Dauer ihres Aufenthalts im Örtchen stellen, und so zielsicher die richtige Reihe wählen.“ Hocke war sichtlich begeistert über meine Kenntnis in Sachen Nebenwirkungen des Stoffwechsels.
„Die Einmannreihe ist also ohne Zweifel gerechter“, schloß ich mein Plädoyer ab, „weil die Kollegen in der Reihenfolge, in der sie hier antanzen, entsprechend schei ... Chancen haben!“ Er versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht so recht. Ich deutete auf die Leute vor uns, die sich in zwei schwer unterscheidbaren Trauben vor den Paradiespforten drängten. Wir hatten nicht bemerkt, dass sich, während wir im Sand spielten, eine große Anzahl von Hoffenden angesammelt hatte.
„Sehen Sie’s?“, fragte ich ihn. „Sie halten keine der beiden möglichen Ordnungen ein.“ Da musste doch etwas geschehen, denn lange ... Ich ging also nach vorne, stellte mich vor die Leute und rief:
„Alle mal herhören!“ Doch sie schienen gar nicht scharf auf meine die Morgenandacht verbessernden Projekte zu sein, denn es ertönte ein wahrer Chorus des geballten Unmuts:
„Hinten anstellen, Mann!“
„Der Blödmann hat wohl keine Augen in der Birne, wie?“
„Ermutigen Sie doch bitte den Schwanz der Schlange, wenn es Ihnen möglich wäre!“ Ein ganz Höflicher! Ich wollte erklären, dass es so und so besser ablaufe, und dass es mir sehr dringend sei. Doch sie belehrten mich einstimmig, dass sie hier auch nicht zum Dinner anstünden. Ich sah mich um. In der Ferne schimmerte es dunkelgrün. Aha, das musste ein Wald sein. Als ich zu Hocke zurückging, saß der unbeweglich da und sah mir neugierig entgegen. Ich teilte ihm meine Entdeckung mit, die aus meiner Globetrotter-Erfahrung ebenfalls für einige Minuten besinnlicher Meditation geeignet wäre. Er nahm meine Nachricht sehr gelassen entgegen, und sein Gesichtsausdruck war merkwürdig gelöst.
In der Annahme, dass er nicht verstanden hätte, wiederholte ich meinen grünen Alternativvorschlag. Zwar rührte er sich immer noch nicht vom Fleck, lächelte mich aber glücklich an. Ich wollte ihn aus dieser Lethargie herausholen, rüttelte ihn kräftig und rief:
„Mensch, Mann, haben Sie nicht verstanden? Dort drüben winkt die Befreiung, also kommen Sie schon!“
„Zu spät!“, flüsterte er verklärt. „Aber eines muss man Ihnen lassen: Ihre Theorie hat es wirklich in sich!“


Diese Story ist etwas lang geraten, aber ich hätte es nicht über das Herz gebracht, mich selbst zu verstümmeln!


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